1. Einleitung
Der Gebrauch der Anredepronomina hat sich im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen im Laufe der Jahrhunderte- bis heute entscheidend verändert. Welche pronominalen Anredeformen kannten unsere Vorfahren und wie vollzog sich die sprachhistorische Entwicklung dieses Anredesystems?
Die ältesten Anredepronomina germanischer Sprachen sind das Du und das Ihr. Davon ausgehend entwickelte sich ein vielfältiges System, wobei den Sprechern der deutschen Sprache zeitweise bis zu fünf verschiedene Anredepronomina zur Verfügung standen. Die ältesten Anredeformen wurden dabei immer wieder entwertet und durch neue ersetzt. Auf die Differenzierung der pronominalen Anredeformen im 17. und 18. Jahrhundert folgte eine Revision dieser Formen im 19. Jahrhundert. Auch der Gebrauch unseres heutigen Zweiersystems (Du/Sie) befindet sich in einem ständigen Wandlungsprozess. Diese Tatsache äußert sich gegenwärtig vor allem in starker Unsicherheit bei der Wahl des „richtigen“ Anredepronomens.
Im ersten Teil dieser Magisterarbeit möchte ich die sprachhistorische Entwicklung der pronominalen Anredeformen vom Mittelalter bis in die Gegenwart diachronisch beschreiben. Dabei beschränkt sich meine Darstellung auf Varietäten des Anredeverhaltens im Standartdeutschen, dialektale Abweichungen werden nicht untersucht. Doch selbst im Standartdeutschen lassen sich abhängig von ländlichen oder städtischen Strukturen Unterschiede im Gebrauch der pronominalen Anrede vermuten.
Gustav Ehrismann hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche Untersuchung der pronominalen Anredeformen im Mittelalter vorgelegt. Diese Arbeit ist von Albrecht Keller (1904) fortgesetzt, aber nicht abgeschlossen worden. In den Folgejahren haben sich neben Behaghel (1923) und Ammon (1972) in jüngster Vergangenheit vor allem Kohz (1982) und Besch (1998) mit der Entwicklung der pronominalen Anredeformen auseinandergesetzt. Die meisten Arbeiten zur Anredeforschung stammen dabei aus dem Bereich der Sprachsoziologie und linguistischen Pragmatik.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Definition der Anredeformen
2. Die Sprachhistorische Entwicklung der pronominalen Anrede
2.1 Am Anfang war das „Du“
2.2 „Er“ und „sie“ (3. Pers. Sing.) als Steigerung der Höflichkeitsanrede „Ihr“
2.3 Das Vierersystem im 18. Jahrhundert
2.4 Das neue Zweiersystem „Du“/„Sie“ im 19. Jahrhundert
2.5 Die Entwicklung der pronominalen Anrede im 20. Jahrhundert
2.5.1 Das Genossen-Du in der DDR
2.5.2 Die pronominale Anrede vor 1968
2.5.3 Das neue Studenten-Du
2.6 Das heutige binäre Anredesystem
2.6.1 Die Du-Expansion
2.6.2 Die jüngsten Entwicklungen der pronominalen Anrede
2.6.3 Die pronominale Anrede morgen- ein Ausblick
3. Die pronominalen Anredeformen in den Briefen Martin Luthers (1483-1546)
3.1 Briefe an seine Familie
3.2 Briefe an Freunde und Bekannte
3.3 Briefe an seine Gegner
3.4 Briefe an Grafen und Kurfürsten
3.5 Briefe an Papst und Kaiser
4. Zum Wandel der pronominalen Anredeformen
4.1 Ursachen des Systemwandels der pronominalen Anrede
5. Schlussbetrachtungen
6. Literaturverzeichnis
7. Quellenverzeichnis
Ists deutscher Art gemäß, mit Worten so zu spielen?
Wir heissen Einen Ihr und reden wie mit vielen.
Friedrich von Logau (1605-1655)
1. Einleitung
Der Gebrauch der Anredepronomina hat sich im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen im Laufe der Jahrhunderte- bis heute entscheidend verändert. Welche pronominalen Anredeformen kannten unsere Vorfahren und wie vollzog sich die sprachhistorische Entwicklung dieses Anredesystems?
Die ältesten Anredepronomina germanischer Sprachen sind das Du und das Ihr. Davon ausgehend entwickelte sich ein vielfältiges System, wobei den Sprechern der deutschen Sprache zeitweise bis zu fünf verschiedene Anredepronomina zur Verfügung standen. Die ältesten Anredeformen wurden dabei immer wieder entwertet und durch neue ersetzt. Auf die Differenzierung der pronominalen Anredeformen im 17. und 18. Jahrhundert folgte eine Revision dieser Formen im 19. Jahrhundert. Auch der Gebrauch unseres heutigen Zweiersystems (Du/Sie) befindet sich in einem ständigen Wandlungsprozess. Diese Tatsache äußert sich gegenwärtig vor allem in starker Unsicherheit bei der Wahl des „richtigen“ Anredepronomens.
Im ersten Teil dieser Magisterarbeit möchte ich die sprachhistorische Entwicklung der pronominalen Anredeformen vom Mittelalter bis in die Gegenwart diachronisch beschreiben. Dabei beschränkt sich meine Darstellung auf Varietäten des Anredeverhaltens im Standartdeutschen, dialektale Abweichungen werden nicht untersucht. Doch selbst im Standartdeutschen lassen sich abhängig von ländlichen oder städtischen Strukturen Unterschiede im Gebrauch der pronominalen Anrede vermuten.
Gustav Ehrismann hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche Untersuchung der pronominalen Anredeformen im Mittelalter vorgelegt. Diese Arbeit ist von Albrecht Keller (1904) fortgesetzt, aber nicht abgeschlossen worden. In den Folgejahren haben sich neben Behaghel (1923) und Ammon (1972) in jüngster Vergangenheit vor allem Kohz (1982) und Besch (1998) mit der Entwicklung der pronominalen Anredeformen auseinandergesetzt. Die meisten Arbeiten zur Anredeforschung stammen dabei aus dem Bereich der Sprachsoziologie und linguistischen Pragmatik.
Wie hat sich der Gebrauch unseres pronominalen Anredesystems über die Jahrhunderte verändert? Umbrüche und Veränderungen im Sprachgebrauch sollen herausgearbeitet, und die gesellschaftlichen Bedingungen kurz beschrieben werden, unter denen sich diese Wandlungsprozesse vollzogen haben. Auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Entwertung einzelner Anredepronomen und ihrer kommunikativen Funktion soll dabei beantwortet werden. Aspekte gegenwärtigen Anredeverhaltens und ein prognostischer Ausblick in die Zukunft schließen den ersten Teil der Ausführungen ab.
Im zweiten Teil der Magisterarbeit möchte ich an einem Quellentext exemplarisch den Gebrauch der Anredepronomina vor dem Hintergrund der sprachhistorischen Entwicklung des gesamten Systems erläutern. Als Quellentext habe ich aus der umfassenden Vielzahl an Briefen Martin Luthers einige ausgewählt, um sie hinsichtlich des Gebrauchs der pronominalen Anrede zu analysieren. Luther, der Zeit seines Lebens ein unermüdlicher Briefschreiber war, hinterließ mehr als 2500 Briefe. Die Mehrzahl dieser Briefe ist allerdings in lateinischer Sprache verfasst. Interessant dabei ist, dass sich Luther in der Wahl der lateinischen oder deutschen Sprache nach seinen Briefpartnern richtete. An Latein unkundige Empfänger schrieb er auf deutsch. Mitunter gebrauchte Luther aber auch beide Sprachen innerhalb eines Briefes. In meinen Untersuchungen beschränke ich mich auf die ausschließlich in deutscher Sprache verfassten Briefen.
Welche Anredepronomina verwendet Martin Luther in diesen Briefen, um Familienmitglieder, Freunde, Grafen, Kurfürsten oder auch seine Gegner anzusprechen? Entsprechen diese Anredeformen den im 16. Jahrhundert allgemein üblichen Regeln des Gebrauchs der pronominalen Anrede, oder gibt es hier Abweichungen? Wie lassen sich eventuelle Abweichungen erklären? Diese Fragen sollen anhand der ausgewählten Briefausschnitte beantwortet werden. Gleichzeitig soll daran veranschaulicht werden, wie vielschichtig und komplex der sprachliche Entwicklungsprozess des pronominalen Anredesystems im Deutschen ist. Die Analyse des Quellentextes habe ich nicht in den entsprechenden zeitlichen Kontext, sondern an das Ende der sprachgeschichtlichen Entwicklung gestellt, um deren chronologische Gesamtdarstellung nicht zu unterbrechen.
Im Anschluss an die Analyse des Quellentextes sollen im letzten Teil der Arbeit die Ursachen bzw. der Zweck dieses Wandlungsprozesses erläutert werden. Warum hat sich der Gebrauch der Anredepronomina seit dem Mittelalter überhaupt verändert? Wie ist dieser Wandel des Anredesystems vom Zweiersystem zum Fünfersystem und wieder zurück zu unserem heutigen binären Anredesystem zu erklären? Um diese Fragen beantworten zu können ist es notwendig, zunächst grundlegende Fragen der Sprache und des Sprachwandels kurz zu erläutern. Warum verändert sich unsere Sprache ständig? Diese Frage ist in der Vergangenheit sehr unterschiedlich beantwortet worden.
Rudi Keller hat in seiner evolutionären Theorie der Sprache gezeigt, dass Veränderungen auf Seiten der Welt nicht ausreichen, um sprachliche Veränderungen zu erklären. Er definiert den Wandel der Sprache als „notwendige Folge unserer Art und Weise von ihr Gebrauch zu machen.“[1] Damit liegen die Ursachen des sprachlichen Wandels und damit auch der Veränderungen des pronominalen Anredesystems nicht im außersprachlichen Bereich. Wie wir diese Formen täglich verwenden, bestimmt vielmehr ihren Wandel. Auf der Grundlage dieser Theorie des Sprachwandels möchte ich den Wandlungsprozess der pronominalen Anredeformen erläutern.
Welche kommunikativen Ziele verfolgen die Sprecher bei der individuellen Auswahl der Anredepronomen? Welche Formen wählen sie aus und welche Folgen hat das für die Entwicklung des gesamten Anredesystems? Die höfisch-ständische Gesellschaft stellt andere Bedingungen für den Anredegebrauch dar als unsere heutige pluralistische Gesellschaft. Wie wirken sich diese veränderten ökologischen Bedingungen auf unseren heutigen Gebrauch pronominaler Anrede aus? Abschließend soll geklärt werden, warum bei Prozessen sprachlichen Wandels Prognosen kaum möglich sind. Ziel dieser Arbeit ist es damit, die sprachhistorische Entwicklung der Anredepronomen nicht nur nachzuzeichnen, sondern auch Erklärungsansätze für den Wandlungsprozess zu geben.
1.1 Definition der Anredeformen
In der Anredeforschung werden die sprachlichen Mittel, die in der Anredehandlung einem Adressaten gegenüber verwendet werden, als Anredeformen bezeichnet. Sprachliche Anredeformen lassen sich in eine nominale und eine pronominale Kategorie einteilen. Zu den nominalen Anredeformen gehören die Verwendung von Namen, Berufsbezeichnungen und Titeln. Die pronominalen Anredeformen manifestieren sich in Personalpronomen. Als Subklasse der Wortart Pronomen verweisen die Personalpronomen auf Sprecher bzw. Personen.
Kim-Iwamura weist in diesem Zusammenhang auf die Streitfrage über die terminologische Definition des Pronomens hin. Der Terminus „Pronomen“ ist aus der Schulgrammatik übernommen worden. Im etymologischen Sinn verstanden ist er nur teilweise richtig, denn Pronomina in dem Sinne, dass sie für Nomina stehen, sind in der deutschen Sprache nur die der 3. Person Singular und Plural. Die Pronomen der 1. und 2. Person Singular und Plural zeichnen sich im Deutschen dadurch aus, dass sie nicht für Nomina stehen (können).[2] Trotz dieser terminologischen Ungenauigkeit ist die Bezeichnung „Personalpronomen“ in Grammatiken allgemein üblich.
Der in dieser Arbeit häufig verwendete Begriff der „Anredeformen“ bezieht sich hier ausschließlich auf die verschiedenen Möglichkeiten der pronominalen Anrede.
2. Die sprachhistorische Entwicklung der pronominalen Anrede
2.1 Am Anfang war das „Du“
Im Frühgermanischen und Gotischen wurden Anrede und Selbstbezeichnung ebenso wie zum Beispiel im Griechischen und Lateinischen in der Flexion des Verbs ausgedrückt. Anredepronomina und das Pronomen der 1. Person Singular traten nur in Ausnahmefällen auf. Kohz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass noch nicht systematisch untersucht worden ist, welche Mittel den alten Goten und Germanen für eine differenzierte Anrede zur Verfügung standen.[3] Nur gelegentlich sind in gotischen und frühen althochdeutschen Quellen die Anredeformen Du gegenüber einem und Ihr gegenüber mehreren Adressaten nachzuweisen.[4] In der Bibelübersetzung des Wulfila beispielsweise erscheinen die Pronomina Ich und Du nur, wenn die 1. oder 2. Person besonders hervorgehoben werden sollte.[5] Erst im Althochdeutschen (ca.750-1050) hat sich die Verwendung pronominaler Anredeformen dann immer mehr eingebürgert.
In diesem ursprünglichen Anredesystem wurde ohne Rücksicht auf Standesunterschiede lediglich nach Singularität oder Pluralität der Adressaten differenziert. So wird beispielsweise im Hildebrandlied (entstanden um 750) nur geduzt. Hildebrand und Hadubrant reden sich mit Du an, obwohl sie sich völlig fremd sind. Selbst bei Königen wurde keine Ausnahme gemacht, auch sie wurden geduzt, wie das Ludwiglied (entstanden um 881) beweist. Es gab damit im Althochdeutschen für die Anrede einer einzelnen Person nur das Du. Jeder duzte Jeden, der Knecht den Bauern ebenso wie dieser den Adligen und der wiederum den Landesherrn und umgekehrt.
„Dieses Du ist der Ausdruck innigster menschlicher Bindung, in Familie und Freundeskreis. Es ist die Anrede für Gott und für alles, was in der Natur lebendig den Menschen umgibt.“[6]
In althochdeutschen Sprachzeugnissen (bis ca.1100) ist damit ausschließlich die sogenannte „natürliche“ Form der Anrede bezeugt, d.h. die gewählten grammatischen Formen stimmen mit der Zahl der angeredeten oder redenden Personen überein. Jeder Sprecher spricht von sich selbst in der 1. Person Singular und alle (einzelnen) Angeredeten werden unabhängig von ihrem sozialen Rang in der 2. Person Singular angeredet, also geduzt.
Im 9. Jahrhundert trat dann erstmals in deutscher Sprache die 2. Person Plural als Höflichkeitsform für eine Einzelperson auf. Der frühe Beleg (um 865) stammt aus der Klosterzelle Otfrid von Weißenburg`s, einem Dichter aus dem Südrheinfränkischen. In seinem, in deutscher Sprache verfassten Evangelienbuch, spricht er Leser und Hörer mit Du an, den Bischof Salomo von Konstanz aber mit Ihr.[7] Diese neue Anredeform ist Ausdruck einer besonderen Verehrung des Bischofs. Sie stellt gleichzeitig eine gewisse Distanz her. Das Wörterbuch der Brüder Grimm erklärt diesen Wechsel vom Du zum Ihr folgendermaßen:
„ihr, der pl. für du erscheint zuerst im 9ten jahrhundert [...] sie soll ehrerbietung vor der höheren würde und den gröszeren abstand des redenden von dem angeredeten ausdrücken, indem man annimmt es stehe nicht einer, sondern mehrere gegenüber [...].“[8]
Indem der Angeredete in seiner Persönlichkeit und allen sie ausmachenden Qualitäten „vervielfältigt“ wird, steht er über dem Ich des Anredenden. Damit wurde der höhere soziale Rang des Angeredeten betont. Diese Tendenz, sozial höherstehende Personen nicht durch zu direktes Anredeverhalten zu belästigen, ist nicht nur in der deutschen Sprache zu beobachten. Auch in vielen anderen Sprachgemeinschaften tritt dieses Phänomen auf.
In der Folgezeit wurde das Ihr immer häufiger verwendet und breitete sich somit allmählich aus. Damit bildete sich ein Zweiersystem der pronominalen Anrede heraus. Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Du nicht nur gegenüber sozial niedriger Stehenden verwendet, sondern es wurde auch zum Merkmal der Sprache des Volkes. In der Bauern- und Schwankliteratur des ausgehenden Mittelalters wird das Duzen unter Bauern als Merkmal der geringschätzigen und groben Umgangsformen vorgeführt.
In der frühmittelhochdeutschen Literatur herrscht, was das Anredeverhalten betrifft noch ein Mischstil vor: Gebräuchlicher Anredestil war -vor allem in der religiösen Literatur- das Duzen. Die 2. Person Plural wurde nur gelegentlich und stilistisch bewusst eingesetzt, wenn es darum ging, besondere Ehrerbietung eines Sprechers vor einem Höherstehenden auszudrücken, oder um der Rede ein zeitgenössisch- modisches d.h. höfisches Ambiente zu geben.[9]
Nach den ersten Belegen in deutscher Sprache bei Otfrid von Weißenburg (um 865) liefert das Annolied, etwa um 1080 entstanden und eng mit Siegburg und Köln verbunden, eine interessante Herkunftstheorie der pluralen Höflichkeitsform, die in der Geschichte viel weiter zurückreicht. Die anonymen Autoren des Annoliedes führen den Gebrauch der 2. Person Plural auf Caesar zurück.[10]
Caesar wurde nach dem Sieg über Pompejis von den Römern gefeiert. Da er nun als Alleinherrscher eine Menge von Ämtern vereinigte, wurde er von den Römern mit dem vervielfältigenden Ihr ausgezeichnet. Diesen Brauch ließ Caesar daraufhin -als Ehrung- auch die Deutschen lehren.[11] Diese Herkunftstheorie ist nicht unbedingt glaubhaft. Sie wurde aber im Mittelalter stark verbreitet.
Tatsache ist jedoch, dass pluralische Höflichkeitsformen im Lateinischen schon lange vor Otfrid von Weißenburg bekannt waren. So sind in der offiziellen lateinischen Schriftsprache der spätrömischen und frühmittelalterlichen Zeit, in der beispielweise Erlasse und Geschäftsbriefe verfasst wurden, bereits pluralische Formen der pronominalen Anrede ausgebildet. Dort tritt allerdings zuerst die 1. Person Plural (wir) bezogen auf eine einzige Person auf. Besch hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Tatsache, dass zeitweilig in Rom zwei oder drei Kaiser zusammen regierten, diese Wir-Form förderte.[12] Ammon hingegen sieht die Verwendung des „Pluralis majestatis“, wie er gegenüber römischen Kaisern gebräuchlich war als Ausdruck dafür, dass der Kaiser auch seine Untertanen (also eine Pluralität) repräsentierte.[13] Bei allen mehr oder weniger wagen Herkunftstheorien ist jedoch eines sicher, das deutsche Ihr wurde dem Vorbild des romanischen bzw. französischen vos nachempfunden und steht damit in einer abendländischen Schrifttradition.
Im Hochmittelalter (11.-13. Jahrhundert), der Blütezeit des höfischen Rittertums, setzte sich der Gebrauch der Anredepronomina Du und Ihr dann immer stärker durch. Niedere Schichten ihrzten Höherrangige. Innerhalb der höheren Stände galt auch untereinander das Ihr. Die niederen Schichten gebrauchten untereinander allerdings weiterhin das Du. Dieses Zweiersystem der pronominalen Anrede hatte während des gesamten Mittelalters bestand. In den Kanzleibüchern und Briefstellern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sind vielfach Kapitel über das Duzen und Ihrzen zu finden.[14]
Mit dem Gebrauch der 2. Person Plural (bezogen auf eine Person) besaß das deutsche System der Anredeformen erstmals die Möglichkeit, soziale Strukturen und Partnerrelationen pronominal auszudrücken. Die ersten Belege lassen keinen Zweifel daran, dass die sozial differenzierte Anrede vom Gipfel der sozialen Hierarchie ausging. Sie breitete sich dann allmählich von oben nach unten innerhalb der gesellschaftlichen Schichten aus. Jacob Grimm beschreibt für den Gebrauch des Du und Ihr im 12. und 13. Jahrhundert folgende Hauptregeln:
1. Gegenseitiges duzen galt unter Geschwistern und Geschwisterkindern.
2. Eltern duzen ihre Kinder, der Vater empfing von Sohn und Tochter ir, die Mutter vom Sohn ir, von der Tochter gewöhnlich du, weil es zwischen Mutter und Tochter eine größere Vertraulichkeit gab.
3. Eheleute irzen sich.
4. Liebende, Minnewerbende nennen sich ir, gehen aber leicht in das vertrauliche Du über.
5. Der Geringere gibt dem Höheren ir und erhält du zurück.
6. Zwischen Freunden und Gesellen gilt du.
7. Frauen ,Geistliche und Fremde erhalten ir.
8. Personifizierte Wesen werden vom Dichter geirzt.
9. Das einfache Volk hat das Irzen unter sich noch gar nicht angenommen, sondern bleibt beim duzen.
10. In stark emotionalen Reden wird nicht auf die Sitte geachtet und es wechseln höfisches ir und vertrauliches du.[15]
Diese Regeln der Anrede galten bis in das 16. Jahrhundert, zunächst allerdings nur für den höfischen Adel. In der alltäglichen Sprachpraxis waren sicherlich Abweichungen möglich.
Für die Verwendung des Pluralis reverentiae in der geistlichen Erzählliteratur, weist Ehrismann auf eine Besonderheit hin. Hier konnte sich die Verwendung der neuen Anredeform nicht durchsetzen d.h. die Anrede mit Ihr an Personen der biblischen Geschichte oder der Legende war nicht üblich. So wurde auch in den älteren Beichtformeln der Priester immer geduzt. Erst im 12. Jahrhundert trat auch in den Beichtformeln das Ihr anstelle des Du. Für die geistliche Dichtung der mittelhochdeutschen Frühzeit ist damit das Duzen der geistlich-epische Anredestil entsprechend seinem Ursprung in der Bibel.[16]
Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte breitete sich die pluralische Anrede gegenüber Einzeladressaten insbesondere unter dem starken französischen Kultureinfluss weiter aus. Gading weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es die französischen Ritter waren, die als erste die Mehrzahl der Anredeform nicht mehr als Ausdruck der eigenen Machtfülle gebrauchten.
„Indem sie von sich selbst nur in der Ichform sprachen und die Mehrzahl nur dem anderen von ihresgleichen gegenüber verwendeten, brachten sie das Moment der Bescheidenheit zur Geltung und begründeten damit die Courtoisie, oder Höflichkeit, unter deren gesellschaftlichen Folgen wir heute noch stehen.“[17]
Der Gebrauch der Anrede in der 2. Person Plural breitete sich in der Folgezeit auch auf die tiefer liegenden Ränge der gesellschaftlichen Hierarchie, den niederen Adel und das allmählich aufkommende städtische Bürgertum aus. Bis zum 16. Jahrhundert sank das Ihr der höheren Schichten immer tiefer, damit nutzte sich allerdings auch die ehrerbietige Bedeutung dieser Anredeform allmählich ab. Sie wurde zunehmend entwertet. Das städtische Bürgertum eignete sich höfische Ritterformen und -sitten an und gebrauchte untereinander das Ihr. So wurde bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der offiziellen Sprache auch Handwerkern und Gelehrten gegenüber das Ihr in der Anrede verwendet.[18]
Hand in Hand ging im Mittelalter die besondere Bezeichnung der angeredeten Person durch die Verwendung der Wörter „herre“ und „frouwe“ vor dem Namen. Diese Anreden waren mit der Herausbildung des städtischen Bürgertums nicht mehr allein dem Adel vorbehalten und haben damit ihren Charakter als Standesbezeichnung verloren.[19]
War Hartmann von Aue (zweite Hälfte 12. Jh. bis Anfang 13. Jh.) zum Beispiel noch stolz darauf, dass ihm der Standestitel „herr“ zukam, so wurde aus diesem Titel Ende des 16. Jh. eine allgemeine Anredeform. In gleicher Weise haben im 17. Jh. auch die Titel „Junker“ und „Jungfrau“ ihre ständischen Bedeutungen verloren. Im Verlauf dieser Entwicklung konnte sich bis ins 16. und 17. Jahrhundert der Gebrauch des Anredepronomens Ihr gegenüber dem Du deutlich ausweiten.
„Ihr sagen sich alle besseren Kreise, alle, zu denen man aufblickt, bekommen es. Die Überlegenheit irgendwelcher Art (durch Geburt, des Standes, des Alters usw.) drückt sich durch Duzen aus.“[20]
Ammon erklärt die Entwicklung und Verwendung der Anrede in der 2. Person Plural nicht allein mit dem in der Kulturforschung bekannte Prinzip der Diffusion der Neuerungen von oben nach unten, das auf den sprachlichen Wandel als sogenannter „flight-pursuit-mechanism“ übertragen wurde. Er argumentiert sozialpsychologisch damit, dass in einer streng hierarchisch strukturierten Gesellschaft im Zweifelsfall stets die höflichere Anredeform gewählt wird, um eine Kränkung des Adressaten zu vermeiden. Vor allem gegenüber Unbekannten, deren sozialer Rang nicht auszumachen war, wurde aus Vorsicht Ihr verwendet. Die ursprünglich nur gegenüber Höhergestellten übliche Anrede wurde damit allmählich auch gegenüber Fremden gebräuchlich und somit zum Ausdruck distanzierter Sozialbeziehungen.[21]
Mit der Etablierung der ehrerbietenden Anrede Ihr erhält das weiterhin bestehende Du eine speziellere kommunikative Funktion. Es wird nur noch gegenüber Untergebenen, sozial Geringgeschätzten oder gegenüber vertrauten Personen verwendet. Das Du wurde damit zum Ausdruck näherer Bekanntschaft, Vertrautheit und intimer Sozialbeziehungen, gleichzeitig aber auch zum Ausdruck sozialer Herablassung und Geringschätzung.
„wenn ein Verhältnis vertraulich wird, so geht man zu du über, wie es liebende pflegen, oder freunde, die brüderschaft miteinander trinken. aber auch umgekehrt, in heftiger leidenschaftlicher erregung oder entrüstung bricht es plötzlich hervor.“[22]
So wurde beispielsweise Martin Luther auf dem Wormser Reichstag zunächst in der 2. Person Plural angeredet, bis er den Widerruf verweigerte, dann duzte ihn der Erzbischof von Trier, der damit nur noch den Vorgesetzten spielte.[23]
Diese ambivalente Funktion des Du/Ihr, die wir heute noch beim Du feststellen, ist damit schon im Frühmittelhochdeutschen gegeben. Die Adligen dieser Zeit nutzten die Ambivalenz der mittelalterlichen Redeweisen zur Absicherung ihres elitären Bereichs. Sie fingen an einander zu duzen (und nutzten dabei den Aspekt der Vertraulichkeit beim Duzen) und markierten die Distanz zu nicht-höfischen Personen, indem sie diese ihrzten.
Die Tatsache, dass im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen Anredepronomina mit unterschiedlicher Intension verwendet werden können hat Armin Kohz als dichotomische Funktion der Anredepronomina näher beschrieben.[24]
Die durch die Ausbreitung bedingte Entwertung der Anredeform Ihr machte sie für die Abgrenzung der führenden Gesellschaftsschicht zunehmend unbrauchbar. Eine neue Form musste diese Funktion übernehmen.
Ich möchte an dieser Stelle auf die unter Punkt 3. analysierten Briefe Martin Luthers verweisen, die in diesen zeitlichen Kontext einzuordnen sind. Um die sprachhistorische Entwicklung der pronominalen Anredeformen an dieser Stelle nicht unterbrechen zu müssen, habe ich sie an das Ende dieser Ausführungen gestellt.
2.2 „Er“ und „sie“ (3.Pers. Sing.) als Steigerung der Höflichkeitsanrede „Ihr“
Ende des 16. Jahrhunderts wurde die plurale Anredeform Ihr von fast allen Erwachsenen beansprucht. Sie konnte damit ihre Anredefunktion der untertänigen Ehrerweisung nicht mehr erfüllen. Eine neue Form kam um 1600 auf, die diese Referenzfunktion zufriedenstellend ausfüllen konnte: Die Anrede mit er und sie in Kombination mit dem Verb in der 3. Person Plural. Damit wurde das im Mittelalter gebräuchliche Zweiersystem der pronominalen Anrede um eine dritte Form erweitert.
Diese neue Form entsprang der im 16. Jahrhundert in der höfischen Rede aufkommenden Sitte, Höherstehende nicht mehr unmittelbar anzureden, sondern ihren Titel zum Subjekt der Aussage zu machen. Das Pronomen in der 3. Person Singular bezog sich dabei immer auf den Anredetitel.
Zum Beispiel: Hat er gut geschlafen, der gnädige Herr?
Auch diese neue Anredeweise war zunächst Ausdruck der Unterwürfigkeit, wie es im spätrömischen Kurialstil die Anrede mit Ihr gewesen war. Analog zum Lateinischen hatten sich abstrakte Titel der Anrede schon im 15. Jh. herausgebildet.[25] Ende des 16. Jahrhunderts folgte dann die pronominale Ersetzung dieser Titel in der 3. Person Singular. Wenige Jahrzehnte später hat sich die neue Anrede in der 3. Person Singular dann selbständig gemacht.
„Das Volk erzt und SIEzt den Adel, der bisher geihrzt wurde.“[26]
Damit bestand im 17. Jahrhundert eine dreistufige Anrede: das herkömmliche Du, das Ihr sowie das neu aufgekommene er/sie. Es handelte sich bei dieser neuen Form der pronominalen Anrede, die unter dem Einfluss des Absolutismus entstand, um eine Steigerung der Höflichkeitsanrede Ihr. Sie entwickelte sich aus der Absicht, den höheren sozialen Rang des Angeredeten noch stärker als bisher zu betonen d.h. die direkte Anrede mit den Pronomina Du/Ihr wurde zugunsten der Distanzform er/sie gemieden. Diese Anredeform kehrte zwar zur Einzahl zurück, betonte aber gleichzeitig den Abstand zwischen den kommunizierenden Personen noch stärker, als die Anrede in der 2. Person Plural, da in der 3. Person eigentlich über Abwesende gesprochen wird.
„Denn die dritte Person ist eigentlich die Person der Abwesenheit und bezieht sich in einer ‘natürlichen’ Unterredung nur auf jemanden, von dem, aber nicht zu dem gesprochen wird.“[27]
Im 17. Jahrhundert galt die Anrede in der 3. Person Singular als besonders höfliche Anrede. „Die Anrede mit Er ist die feinste, sie hat das Ihr aus seiner Stellung verdrängt, das nun entwertet ist und mit dem ganz niedern Du sein Gebiet neu abgrenzen muß.“[28]
Warum diese neue Anredeform als besonders ehrerbietig empfunden wurde, begründet Jacob Grimm sehr überzeugend:
„es ist (bei der Ersetzung der zweiten Person durch die dritte /Anm.), als ob der redende scheu empfinde vor allem höheren, ihn nicht wage zu duzen und nur als unnahbaren dritten sich vergegenwärtige.“[29]
Man wagte also gar nicht mehr, den anderen unmittelbar anzureden und anzusehen, sondern vor lauter Hochachtung redete und blickte man an ihm vorbei. Im Gegensatz zu den Etiketten, die von oben ausgingen und den unteren Ständen als Gesetz vorgelegt wurden, bildete sich die Anrede in der 3. Person Singular bei den mittleren und unteren Ständen des Volkes zuerst heraus und wurde von den höheren Ständen freiwillig übernommen.[30] So wurde die Anrede in der 3. Person Singular zunächst nur gegenüber Höhergestellten verwendet, denen man Ehre erweisen wollte, und man bekam dafür Ihr, wenn nicht gar Du zurück.
„Je mehr aber unwürdige und kriechende Gesinnung zunahm, musste Er auch zurückgegeben werden, und erst damit ist das Erzen wirkliche Umgangsform geworden.“[31]
Das heißt, die neue Anrede entwickelt sich vom Ausdruck der Untertänigkeit hin zum Ausdruck der allgemeinen Höflichkeit. Damit fand diese Form der pronominalen Anrede auch Eingang in die Familien. Die Frau erzt den Mann und die Kinder erzen den Vater. Auch Freunde werden in der 3. Person Singular angesprochen. Die bis dahin gebräuchlichen Anredeformen Du und Ihr wurden beim Aufkommen des neuen Anredepronomens zwar nicht aufgegeben, ihr Gebrauch wurde aber stark eingeschränkt. Das Du wurde so stark entwertet, dass es als bäurisch angesehen wurde und nicht mehr als vertraut.
Die fortschreitende Differenzierung der sozialen Hierarchie im 17. Jahrhundert stellt die entscheidende Bedingung für die zunehmende Vielfalt der pronominalen Anredeformen dar. Zusätzlich markierten Höflichkeitsvorschriften im Absolutismus die Distanz zwischen „oben“ und „unten“. So war zum Beispiel die direkte Anrede selbst bei Glückwunsch oder Kondolenzschreiben untersagt. Respektformen in der äußeren Gestaltung von Briefen verlangten beispielsweise zwischen Anrede und Text je nach Rang des Adressaten bis zu einer halben Seite Abstand.[32]
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts unterlag die Anrede in der 3. Person Singular einer zunehmenden Entwertung. Sie verlor immer mehr ihre ursprünglich ehrende Funktion und erhielt eine zunehmend pejorative Bedeutung. Nachdem das er und sie noch am Anfang des 18. Jahrhunderts für die Landbevölkerung und für wenig Gebildete die höflichste Anredeform war, stellt Gedike am Ende des Jahrhunderts fest: „[...] das Er ist verächtlich geworden.“[33]
Damit war das Erzen als Zeichen der Ehrerbietung in adligen Kreisen nur kurzlebig. Es verlor seinen Höflichkeitswert, da es nun als unschicklich galt, in der 3. Person Singular über eine im Raum anwesende Personen zu reden. Der Wertverlust dieser Anrede kommt auch darin zum Ausdruck, dass diese Form jetzt vor allem gegenüber Untergebenen verwendet wurde. In der preußischen Armee beispielsweise wurden die geringgeschätzten Soldaten von ihren Vorgesetzten mit er angeredet.[34] Außerdem zeigt sich der Wertverlust der Anrede in der 3. Person Singular darin, dass diese Anredeform im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert literarisch der Rede Bediensteter und Kleinbürger untereinander zugeordnet wird. Zum Beispiel in Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück“ von 1763 reden sich ausschließlich Bedienstete in der 3. Person Singular an.
Die mit dieser grammatischen Form ausgedrückte Distanz diente dazu, einen sozialen Abstand von oben nach unten zu markieren. Bald fand diese Anrede nur noch als Pronomen der Geringschätzung Verwendung, um Verachtung auszudrücken. Eine neue Form zum Ausdruck besonderer Höflichkeit oder Verehrung wurde damit notwendig.
2.3 Das Vierersystem im 18. Jahrhundert
Ende des 17. Jahrhunderts trat das heute gebräuchliche Anredepronomen Sie (3. Person Plural) gegenüber einem Einzeladressaten in ersten Schriftbelegen auf.[35] Wie die Anrede Ihr, so galt auch das Sie zunächst nur den oberen Schichten. Die Adligen fanden damit eine neue Form, mit der sie sich zum einen vom Volk abgrenzen konnten und zum anderen von Nicht-Adligen ehren lassen konnten. Es handelt sich bei der Anrede in der 3. Person Plural um eine Steigerung der zuvor entwerteten Anredepronomina er und sie (3. Person Singular). Die neue Form galt wieder als Ausdruck höchster Ehrerbietung. Segebrecht erklärt die Entstehung dieser jüngsten Form der pronominalen Anrede wie folgt:
„Sie ist als eine Steigerung der ER/SIE- Anrede zu verstehen, deren Mangel darin bestand, dass sie der angeredeten Person nur den Singular zubilligte, und zugleich als Alternative zur Ihr-Anrede, deren Manko die Herkunft vom allzu Vertraulichen DU war. Das Sie verband und summierte also die Vorzüge der ehrenden Objektivierung (Dritte Person) mit denen der ehrenden Vervielfältigung (Plural) zum Nonplusultra der allgemeinen Höflichkeit.“[36]
Indem jetzt aber auch das Verb bezogen auf nur eine Person die Pluralform annahm, entstand eine Art moderner Pluralis majestatis.
Zum Beispiel: Haben Sie gut geruht, Exzellenz?
Schmeller hat für diese, im Grimmschen Wörterbuch als „ungrammatisch“ und „widernatürlich“[37] bezeichnete Anrede folgende Erklärung gegeben:
„Dieser sonderbare Plural = Sie als höfliches Anredewort an eine Person [...] wird ursprünglich wohl nur auf den ausdrücklich gesetzten Plural Ew. Gnaden Bezug gehabt haben, und in der Folge auch unter allmählicher Weglassung dieses Substantivs fortgebraucht worden seyn.“[38]
Den Vorwurf der „Unnatürlichkeit“ nimmt Gedike in seine Argumentation auf und entkräftet ihn mit der leichten Gewöhnung der Sprachgemeinschaft an die neuen Formen. Er betrachtet die Entwicklung hin zur Anrede in der 3. Person Plural als logische Folge der vorangegangenen Entwicklung.
[...]
[1] Keller, Rudi (1994) S.207
[2] Vgl. Kim-Iwamura, (1993) S. 19
[3] Vgl. Kohz, (1982) S.5
[4] Vgl. Ammon, (1972) S.82
[5] Vgl. Kohz, (1982) S.5
[6] Kammerer, (1937) S.91
[7] Vgl. Besch, (1998) S.92
[8] Grimm, (1862) S.1475
[9] Vgl. Ehrismann, (1902) S.147
[10] Vgl. Ebd. S.118
[11] Vgl. Ebd.
[12] Vgl. Besch, (2003) S.386
[13] Vgl. Ammon, (1972) S.82
[14] Vgl. Besch, (2003) S.386
[15] Grimm, (1837) S.303ff
[16] Vgl. Ehrismann, (1902) S.118f
[17] Ammon, (1972) S.82
[18] Vgl. Ehrismann, (1902) S.156
[19] Vgl. Augst, (1977) S.37
[20] Keller, (1904/05) S.129
[21] Vgl. Ammon, (1972) S.83f
[22] Grimm, (1862) S.1469
[23] Vgl. Keller, (1904/1905) S.131
[24] Vgl. Kohz, (1982) S.22
[25] Vgl. Augst, (1977) S.37
[26] Ebd. S.38
[27] Gading, (1952) S.217
[28] Keller, (1904/05) S.170
[29] Grimm, (1965) S.248
[30] Vgl. Keller, (1904/05) S.165
[31] Ebd. S.171
[32] Vgl. Besch, (1998) S.94
[33] Gedike, (1794) S.12
[34] Vgl. Augst, (1977) S.43
[35] Vgl. Augst, (1977) S.94
[36] Kretzenbacher/Segebrecht, (1991) S.96
[37] Grimm, (1862) S.688
[38] Schmeller, (1966) S.203
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- M.A. Uta Ziegler (Author), 2004, Eine erklärende Darstellung der Entwicklung der pronominalen Anredeformen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29011
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