Bei der Ankunft der Europäer in Brasilien im Jahre 1500 war der Kontinent nicht leer, sondern seit tausenden von Jahren vollständig besiedelt. Wann genau wie viele Völker über welche Route Amerika erreichten, ist seit langem umstritten. Angesichts neuer Erkenntnisse muss die aus den 1950er Jahren stammende Annahme, wonach nur eine Gruppe von Siedlern erst vor 12 000 Jahren über den Beringia-Landweg kam und die Clovis-Kultur begründete, überdacht werden. Vieles spricht indes dafür, dass bereits vor 70 000 Jahren mindestens zwei Völker auf unterschiedlichen Wegen einwanderten. Archäologische Funde aus Südamerika, insbesondere Brasilien, scheinen dies zu belegen. Sie deuten auf eine 60 000 Jahre alte menschliche Präsenz im Bundesstaat Piauí hin. Eine Besiedelung des südlichen Minas Gerais erfolgte vor ca. 30 000 Jahren.
In dieser Arbeit wird ein genereller Überblick zu den indigenen Ethnien und Sprachen in Brasilien gegeben. Ausgangspunkt bildet die Besiedlung Südamerikas und die damit verbundenen Besonderheiten bei der Herausbildung indigener Sprachen. Anschließend wird deren Erforschung und weitgehende Vernichtung thematisiert und schließlich ihre heutige Situation beleuchtet.
Inhaltsverzeichnis
1 Ursprünge der Besiedelung und Sprachentwicklung
2 Die Erforschung indigener brasilianischer Sprachen
3 Die Vernichtung und heutige Situation indigener brasilianischer Sprachen
Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)
1 Ursprünge der Besiedelung und Sprachentwicklung
Bei der Ankunft der Europäer in Brasilien im Jahre 1500 war der Kontinent nicht leer, sondern seit tausenden von Jahren vollständig besiedelt (Guidon 1992; Melatti 2007:17). Wann genau wie viele Völker über welche Route Amerika erreichten, ist seit langem umstritten. Angesichts neuer Erkenntnisse muss die aus den 1950er Jahren stammende Annahme, wonach nur eine Gruppe von Siedlern erst vor 12000 Jahren über den Beringia-Landweg kam und die Clovis-Kultur begründete, überdacht werden. Vieles spricht indes dafür, dass bereits vor 70000 Jahren mindestens zwei Völker auf unterschiedlichen Wegen einwanderten (Guidon 1992:37ff.). Archäologische Funde aus Südamerika, insbesondere Brasilien, scheinen dies zu belegen. Sie deuten auf eine 60000 Jahre alte menschliche Präsenz im Bundesstaat Piauí hin.[1] Eine Besiedelung des südlichen Minas Gerais erfolgte vor ca. 30000 Jahren (Guidon 1992:41).
Eine herausragende Rolle in der neuesten Forschung spielt „Luzia“, das älteste Skelett beider Amerikas. Sie wurde bei Lagoa Santa in Minas Gerais entdeckt und wird den ersten Einwanderern, den Paläoindianern, zugerechnet. Luzia konnte auf ein Alter von 11000 bis 11500 Jahren datiert werden und weist im Gegensatz zu heutigen südamerikanischen Indigenen mongoloiden Typs eine australo-melanesische Schädelmorphologie auf. Dies bestätigt die Annahme, dass Amerika nacheinander von mindestens zwei unterschiedlichen Völkern besiedelt worden ist (Neves/Hubbe 2004:56-60; Neves/Piló 2008).
Durch Luzia konnte erstmals eine Verbindung zwischen den prähistorischen Kulturen der Paläoindianer zu den Indigenen der Neuzeit nachgewiesen werden, was lange als schwierig galt (Guidon 1992:52). Neueste kraniometrische und genetische Untersuchungen belegen, dass Luzia und ihre Artgenossen direkte Vorfahren der Botokuden waren (Neves/Atui 2004; Neves/Piló 2008; Gonçalves et. al. 2010). Bereits im Jahr 1876 hatten Lacerda/Peixoto sowie im Jahr 1887 Ehrenreich ähnliche Vermutungen angestellt:
Wir sind, wie ich glaube, wohl berechtigt, die alten Höhlenmenschen des Centrums der Provinz Minas als die direkten Vorfahren unserer heutigen Botocuden im östlichen Theile dieser Provinz zu betrachten. […] Die Lagoasanta-Menschen […] repräsentieren das Urvolk, von dem Botocuden und heutige Gēs sich abgezweigt haben. (Ehrenreich 1887:80f.)
Die zeitlichen, geographischen und ethnologischen Umstände der Besiedelung Südamerikas beeinflussten erheblich die Sprachentwicklung und -differenzierung auf diesem Kontinent. Er liegt isoliert zwischen den größten Ozeanen der Welt und der schmale Zugang über den Isthmus von Panama erlaubte kaum Rückwanderungen. Verbunden mit der frühen Besiedelung durch mehrere Ethnien trug dies zur Herausbildung von Sprachen mit einzigartigen Merkmalen und besonderer Bedeutung für die sprachwissenschaftliche Theoriebildung bei (Rodrigues 1993:85-88).
Embora todas as línguas apresentem grande quantidade de fatos triviais para o conhecimento já acumulado pela ciência lingüística, cada língua indígena sul-americana pode apresentar fenômenos ainda desconhecidos, seja na fonologia, seja na gramática ou seja na organização do discurso. (Rodrigues 1993:85f.)
Die Vielfalt und Einzigartigkeit indigener brasilianischer Sprachen ist sowohl unter typologischen als auch unter genetischen Gesichtspunkten beachtlich. Was die Klassifikation von Sprachen aufgrund struktureller Eigenschaften angeht, existieren z.B. analytische oder polysynthetische Sprachen mit Merkmalen, die nur auf dem amerikanischen Kontinent zu finden sind. Es haben sich sowohl Sprachen mit einem außerordentlich reichen als auch extrem reduzierten Phoneminventar herausgebildet. Unter anderem treten auch verschiedene Typen von Tonsprachen auf, oder Sprachen, die zwischen einer fala masculina und fala feminina unterscheiden (Seki 2000a:240-245; Rodrigues 2001, 2002).
Die Botokudensprache ist eine der am spärlichsten erforschten aber zugleich eine der am stärksten vom Aussterben bedrohten Sprachen Brasiliens. Das Wenige, was wir über die Botokudensprache wissen, ist jedoch umso bedeutsamer. Lautlich gesehen verfügt sie z.B. über die stimmlosen Nasalkonsonanten [m̥ n̥ ɲ̊ ŋ̊], die weltweit selten auftreten (Ladefoged/Maddieson 1996:106-116; Seki 2008:125f.; Pessoa 2012:91-102).
Was die Klassifikation von Sprachen aufgrund von Ähnlichkeiten durch die Abstammung von einer gemeinsamen Ursprache angeht, lassen sich die noch lebenden 150-180 indigenen brasilianischen Sprachen zu etwa 40 Sprachfamilien gruppieren. Davon können wiederum jeweils 10 zu zwei noch größeren genealogischen Einheiten, den Sprachstämmen Tupí und Macro-Jê, zusammengefasst werden (Rodrigues 1993, 1999, 2001, 2002; Moore et al. 2008; Ribeiro 2006, 2010). Die Botokudensprache gehört der gleichnamigen Sprachfamilie an, die ihrerseits dem Macro-Jê Stamm zugerechet werden kann.
2 Die Erforschung indigener brasilianischer Sprachen
Die Erforschung indigener brasilianischer Sprachen lässt sich grob in fünf Phasen unterteilen. Auf jede einzelne Phase und ihre typischen Merkmale soll im Folgenden kurz eingegangen werden.[2] Alle Forschungsbemühungen werden durch die Tatsache erschwert, das sämtliche indigenen Ethnien Südamerikas schriftlose Kulturen waren.
Die erste Phase der Erforschung indigener Sprachen begann Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Studium durch europäische Missionare und dauerte etwa 250 Jahre an. Sie ist durch eine Reihe von Problemen gekennzeichnet. Alle Sprachen auf die die Europäer zuerst trafen, waren Tupí-Guaraní Sprachen der brasilianischen Küste. Dies verleitete die Missionare zu Generalisierungen und Fehleinschätzungen, die zur Verfestigung des Gegensatzes „Tupí vs. Tapúya“ und zur sogenannten „Hypervalorisation des Tupí“ führten[3] (Câmara Jr. 1965:99-112). Außerdem waren die Missionare weniger an der Sprache an sich interessiert, als vielmehr an der „spirituellen Eroberung“ der Indigenen. Nicht zuletzt scheiterten die Ordensleute oft an den völlig unbekannten Strukturen der indigenen Sprachen. Diese versuchten sie anhand der ihnen vertrauten griechischen oder lateinischen Kategorien zu analysieren, was meist zu unzulässigen Deformationen führte. Dennoch verdanken wir den Missionaren wichtige Dokumente und sprachliche Entdeckungen aus den ersten drei Jahrhunderten der Kolonisation Brasiliens. Herausragende Beispiele sind die Tupí-Grammatiken der Jesuitenpadres José de Anchieta (1595) und Luis Figueira (1687) sowie die Grammatik und der Katechismus des Kipeá-Kirirí (Macro-Jê) von Padre Luis Vincencio Mamiani (1699; 1942 [1698]). Eine umfassende Studie zu portugiesischen Missionarsgrammatiken bietet Zwartjes (2011). Das intensive Studium des Tupí durch die Missionare sollte später in Gestalt der „filologia tupí“ durch brasilianische Gelehrte fortgesetzt werden (Câmara Jr. 1965:105-112).
[...]
[1] Diese Datierung ist allerdings umstritten. Siehe dazu Melatti (2007:18f.).
[2] Dieser Versuch einer Periodisierung ist keinesfalls exhaustiv oder endgültig. Je nach Forschungsperspektive und Gewichtung der einzelnen Akteure kann man auch zu einer anderen Einteilung gelangen. Außerdem lassen sich die Phasen nicht immer klar voneinander trennen, sondern überlappen teilweise.
[3] Als Tapyʔyia‚ ‚Barbar, Fremder‘ (> Tapúya) bezeichneten die Tupí-sprachigen Ethnien der brasilianischen Küste ihre nicht Tupí-sprachigen Feinde. Dies betraf hauptsächlich die Bewohner des Landesinneren, wie z.B. die Botokuden, die sich nicht nur sprachlich sondern auch kulturell deutlich von den Tupí unterschieden (Ribeiro 2009:61). Die Missionare übernahmen diese Sichtweise. Sie hielten das Tupí für den Prototyp indigener Sprachen und würdigten alle anderen Sprachen als „anormal“ herab (Câmara Jr. 1965:99f.; Wright/Carneiro da Cunha 1999:335).
- Quote paper
- Matthias Nitsch (Author), 2013, Die Besiedlung Brasiliens. Indigene Ethnien und Sprachen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/289066
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