Das Gehen als bipedales Gehen, als ein aufrechtes Gehen, unterscheidet den Menschen vom Tier. Es ist ein evolutionsgeschichtlich ebenso markanter Fortschritt wie die Ausbildung der Hand als kreatives Werkzeug. Vielleicht liegt darin der Grund, weshalb das Gehen auch als Konzept Eingang in die Sprache fand, ja sie regelrecht infiltriert und infiziert hat: »GEHEN, GEHN, ire, ein nach form und gehalt überaus reich entwickeltes wort, dessen erschöpfende behandlung ein werk für sich wäre«, so das Deutsches Wörterbuch. Auch Thomas Bernhards Prosatext »Gehen« weist eine Vielfalt unterschiedlicher Komposita auf: abgehen, weggehen, hingehen, zugrunde gehen, zu weit gehen, übergehen, vergehen, zurückgehen, vor die Hunde gehen, umgehen, begehen, verloren gehen, vorausgehen, aufgehen, eingehen, entgehen et cetecera.
Gehen ist ein natürlicher Vorgang: er ist Ortsveränderung und Bewegung, Verlassen und Erreichen. Gehen ist der Fingerabdruck eines Menschen; die Gangart ist individuell. In einem Interview mit Kurt Hofmann erklärte Thomas Bernhard in den 1980er Jahren: »Das Unglück der Menschen ist eben, daß sie den Weg, den eigenen, nicht gehen wollen, immer einen anderen gehen wollen.«
In der vorliegenden Studie werden unter Zuhilfenahme einer semiotisch-dekonstruktivistisch orientierten Lesepraxis des Prosatextes »Gehen« fünf »Effekte« beleuchtet, die als wichtige Motive innerhalb einer kulturellen Semiose über die im Text proklamierte Verbindung zwischen Gehen und Denken hinausgehen und die durch die Unmöglichkeit des Stillstands, des Aufhörenkönnens, des Stehenbleibens motiviert sind: Schrift, Lektüre, Iteration, Exzeß und Etikett(e). Diese lektüreleitende These gilt es, zu entfalten, zu erweitern, in Frage zu stellen und zu durchgehen, um dem Phänomen einer Kehrtwendung gerecht zu werden, das heißt um einer geraden, einer einzigen, einer statischen Lesart zu entgehen.
Inhaltsverzeichnis
- Eingang: Gedankengänge und Karteikarten
- Schrift
- Lektüre
- Iteration I
- Exzeß und Etikett(e)
- Fazit: Iteration II
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit einer semiotisch-dekonstruktivistischen Neulesung von Thomas Bernhards Roman Gehen. Sie untersucht fünf "Effekte" des Textes - Schrift, Lektüre, Iteration, Exzess, Etikett - als wichtige Motive innerhalb einer kulturellen Semiose, die über die behauptete Analogie zwischen Gehen und Denken hinausgeht. Bernhard greift das Thema der Unmöglichkeit des Stillstands auf, wie es sich in den Werken von Charles S. Peirce, Jacques Derrida und Roland Barthes findet.
- Die Unmöglichkeit des Stillstands als zentrales Motiv in Bernhards Gehen
- Die Interaktion von Schrift und Lektüre in der Konstruktion von Bedeutung
- Die Rolle der Iteration und des Exzesses in der Dekonstruktion von Normen
- Die Kritik an der Etikettierung und der Suche nach individueller Differenz
- Die semiotische Analyse von Bernhards Text als kulturelle Semiose
Zusammenfassung der Kapitel
Eingang: Gedankengänge und Karteikarten
Der Text untersucht den Begriff des "Gehens" als ein komplexes und vielschichtiges Konzept, das sowohl körperliche Bewegung als auch geistige Aktivität umfasst. Die Arbeit stellt fest, dass Bernhards Konzept des "Gehens" in den Fußstapfen anderer zu gehen, das Individuum und die Differenz verleugnet. Sie führt das Motiv der "Kehrtwendung" als ein wichtiges Element in Bernhards Werk ein und zeigt, wie das "Gehen" als ein aggressives Herangehen an das Leben, die Krankheit und die Konventionen verstanden werden kann.
Schrift
Dieser Abschnitt konzentriert sich auf die Rolle der Schrift in Bernhards Text und analysiert, wie die schriftliche Form des Romans zur Dekonstruktion von Normen und Bedeutungen beiträgt. Es wird argumentiert, dass die Schrift selbst als ein Instrument der Dekonstruktion fungiert, indem sie die Grenzen zwischen Autor, Leser und Text verwischt.
Lektüre
Dieser Abschnitt erörtert die Bedeutung der Lektüre für die Dekonstruktion von Bernhards Text. Die Arbeit untersucht, wie die Lektüre als ein aktiver Prozess verstanden werden kann, der die Interpretation des Textes ständig neu gestaltet und dekonstruiert.
Iteration I
In diesem Abschnitt wird die Iteration als ein wichtiges Motiv in Bernhards Text untersucht. Die Arbeit analysiert, wie die Wiederholung von Wörtern, Sätzen und Ideen die Bedeutung des Textes untergräbt und gleichzeitig neue Bedeutungen erzeugt.
Exzeß und Etikett(e)
Dieser Abschnitt befasst sich mit den Themen Exzess und Etikett in Bernhards Text. Die Arbeit untersucht, wie der Exzess als ein Mittel der Dekonstruktion verwendet wird, um etablierte Normen und Erwartungen in Frage zu stellen.
Schlüsselwörter
Schlüsselwörter für diese Arbeit sind: Thomas Bernhard, Gehen, Semiotik, Dekonstruktion, Schrift, Lektüre, Iteration, Exzess, Etikett, Kultur, Semiose, Unmöglichkeit des Stillstands, Differenz, Kehrtwendung, Individuum.
- Citation du texte
- Nico Schulte-Ebbert (Auteur), 2007, Spazierengehen, Schreibengehen, Lesengehen. Dekonstruktive Lektüre(n) zu Thomas Bernhards "Gehen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288243