„Ich möchte nicht, daß in der öffentlichen Meinung und bei unseren Freunden im Ausland ein falscher Eindruck über die Bedeutung der Entscheidung entsteht, die an diesem Nachmittag gefallen ist [...]“. So kommentierte der damalige französische Ministerpräsident Mendès-France in dem Versuch, den politischen Schaden möglichst zu begrenzen, die Ablehnung des Vertrages über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der Nationalversammlung am 30. August 1954.
Es war tatsächlich eine bedeutende und weitreichende Entscheidung, die ins heute landläufige Bild der europäischen Einigung nicht passt, nach dem die Europäische Union als einzigartige Erfolgsgeschichte der regionalen Integration gesehen wird. Aber auch dieser Prozess wurde, neben den erfolgreichen Schritten, von etlichen Rückschlägen geprägt, wie nicht zuletzt das Beispiel der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zeigt. Im Rahmen dieser Arbeit soll auf die gescheiterten Integrationsprojekte von europäischer Außenpolitik in den 50er und 60er Jahren eingegangen werden.
Inhalt
I. Einleitung
II. Theoretischer Teil
1. Neofunktionalismus
2. Intergouvernementalismus
III. Historischer Teil
1. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) / Europäische Politische Gemeinschaft (EPG)
a) Pleven-Plan
b) EVG-Vertrag
c) Europäische Politische Gemeinschaft (EPG)
d) Alternativlösung „Pariser Verträge“
2. Die Fouchet-Pläne
a) Fouchet I
b) Fouchet II
c) Die außenpolitische Leitbild Charles de Gaulles
IV. Theoretisch-erklärender Teil
1. Neofunktionalismus
2. Intergouvernementalismus
V. Schluss
1. Zur Thematik
2. Zur Fragestellung
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Aufsätze, Monographien und Zeitungsartikel
I. Einleitung
„Ich möchte nicht, daß in der öffentlichen Meinung und bei unseren Freunden im Ausland ein falscher Eindruck über die Bedeutung der Entscheidung entsteht, die an diesem Nachmittag gefallen ist [...]“.
So kommentierte der damalige französische Ministerpräsident Mendès-France in dem Versuch, den politischen Schaden möglichst zu begrenzen, die Ablehnung des Vertrages über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der Nationalversammlung am 30. August 1954[1].
Es war tatsächlich eine bedeutende und weitreichende Entscheidung, die ins heute landläufige Bild der europäischen Einigung nicht passt, nach dem die Europäische Union als einzigartige Erfolgsgeschichte der regionalen Integration gesehen wird[2]. Aber auch dieser Prozess wurde, neben den erfolgreichen Schritten, von etlichen Rückschlägen geprägt, wie nicht zuletzt das Beispiel der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zeigt.
Im Rahmen dieser Arbeit soll auf die gescheiterten Integrationsprojekte von europäischer Außenpolitik in den 50er und 60er Jahren und die Frage „Warum mussten sie scheitern?“ eingegangen werden.
Dazu werden in einem theoretischen Teil die beiden Ansätze des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus vorgestellt. Es folgt ein historischer Teil, in dem die Projekte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, Europäischen Politischen Gemeinschaft, die Alternativlösung „Pariser Verträge“ und die Fouchet-Pläne dargestellt werden, wobei ein Unterkapitel das außenpolitische Leitbild von Charles de Gaulle behandelt. Im folgenden theoretisch-bewertenden Teil werden die Theorieansätze auf die gescheiterten Integrationsprojekte bezogen. Der Schluss ist in einen Abschnitt zur Thematik und in einen, der sich mit der Fragestellung als solcher befasst, gegliedert.
II. Theoretischer Teil
1. Neofunktionalismus
In Anknüpfen an das maßgeblich von David Mitrany geprägte Funktionalismus-Konzept sind im neofunktionalistischen Ansatz die Triebkräfte für die Integration mehrerer Akteure funktionale Sachzwänge, da die sozialen und ökonomischen Problemlagen hochkomplexer industrieller Gesellschaften nur noch akteursübergreifend zu überwinden sind[3].
Ernst Haas definiert politische Integration in seiner zentralen Veröffentlichung „The Uniting of Europe“ von 1958:
„Political integration is the process whereby political actors in several distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations and political activities toward a new centre, whose institutions possess or demand jurisdiction over the pre-existing national states”[4].
Der Integrationsprozess beginnt mit problemgebundenen Absprachen zwischen politischen Akteuren auf relativ unpolitischen und überschaubaren Gebieten („low politics“), z.B. in einzelnen Teilbereichen der Wirtschaft. Dabei führt ein systemimmanentes Entwicklungsprinzip, „the expansive logic inherent in the sector integration principle“[5], zur Ausweitung, zunächst auf weitere wirtschaftliche Sektoren: „A spill-over into as yet unintegrated economic areas and a concern over political techniques appropriate for the control of new and larger problems is manifest“[6]. D.h., dass mit dem Fortschreiten der wirtschaftlichen Integration zunehmend auch politische Teilbereiche erfasst werden.
Als Motoren der Integration wirken zunächst nationale politische sozioökonomische Eliten und Interessengruppen durch den Loyalitätstransfer auf und die Mitwirkung in gemeinschaftlichen Strukturen. Außerdem spielen die supranationalen Institutionen eine Schlüsselrolle im Integrationsprozess[7], da sie Koalitionen mit diesen Eliten eingehen, um das Gemeinschaftsinteresse voranzubringen[8].
Durch den Spill-over-Effekt wird eine Integrationsautomatik erzeugt, so dass durch dieses „Überschwappen“ schließlich die traditionellen Reservate des Nationalstaates, d.h. Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik und letztlich der nationalen Souveränität („high politics“) miteinbezogen werden.
Am Ende des Integrationsprozesses steht für Haas eine neue politische Gemeinschaft: „The end result of a process of political integration is a new political community, superimposed over the pre-existing ones“[9].
2. Intergouvernementalismus
Basierend auf den Prämissen der neorealistischen Schule unterstreicht der intergouvernementalistische Ansatz die zentrale Bedeutung des Nationalstaates und des nationalen Interesses.
Stanley Hoffmann[10] vertritt in diesem Sinne einen akteursorientierten, auf Nationalstaaten und deren Regierungen zentrierten Ansatz, wobei er deutlich Kritik am Haas’schen Neofunktionalismus übt. Er unterscheidet zur Herleitung seiner Definition des nationalen Interesses zunächst drei Begriffe: 1. National consciousness (‚a sense of cohesion and distinctiveness‘)[11] ; 2. National situation[12], als von unterschiedlichen objektiven[13] und subjektiven Faktoren[14] abhängige Variable; 3. Nationalism als Doktrin oder Ideologie der Außenpolitik, die dem Nationalstaat höchste Priorität einräumt[15].
Davon ausgehend wird ‚nationales Interesse‘ von Hoffmann als „N.I. = National situation X outlook of the foreign policy-makers“[16] definiert. Infolge der vielfältigen Ausprägungen im Bereich des nationalen Bewusstseins werden die bestehenden Unterschiede durch die jeweiligen nationalen Situationen noch verstärkt[17], was zu divergierenden nationalen Interessen führt.
Demzufolge sieht Hofmann aufgrund der Hindernisse die Möglichkeiten von Integration sehr kritisch und stellt der „logic of integration“ eine sie begrenzende „logic of diversity“[18] entgegen; er spricht sogar von einem „Spillback“-Effekt[19]. Funktionale Integration ist am ehesten im Bereich der „low politics“ möglich, im Bereich der „high politics“ dagegen sehr unwahrscheinlich, da hohe Vorbedingungen für eine erfolgreiche Integration nötig sind[20].
Hofmann bemängelt, dass ein Zweck des Integrationprozesses nicht abzusehen ist und erwähnt die Berechtigung der Frage: „Making Europe, what for?“[21] Letztlich kommt er zum Urteil, dass es auch in Zukunft kein vergemeinschaftetes Europa geben wird, sondern dass Europa von Nationalstaaten geprägt bleibt und bleiben wird:
„Thus, the nation state survives, preserved by the formidable autonomy of politics, as manifested in the resilience of political systems, the interaction between seperate states and a single international system, the role of leaders who believe both in the primacy of ‘high politics‘ over the kind of managerial politics susceptible to functionalism, and in the primacy of the nation [...] over any new form“[22].
III. Historischer Teil
1. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) / Europäische Politische Gemeinschaft (EPG)
a) Pleven-Plan
Infolge der mit dem Ausbruch des Koreakrieges am 26.6. 1950 einhergehenden Verschärfung des Kalten Krieges wurden die Bedrohungsgefühle der USA und des Westens gegenüber der Sowjetunion verstärkt, und gleichzeitig die Schwächen der westeuropäischen
Verteidigungsmöglichkeiten offenkundig[23]. Eine verstärkter europäischer Verteidigungsbeitrag und, damit eng verbunden, eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik wurde aus Sicherheitsinteressen heraus von der amerikanischen Regierung unter Harry Truman gefordert[24]. In Frankreich, das innerhalb von 70 Jahren dreimal den Einmarsch deutscher Truppen erlebt hatte (1870, 1914, 1940), gab es dagegen deutlichen Widerstand. Um die eigenen Sicherheitsinteressen zu wahren und wenigstens die Kontrolle über die von den USA unterstützte westdeutsche Aufrüstung zu behalten, wurde am 24. Oktober 1950 ein französischer Plan zur Schaffung einer „europäischen Armee“ unter dem „Kommando eines einzigen Oberbefehlshabers“ vorgelegt, der nach dem französischen Ministerpräsident René Pleven benannte Pleven-Plan[25].
b) EVG-Vertrag
In Verhandlungen wurde daraus der am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichnete „Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG-Vertrag)[26]. Wie in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion), deren Hohe Behörde am 10. August 1952 ihre Arbeit aufnehmen konnte[27], waren die Teilnehmer die Benelux-Staaten, Deutschland, Frankreich und Italien.
Die Institutionen der EVG wurden nach dem Modell der EGKS gestaltet: Ministerrat, Gemeinsame Versammlung, Kommissariat und Gerichtshof[28]. Zentraler Inhalt des Vertrages war die vollständige Integration nationaler Streitkräfte zu einer europäischer Armee unter dem supranationalem Oberbefehl des Kommissariats. Ein wesentlicher Unterschied zur EGKS bestand in der Stellung des Ministerrats: Während der Ministerrat der Montanunion zur Koordinierung zwischen Gemeinschafts- und nationalstaatlicher Ebene eingerichtet wurde[29], war der EVG-Ministerrat als dominierendes Entscheidungsorgan geplant[30]. Mit dem Artikel 38 wurde an die EVG das Projekt einer politischen Union gekoppelt: [...] Die endgültige Organisation, die an die Stelle der vorläufigen Organisation treten wird, soll so beschaffen sein, daß sie den Bestandteil eines späteren bundestaatlichen oder staatenbündischen Gemeinwesens bilden kann [...][31].
Letztlich scheiterte das Projekt, da Frankreich als einziges Land den Vertrag nicht ratifizierte; innenpolitisch gewannen die gegen jegliche Supranationalität eingestellten Gaullisten an Boden und waren ab 1953 im Kabinett vertreten. Zudem wurde die sicherheitspolitische Dringlichkeit der
EVG als nicht mehr gegeben angesehen, da Stalins Tod am 5. März 1953 und der Waffenstillstand
in Korea am 20. Juli 1953 eine Reduzierung der sowjetischen Bedrohung zu bedeuten schien
(GF, S. 82)[32]. Amerikanischer Druck, die EVG zu ratifizieren, bei gleichzeitiger Weigerung der USA, Frankreich in Indochina militärisch zu unterstützen, führte zu einer französischen Abwehrreaktion, die durch die schwere Niederlage im Indochinakrieg noch verstärkt wurde[33]. Schließlich wurde der EVG-Vertrag in einem „Begräbnis dritter Klasse“[34] am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung von der Tagesordnung genommen und sine die vertagt[35].
[...]
[1] Erklärung des französischen Ministerpräsidenten P. Mendès-France vor der Nationalversammlung vom 30. August 1954 nach Ablehnung der Ratifikation des Vertrages über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik i.A. des Auswärtigen Amtes, Bonn 1962, S. 919f., hier: S. 919.
[2] Pfetsch, Frank R.: Die Europäische Union. Eine Einführung, 2. Aufl., München 2001, S.11.
[3] Woyke, Wichard: Europäische Union: erfolgreiche Krisengemeinschaft. Einführung in Geschichte, Strukturen, Prozesse und Politiken, unter Mitarbeit von Johannes Varwick, München und Wien 1998, S. 5.
[4] Haas, Ernst: The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces 1950-1957, Stanford 1958, S. 16.
[5] Haas, Uniting, S. 313.
[6] Haas, Uniting, S. 313.
[7] Meyers, Reinhard: Theorien internationaler Kooperation und Verflechtung, in: Woyke, Wichard (Hg.):Handwörterbuch internationale Politik, 8. Aktualisierte Aufl., Bonn 2000, S. 448-489, hier: S 479.
[8] Laffan, Brigid: Integration and Co-operation in Europe, London und New York 1992, S. 10f..
[9] Haas, Uniting, S. 16.
[10] Hoffmann, Stanley: Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation-State and the Case of Western Europe, in: Daedalus 95 (1966), S. 862-915.
[11] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 867.
[12] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 868.
[13] Interne objektive Faktoren: Sozialstruktur und politisches System; externe objektive Faktoren: Geographie, förmliche Verpflichtungen (gegenüber anderen Staaten); Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 868.
[14] Interne subjektive Faktoren: Werte, Vorurteile, Meinungen, Reflexe; externe subjektive Faktoren: eigene Traditionen und die eigene Einschätzung von anderen, außerdem die Einstellung von anderen und die Herangehensweise anderer an einen selbst; Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 868.
[15] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 868f.
[16] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 869.
[17] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 895.
[18] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 882.
[19] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 902.
[20] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 882 & 886.
[21] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 886.
[22] Hoffmann, Obstinate, a.a.O., S. 901.
[23] Glöckler-Fuchs, Juliane: Institutionalisierung der europäischen Außenpolitik, München und Wien 1997, S. 79.
[24] Loth, Winfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990, S. 91.
[25] Regierungserklärung des Ministerpräsidenten René Pleven vom 24. Oktober 1950, in: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1953, S. 341-345; Woyke, Krisengemeinschaft, S. 20.
[26] Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27. Mai 1952, in: Europa, 1962, S. 836-886.
[27] Loth, Weg, S. 87.
[28] Artikel 8, EVG-Vertrag, a.a.O., S. 838f.
[29] Glöckler-Fuchs, Außenpolitik, S. 78.
[30] Artikel 39, §3 b), EVG-Vertrag, a.a.O., S. 849: „[Gemäß den Vorschriften dieses Vertrages] erteilt der Rat Zustimmungen, die das Kommissariat einholen muß, bevor es Entscheidungen erläßt oder Empfehlungen ausspricht“; Glöckler-Fuchs, Außenpolitik, S. 81.
[31] Artikel 28, EVG-Vertrag, a.a.O., S. 849.
[32] Glöckler-Fuchs, Außenpolitik, S. 82.
[33] Loth, Weg, S. 107f.
[34] Loth, Weg, S. 110.
[35] Glöckler-Fuchs, Außenpolitik, S. 83.
- Quote paper
- Helmut Strauss (Author), 2004, Die Integrationsprojekte von Außenpolitik in den 50er und 60er Jahren: Warum mussten sie scheitern?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29102
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