Der demografische Wandel ist für fast alle modernen Industrienationen ein nach wie vor aktuelles Thema. Japan nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, denn es hat die weltweit höchste Lebenserwartung bei einer der niedrigsten Geburtenraten und ist das Land, in dem der demografische Wandel am weitesten fortgeschritten und am schnellsten verlaufen ist.
Kinder unter 15 Jahren nehmen im Jahr 2014 nur noch 15 Prozent der japanischen Gesellschaft ein, während 25 Prozent der Japaner über 65 Jahre alt sind. Da seit 2007 die Anzahl der Geburten jedes Jahr niedriger als die der Toten ist (MHLW 2013:89), wird die japanische Bevölkerung langfristig immer weiter schrumpfen, was erhebliche Probleme für Wirtschaft und Sozialversicherungssystem zur Folge hat.
Japans Geburtenrate sinkt heute trotz eines sehr hohen Lebensstandards. Im Allgemeinen gilt eine offene Migrationspolitik als Lösungsansatz, da sie wirtschaftliche Probleme einfach und schnell abfedern kann. Doch Zuwanderer müssten jung und hochqualifiziert sein, um den Fachkräftemangel sinnvoll ausgleichen zu können, was bei der benötigten Zuwandereranzahl kaum umsetzbar ist. Oft fehlt zudem die Akzeptanz von Einwanderung, weil eine gescheiterte Integration das Sozialversicherungssystem zusätzlich belasten kann.
In der Forschungsliteratur dominiert daher die Meinung, dass nur eine gute Familienpolitik eine langfristig funktionierende Lösung herbeiführen kann, indem sie bei der Kindererziehung und der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben unterstützend wirkt (Klingholz/Vogt 2013:31; Rockmann 2011:33; Suzuki 2012:74-75). Zwar bemüht sich die japanische Regierung bereits seit einigen Jahren, die Familienpolitik stärker auszubauen, doch da sich die Geburtenrate nicht signifikant erholt hat, können die bisherigen Maßnahmen als weitgehend wirkungslos bezeichnet werden.
Diese Arbeit soll sich speziell den familienpolitischen Maßnahmen der aktuellen japanischen Regierung unter Premierminister Abe Shinzō widmen. Dies soll aus der Perspektive japanischer Tageszeitungen geschehen, die einen gesellschaftsnahen Blick auf das Problem des demografischen Wandels ermöglicht. Es soll untersucht werden, wie die Tageszeitungen zu Maßnahmen gegen den demografischen Wandel berichten und ob eine Bewertung, beispielsweise hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Maßnahmen, stattfindet.
Inhaltsverzeichnis
Zur Transkription des Japanischen
1 Einleitung
1. 1 Themenbeschreibung
1. 2 Forschungsstand
1. 3 Forschungsfrage und Hypothesen
1. 4 Methodik
1. 5 Gliederung sowie verwendete Quellen und Literatur
2 Japans demografischer Wandel als gesellschaftliches und politisches Thema
2. 1 Derzeitige Situation, Probleme und Ursachen des Wandels
2. 2 Problembewusstsein und familienpolitische Gegenmaßnahmen von 1990 bis 2012
2. 3 Familienpolitische Gegenmaßnahmen unter Abe Shinzō
3 Die Berichterstattung zu Maßnahmen gegen den demografischen Wandel
3. 1 Yomiuri Shinbun
3. 1. 1 Unterstützung bei der Kindererziehung
3. 1. 2 Vereinbarkeit von Berufs- und (Familien-)Leben
3. 1. 3 Sonstige Themen
3. 2 Asahi Shinbun
3. 2. 1 Unterstützung bei der Kindererziehung
3. 2. 2 Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben
3. 2. 3 Sonstige Themen
4 Auswertung
4. 1 Quantitative Auswertung
4. 2 Qualitative Auswertung
4. 2. 1 Erste Hochphase: Das „Frauennotizbuch“
4. 2. 2 Zweite Hochphase: Die Erweiterung des Erziehungsurlaubs
4. 2. 3 Dritte Hochphase: Die Mehrwertsteuererhöhung
4. 2. 4 Vierte Hochphase: Die Zwischenrufe im Stadtrat von Tokio
4. 3 Zusammenfassung und Gründe für die Themenwahl der Hochphasen
5 Fazit
6 Liste der japanischen Begriffe
7 Quellen- und Literaturverzeichnis
7. 1 Quellen
7. 1. 1 Regierungstexte
7. 1. 2 Zeitungsartikel
7. 2 Sekundärliteratur
7. 2. 1 Printmedien
7.2. 2 Internet
7. 3 Tabellen und Abbildungen
Zur Transkription des Japanischen
Die Übertragung japanischer Begriffe ins lateinische Alphabet erfolgt nach dem modifizierten Hepburn-System. Es werden nur Eigennamen großgeschrieben, wobei Personen-, Orts- und Institutionsnamen in Normalschrift und Werk- und Gesetzestitel kursiv stehen. Alle anderen transkribierten Begriffe werden klein und kursiv geschrieben. Japanische Personennamen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge mit dem Nachnamen an erster Stelle wiedergegeben. Lange Vokale werden durch ein Makron gekennzeichnet; bei Silbengrenzen werden doppelte Vokale allerdings getrennt geschrieben (z. B. chiiki).
Eine Auflistung aller verwendeten japanischen Begriffe (außer Zitate) befindet sich am Ende der Arbeit.
1 Einleitung
1. 1 Themenbeschreibung
Der demografische Wandel ist für fast alle modernen Industrienationen ein nach wie vor aktuel- les Thema. Japan nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, denn es hat die weltweit höchste Le- benserwartung bei einer der niedrigsten Geburtenraten und ist das Land, in dem der demografi- sche Wandel am weitesten fortgeschritten und am schnellsten verlaufen ist (Rockmann 2011:44).
Kinder unter 15 Jahren nehmen im Jahr 2014 nur noch 15 Prozent der japanischen Gesell- schaft ein (Kingston 2014:189), während 25 Prozent der Japaner über 65 Jahre alt sind (National Institute of Population and Social Security Research 2014:1). Da seit 2007 die Anzahl der Ge- burten jedes Jahr niedriger als die der Toten ist (MHLW 2013:89), wird die japanische Bevölke- rung langfristig immer weiter schrumpfen, was erhebliche Probleme für Wirtschaft und Sozial- versicherungssystem zur Folge hat (Rockmann 2011:19-20). Japan gehört seit 1990 zu den soge- nannten very low fertility countries (Atō 2011:151), das heißt, dass seit diesem Jahr konstant weniger als 1,5 Kinder pro Frau geboren werden und sich das Land stärker und schneller als an- dere Länder mit daraus resultierenden ökonomischen und sozialen Problemen konfrontiert sieht (Atō 2011:151).
Zwar gab es immer schon Bevölkerungsveränderungen, doch waren dafür besondere Ereignisse wie Hungersnöte oder Kriege verantwortlich. Japans Geburtenrate sinkt heute trotz eines sehr hohen Lebensstandards (Rockmann 2011:21-22). Im Allgemeinen gilt eine offene Migrationspolitik als Lösungsansatz, da sie wirtschaftliche Probleme einfach und schnell abfedern kann (Rockmann 2011:30). Doch Zuwanderer müssten jung und hochqualifiziert sein, um den Fachkräftemangel sinnvoll ausgleichen zu können, was bei der benötigten Zuwandereranzahl kaum umsetzbar ist (Rockmann 2011:33). Oft fehlt zudem die Akzeptanz von Einwanderung, weil eine gescheiterte Integration das Sozialversicherungssystem zusätzlich belasten kann, wofür Deutschland in Japan als Mahnbeispiel gilt (Rockmann 2011:33-34).
In der Forschungsliteratur dominiert daher die Meinung, dass nur eine gute Familienpolitik eine langfristig funktionierende Lösung herbeiführen kann, indem sie bei der Kindererziehung und der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben unterstützend wirkt (Kling- holz/Vogt 2013:31; Rockmann 2011:33; Suzuki 2012:74-75). Zwar bemüht sich die japanische Regierung bereits seit einigen Jahren, die Familienpolitik stärker auszubauen, doch da sich die Geburtenrate nicht signifikant erholt hat, können die bisherigen Maßnahmen als weitgehend wir- kungslos bezeichnet werden (Atō 2011:159).
Diese Arbeit soll sich speziell den familienpolitischen Maßnahmen der aktuellen japanischen Regierung unter Premierminister Abe Shinzō widmen. Dies soll aus der Perspektive japanischer Tageszeitungen geschehen, die einen gesellschaftsnahen Blick auf das Problem des demografischen Wandels ermöglicht. Es soll untersucht werden, wie die Tageszeitungen zu Maßnahmen gegen den demografischen Wandel berichten und ob eine Bewertung, beispielsweise hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Maßnahmen, stattfindet.
1. 2 Forschungsstand
Sozialwissenschaftliche Arbeiten zum demografischen Wandel in Japan sind zahlreich, wobei die Anzahl der Publikationen und ihre thematische Ausrichtung sich seit den späten 1990er Jahren verändert haben.
Die ersten Arbeiten liegen in englischer Sprache vor. Kobayashi [u. a.] (1969) untersuchen Veränderungen in der japanischen Haushalts- und Familienstruktur aus einer historischen Per- spektive bis zum Jahr 1969. Diese Arbeit bezieht sich auf die Entwicklung zur Kernfamilie und regionale Umstrukturierungen, ohne auf eine eventuell bedenkliche Geburtenrate einzugehen.
Kawashima (1977) beschäftigt sich mit räumlichen Populationsveränderungen. Er geht noch nicht auf Faktoren wie das Alter oder Schrumpfen der Bevölkerung ein, sondern widmet sich ebenfalls Abwanderung und daraus resultierenden regionalen Strukturveränderungen.
Diese ersten Arbeiten sind mit dem Demografie-Diskurs der letzten zehn bis 15 Jahre kaum vergleichbar. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts setzt eine thematische Schwerpunktveränderung ein, indem gesellschaftliche Veränderungen nicht einfach festgestellt, sondern auf ihre Ursachen hin untersucht werden. Bis heute stehen vor allem Überalterung, niedrige Geburtenraten, die Gründe dafür und daraus resultierende Wirtschaftsprobleme im Mittelpunkt der japanbezogenen Demografieforschung.
Traphany (2003) beispielsweise konzentriert sich zwar wie seine Vorgänger auf die Entwick- lung der Familie, jedoch im Hinblick auf die Überalterung der Gesellschaft. Trommsdorff (2007) stellt fest, dass sich die positive Einstellung zu Kindern und die ge- wünschte Kinderzahl seit Jahrzehnten nicht geändert haben, aber dass Kinder in einem so hoch entwickelten Land wie Japan keinen wirtschaftlichen Wert haben und emotionale Bedürfnisse nach ihnen bei wirtschaftlicher Unsicherheit und dem Gefühl des Freiheitsverlustes in den Hin- tergrund rücken. Sie sieht daher die Lösung dieser Hemmnisse durch finanzielle Unterstützung und bessere Betreuungsmöglichkeiten als Ansatzpunkt, um die Geburtenzahlen wieder zu erhö- hen.
Holthus (2011) untersucht auf Grundlage einer 2008 durchgeführten Umfrage neben der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Work-Life Balance) auch die Kinderbetreuung in Japan. Als Kernpunkte ihrer Befragung von 350 japanischen Elternpaaren kristallisieren sich die ungenügende finanzielle Unterstützung, die fehlende Vereinbarkeit von Arbeit und Familie sowie die schlechte Betreuungssituation heraus.
In den letzten Jahren erschienen zudem mehrere Arbeiten zur Familienpolitik, weil hier Lö- sungsansätze für demografisch begründete Probleme vermutet werden. Morita (2012) vergleicht die japanische Familienpolitik mit der chinesischen und dänischen, während Suzuki (2012) einen Vergleich mit Südkorea anstellt. Ikezoe (2014) konzentriert sich auf die Gesetzgebung zur Ver- einbarkeit von Familie und Beruf, die Familiengründungen unterstützen kann. Alle drei Arbeiten kommen zu dem Ergebnis, dass Japans politische Maßnahmen im internationalen Vergleich durchschnittlich gut, aber noch nicht ausreichend sind, um dem demografischen Wandel entge- genzuwirken.
Auch in japanischer Sprache erfolgten zahlreiche Publikationen. Der japanische Demograf Atō (1996, 2000, 2007, 2011) äußert sich seit den 1990er Jahren regelmäßig zu Japans Bevölke- rungssituation und politischen Gegenmaßnahmen - bisher mit durchgehend negativer Bilanz zu deren Wirksamkeit, aber der Überzeugung, dass die Familienpolitik der richtige Ansatzpunkt ist.
Zu dem Ergebnis, dass Japans geburtenfördernde Politik nicht ausreicht, kommt auch Hara (2011), die sich mit der gesetzlichen Verankerung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie deren tatsächlicher Umsetzung auseinandersetzt. Sie beurteilt die japanische Work-Life Balance -Politik als unscharf und weist darauf hin, dass die Verantwortung für die Umsetzung der vorhandenen Gesetze zu stark den Unternehmen überlassen wird.
Kamano (2013) widmet sich der Entwicklung von Einstellungen von Japanern und Japanerinnen zu Ehe und Kindern mit dem Ergebnis, dass in den letzten Jahren eine starke Liberalisierung der klassischen Rollenaufteilung in der Ehe stattgefunden hat, aber der Blick auf die Ehe als gesellschaftliche Institution, in der Kinder geboren werden, noch immer weitgehend konservativ ist. Ihrer Untersuchung zufolge ist ein Kinderwunsch oft vorhanden - das Gefühl, diesen verwirklichen zu können, jedoch nicht.
Kojima (2013) setzt wie die englischsprachigen Arbeiten von Morita und Suzuki bei einem Vergleich familienpolitischer Maßnahmen an und untersucht diese in Japan, Südkorea und Sin- gapur. Zwar ist sein Fazit, dass Japan von diesen drei Ländern die stärksten Unterstützungsmaß- nahmen bietet, doch gleichzeitig bewertet er diese als unzureichend und wenig wirksam.
Auch die japanische Regierung (MHLW 2013; Naikakufu 2014a) setzt sich mit Japans demografischer Situation auseinander und ermittelt durch Befragungen, was jungen Menschen für die Gründung einer Familie wichtig ist. Die Ergebnisse decken sich mit denen der genannten Forschungsarbeiten. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für die meisten jungen Japaner und Japanerinnen bisher unzureichend umsetzbar, aber die wichtigste Voraussetzung, um Kinder gebären und erziehen zu wollen.
Deutschsprachige Arbeiten zu Japans demografischem Wandel sind bisher am wenigsten vorhanden. Bareuther und Frerichs beschäftigen sich 2009 unabhängig voneinander mit wirt- schaftlichen Chancen, die sich aus der Überalterung ergeben und die Negativfolgen zum Teil kompensieren.
Rockmann (2011) dagegen setzt einen politischen Schwerpunkt und thematisiert in seiner Dissertation Japans familienpolitische Maßnahmen gegen den demografischen Wandel im Zeitraum von 1950 bis 2008 im Vergleich zu Deutschland. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese aufgrund einer eher wirtschaftlichen Orientierung keinen spürbaren Erfolg hatten und nennt mögliche Lösungsvorschläge, um Japans Überalterung wirksamer zu bekämpfen.
Der Vergleich mit Deutschland ist für fast alle deutschsprachigen Veröffentlichungen der hauptsächliche Ansatzpunkt, weil Deutschland und Japan sich in ihrer demografischen Entwicklung sehr ähnlich sind. So konzentrieren sich auch Kohlbacher (2010) und Klingholz und Vogt (2013) darauf, inwiefern sich aus Japans Versuchen, die niedrige Geburtenrate wieder anzuheben, Lösungsansätze für Deutschland ableiten lassen. Ihr Ergebnis ist, dass Japans Familienpolitik wenig erfolgreich ist und somit kein Vorbild für Deutschland sein kann.
Folglich begreifen sowohl englisch- als auch japanisch- und deutschsprachige Arbeiten die niedrige Geburtenrate als Aufgabe, die es durch eine Politik zu lösen gilt, die die Geburt und Erziehung von Kindern leicht gestaltet. Bereits vorhandene familienpolitische Maßnahmen wer- den aber kritisch gesehen, weil deren Unwirksamkeit durch die gleichbleibend niedrige Gebur- tenrate erwiesen scheint. Es herrscht Konsens darüber, dass die Familienpolitik stärker ausgebaut werden müsste, um der bisherigen Bevölkerungsentwicklung langfristig entgegenwirken zu kön- nen.
Der wissenschaftliche Diskurs über strukturelle Veränderungen der japanischen Bevölkerung und politische Gegenmaßnahmen ist also ausgeprägt, während die Sicht der japanischen Öffentlichkeit darauf - abgesehen von Einstellungsumfragen, die einigen Untersuchungen zugrunde liegen - bisher nicht beachtet wurde.
Ebenfalls gemeinsam ist allen erwähnten Arbeiten, dass sie nur auf frühere familienpolitische Maßnahmen Bezug nehmen. Auch neuere Publikationen (z. B. Kamano 2013; Ikezoe 2014) stüt- zen sich auf Quellen bis zum Jahr 2012, wodurch aktuelle Ansätze unerwähnt und unbewertet bleiben und aus Primärquellen erschlossen werden müssen. Dies hängt vermutlich damit zu- sammen, dass sich die neue Regierung unter Abe Shinzō erst Ende 2012 gebildet hat und eine Bewertung der von ihr initiierten familienpolitischen Maßnahmen aus wissenschaftlicher Sicht nach so kurzer Zeit nicht sinnvoll erscheint. Bezüglich Abes Wirtschaftspolitik („Abenomics“) gab es derartige Bewertungsversuche allerdings bereits (z. B. Katz 2014) - möglicherweise, weil Wirtschaftsprobleme unmittelbar spürbar sind und leichter lösbar erscheinen als der demografi- sche Wandel, der zum Teil ihre Ursache ist.
Beim fehlenden Bezug zur Öffentlichkeit und der bisher nicht erfolgten Maßnahmenbewer- tung setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie die Berichterstattung und somit die Einstellung japanischer Tageszeitungen zu aktuellen familienpolitischen Gegenmaßnahmen untersucht. Die- ser Ausgangspunkt ermöglicht zwar noch keine gesicherte Aussage über die Wirksamkeit der Maßnahmen, aber zumindest einen Eindruck darüber, ob sie von der Gesellschaft positiv aufge- nommen werden und somit die Chance besteht, dass sie einen anhaltenden Anstieg der Gebur- tenrate bewirken könnten.
1. 3 Forschungsfrage und Hypothesen
Diese Arbeit widmet sich der medialen Sicht auf die japanische Familienpolitik, die den Anstieg der Geburtenrate zum Ziel hat. Wie wird in den Online-Ausgaben der Asahi Shinbun und Yomi uri Shinbun über die familienpolitischen Maßnahmen der Regierung Abe gegen Japans sinkende Geburtenrate berichtet?
Ausgehend von der Forschungsliteratur soll zur Beantwortung dieser Leitfrage auf folgende Hypothesen eingegangen werden:
A Die Berichterstattung durch die Journalisten erfolgt bei beiden Tageszeitungen neutral und ohne Bewertung der Nachrichteninhalte. Externe Kritiker zeigen, dass die für den japani- schen Journalismus als typisch festgestellte „Trennung von Nachricht und Meinung“ (Muzik 1996:206) in den zu untersuchenden Tageszeitungen noch heute gültig ist.
B Aufgrund der aufklärerisch-gesellschaftsnahen Ausrichtung wird familienpolitis chen Maß- nahmen gegen den Geburtenrückgang als Nachrichtenthema von der Asahi Shinbun mehr Bedeutung beigemessen als von der konservativ-wirtschaftlich ausgerichteten Yomiuri Shin- bun.
1. 4 Methodik
Die Leitfrage soll durch die medienwissenschaftliche Methode der Aussagenanalyse beantwortet werden. Die „Aussagenanalyse untersucht die inhaltlichen Aspekte, den Stil und die Gestaltung der Informationen, die durch Massenmedien übermittelt werden [...]“ (Salm 1991:108). Ihr Ziel ist die Ermittlung von Gründen für eine bestimmte Themenwahl oder Art der Berichterstattung durch quantitative und qualitative Verfahren. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit von Abes Amtsantritt als japanischer Premierminister bis einschließlich August 2014.
Durch eine quantitative Analyse soll ermittelt werden, wie viele Artikel in diesem Zeitraum zu familienpolitischen Maßnahmen gegen die sinkende Geburtenrate in den Online-Ausgaben der Yomiuri Shinbun und Asahi Shinbun verfasst wurden und wie viele sich jeweils thematisch und wertungsbezogen gruppieren lassen. So ist feststellbar, wie groß das Interesse an Familienpolitik im Untersuchungszeitraum war und auf welche Aspekte besonders geachtet wurde. Ob die politischen Maßnahmen in irgendeiner Form bewertet wurden und eine mögliche Bewertung eher positiv oder negativ ist, soll vor allem anhand wertender Nomen und Adjektive, doch auch durch die Zitatauswahl der Autoren erschlossen werden.
Um in einem zweiten Schritt zu ermitteln, warum ein bestimmtes Thema zu einer Berichterstattungshochphase führte, soll eine qualitative Analyse durchgeführt werden. Diese ermöglicht durch die Betrachtung der Artikelinhalte der Hochphasen die Ermittlung gesellschaftlicher Bezugsgrößen, die im Hinblick auf die Forschungsliteratur oder das politische Umfeld als Anlass für das Verfassen eines Zeitungsartikels infrage kommen. Es soll festgestellt werden, ob beispielsweise die Ankündigung eines Gesetzes der Grund dafür war, dass die Familienpolitik zum Artikelthema wurde oder ob es dafür andere Ursachen gab.
Die Auswahl der Artikel erfolgt innerhalb des Untersuchungszeitraumes auf den Webseiten der zu untersuchenden Tageszeitungen über den Suchbegriff sh ō shika taisaku (Maßnahmen ge- gen die sinkende Geburtenrate), der in Japan seit 1999 als Sammelbegriff für alle den Anstieg der Geburtenrate bezweckenden familienpolitischen Maßnahmen verwendet wird (Atō 2011:154). Innerhalb der nach diesem Suchbegriff zusammengetragenen Artikel wird be- sonderes Augenmerk auf die Unterstützung bei der Kindererziehung (kosodate shien) und die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben (Work-Life Balance / w ku ࣭ raifu baransu) gelegt, weil diese Punkte Umfragen zufolge die Hauptkriterien bei der Entscheidung für oder gegen Kinder sind (Holthus 2011:225; Naikakufu 2014a).
Die Online-Ausgaben der zwei größten japanischen Tageszeitungen wurden gewählt, weil sie ein größeres Informationsspektrum bieten als die begrenzten Print-Ausgaben (Becker 2013:143) und in ihnen neben ausführlich recherchierten Artikeln auch kurze Meldungen und Lesermeinungen veröffentlicht werden (Becker 2013:159-160). Es sollen zwei Zeitungen untersucht werden, um einen breiter gefächerten Überblick zur öffentlichen Sicht auf Maßnahmen gegen den demografischen Wandel zu gewinnen. Die Yomiuri Shinbun soll als größte Zeitung der Welt im Untersuchungszeitraum ganzheitlich analysiert werden, während die Asahi Shinbun als Vergleichsgröße hinzugezogen wird. Das heißt, dass ausgehend von der Yomiuri Shinbun Artikel aus der Asahi Shinbun gewählt werden, die denen der Yomiuri Shinbun thematisch ähneln oder etwa im selben Zeitraum veröffentlicht wurden wie diese. Durch diese Vorgehensweise lassen sich eventuelle Berichterstattungsunterschiede deutlicher herausarbeiten.
Die durchgeführte Zeitungsanalyse soll so die gesellschaftsnahe Sicht der japanischen Presse auf das Problem der sinkenden Geburtenrate aufzeigen, das bisher nur aus einem statistischen und sozialwissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet wurde.
1. 5 Gliederung sowie verwendete Quellen und Literatur
Vor der Durchführung der Zeitungsanalyse wird sich diese Arbeit den Grundlagen widmen. Der erste Abschnitt (Kapitel 2. 1) soll Japans momentane demografische Situation darlegen. Es wird erläutert, welche Probleme durch die niedrige Geburtenrate entstehen und welche Hemmnisse junge Japaner und Japanerinnen daran hindern, mehr Kinder zu bekommen.
Der zweite Abschnitt (Kapitel 2. 2) soll daran anknüpfen, indem er einen Überblick über bis- herige familienpolitische Versuche gibt, die die herausgearbeiteten Hemmnisse abbauen sollten. Beginnen wird diese Darstellung im Jahr 1990. Die Veröffentlichung der Bevölkerungsstatistik von 1989 mit einer Geburtenrate von nur 1,57 Kindern pro Frau verursachte in diesem Jahr den sogenannten „1,57-Schock“, der dazu führte, dass die japanische Regierung begann, demografi- sche Veränderungen als problematisch zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzu- leiten (Rockmann 2011:182). Dieses einführende Kapitel soll mit einer Darlegung aktueller fa- milienpolitischer Maßnahmen unter Premierminister Abe (Kapitel 2. 3) abschließen und damit zur Analyse der Zeitungsartikel im dritten Teil der Arbeit überleiten.
Hier soll der Blick der Tageszeitungen auf diese Maßnahmen untersucht werden (Kapitel 3). Es erfolgt nochmals eine Gliederung; einerseits nach den beiden Tageszeitungen und andererseits nach zwei thematischen Aspekten innerhalb des Leitbegriffes sh ō shika taisaku - zum einen die Unterstützung bei der Kindererziehung (kosodate shien), die sowohl die finanzielle Unterstüt- zung als auch außerfamiliäre Kinderbetreuung einschließt, und zum anderen die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben (Work-Life Balance / w ku ࣭ raifu baransu). Grundlage dieser Abschnittsgliederung bilden die eingangs erwähnte Umfrage von Barbara Holthus (2011:225) sowie eine von der japanischen Regierung durchgeführte Befragung von 3000 Japanern und Ja- panerinnen zwischen 20 und 79 Jahren (Naikakufu 2014a). In beiden Untersuchungen zeigten sich die geringe finanzielle Unterstützung von Familien, die fehlende Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben und die schlechte Betreuungssituation als Hauptgründe für die Entscheidung gegen Kinder, bei denen familienpolitische Maßnahmen gegen die sinkende Geburtenrate anset- zen sollten.
Die Analyse wird im darauf folgenden Abschnitt quantitativ (Kapitel 4. 1) und qualitativ (Kapitel 4. 2) ausgewertet. Es sollen besonders intensive Berichterstattungsphasen abgegrenzt und im Anschluss Gründe dafür dargelegt werden (Kapitel 4. 3), um im abschließenden Fazit die Leitfrage zu beantworten und die aufgestellten Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen.
Die Literaturauswahl erfolgt nach dem Gesichtspunkt der Aktualität; es werden nach Möglichkeit in erster Linie Arbeiten der letzten drei Jahre als Grundlage der Erläuterungen verwendet, um möglichst aktuelle Informationen über Japans Bevölkerungssituation zu erhalten.
Neben wissenschaftlicher Fachliteratur werden Primärquellen der japanischen Regierung in die Untersuchung einbezogen (Überblicke über Gesetze und Pläne, Umfragen). Dies ist einer- seits notwendig, da aktuelle politische Maßnahmen in der Forschungsliteratur noch nicht verar- beitet wurden, und bietet andererseits den Vorteil unverfälschter Informationsgewinnung.
Grundlage für die Zeitungsanalyse bilden die auf den Internetseiten der zu untersuchenden Tageszeitungen veröffentlichten Artikel, die familienpolitische Maßnahmen thematisieren. Diese Literaturkombination führt zu einem differenzierten Gesamtbild über politische Pläne, deren Umsetzung und vor allem die öffentliche Sicht darauf.
2 Japans demografischer Wandel als gesellschaftliches und politisches Thema
2. 1 Derzeitige Situation, Probleme und Ursachen des Wandels
Wie zu Beginn erwähnt, befindet sich Japan in einer prekären demografischen Situation, die in Japan als sh ō shika-kiki (Krise der sinkenden Geburtenrate) bezeichnet wird (Naikakufu 2014a:1). Schon jetzt besteht die japanische Gesellschaft aus fast doppelt so vielen Menschen über 65 Jahren wie Menschen unter 15 Jahren. Abbildung 1 zeigt, dass diese Entwicklung sich bereits seit vielen Jahren abzeichnet und eine gegenteilige Tendenz nicht absehbar ist.
Abbildung 1: Bevölkerung nach Altersgruppen (in Millionen Menschen)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Portal Site of Official Statistics of Japan 2011)
Um die derzeitige Bevölkerungsgröße zu erhalten, müssten pro Frau 2,07 Kinder geboren wer- den (Kingston 2014:190). Dass dieser Wert kurzfristig kaum zu erwarten ist und die japanische Bevölkerung sich somit in einem Schrumpfprozess befindet, wird aus Tabelle 1 ersichtlich.
Tabelle 1: Bevölkerungsstatistik 1950 bis 2012
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Statistics Bureau 2013)
Bei einer seit 1950 stetig gestiegenen Lebenserwartung ist die Geburtenrate fast durchgehend gesunken und nun bereits seit den 1990er Jahren auf einem sehr niedrigen Level von weniger als 1,5 Kindern pro Frau. Zwar ist sie seit dem Tiefpunkt im Jahr 2005 wieder leicht gestiegen, doch Japan muss noch immer als very low fertility country (Atō 2011:153) eingeordnet werden. Von einer Erholung kann längst nicht gesprochen werden und der Zeitraum ist zu kurz, um beurteilen zu können, ob sich die Tendenz zum Anstieg halten wird (Naikakufu 2014a:1).
Diese Situation hat weitreichende Folgen. Vor allem resultieren daraus wirtschaftliche Prob- leme. Die Zahl der Fachkräfte sinkt ebenso wie die der Konsumenten (Kingston 2014:191). Noch bilden die Babyboomer der Nachkriegsjahre eine große Konsumentengruppe, doch ihnen folgen geburtenschwächere Jahrgänge (Kohlbacher 2010:6). Auch das Fachkräftedefizit kann momentan größtenteils noch durch ältere Menschen ausgeglichen werden, doch dies ist nur ein zahlenmäßiger Ausgleich, denn ihre Innovationskraft ist vor allem im Technik- und IT-Sektor nicht mit der von jungen Arbeitern vergleichbar, auch wenn ihre Erfahrung geschätzt wird (Klingholz/Vogt 2013:25). Zudem werden Frauen und ältere Menschen noch immer zu wenig am Arbeitsmarkt beteiligt, um das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung zu kompensieren (Kohlbacher 2010:2). Vor allem im medizinischen Bereich entsteht ein erheblicher Arbeitskräftemangel, weil sich immer weniger junge Menschen um immer mehr alte kümmern müssen (Trommsdorff 2007:246). Wie schon erwähnt, ist Arbeitsmigration keine langfristige Lösung für Japans Fachkräftemangel.
Durch die sinkende Anzahl an Konsumenten sinken auch die Steuereinnahmen für den Staat, dessen Sozialversicherungsausgaben durch die vielen alten Menschen stetig steigen (Klingholz/Vogt 2013:5). Eine wirkliche Lösung für die genannten Probleme kann nur im Anheben von Japans Geburtenrate liegen.
Zunächst ist festzuhalten, dass ein Kinderwunsch bei fast allen jungen Japanern und Japane- rinnen vorhanden ist. Im Jahr 2013 führte das Kabinettsbüro eine Befragung unter 3000 Perso- nen verschiedener Altersstufen zu ihrer Einstellung gegenüber der Familie durch. 96 Prozent der Befragten hielten sie für die wichtigste zwischenmenschliche Bezugsgröße (Naikakufu 2014a:4). Junge Japaner und Japanerinnen wünschen sich durchschnittlich zwei Kinder. Paare, die keine Kinder wollen, bilden eine Minderheit (Rockmann 2011:106; MHLW 2013:95; Naikakufu 2014a:1). 32,6 Prozent der Männer und 38,6 Prozent der Frauen sehen das Gebären und Aufzie- hen von Kindern sogar als eigentlichen Sinn einer Familie (Naikakufu 2014a:6).
Warum aber werden bei einem durchaus vorhandenen Kinderwunsch immer weniger Kinder geboren? Ein Erklärungsansatz liegt in der Rolle von Frauen in der japanischen Gesellschaft. Im traditionellen Familienbild ist die Ehefrau für die Kindererziehung und den Haushalt verantwort- lich, während ihr Ehemann arbeitet und die Familie versorgt (otto wa shigoto, tsuma wa katei) (Kamano 2013:31). Neben der Pflege der Kinder ist die Frau auch für die Pflege älterer Famili- enmitglieder zuständig und somit einer ständigen Doppelbelastung ausgesetzt. Um wenigstens einem Teil dieser Belastung zu entgehen, entscheiden sich viele Frauen gegen Kinder. Die tradi- tionellen Familienwerte stehen in Konkurrenz zum modernen Drang nach Selbstverwirklichung. Viele Frauen versuchen, sich zumindest durch die Entscheidung gegen Kinder zu individualisie- ren (Trommsdorff 2007:15; Kingston 2014:190).
Ein weiterer Punkt ist der Wunsch vieler Frauen, zu arbeiten, beziehungsweise die Weige- rung, ihre Arbeit für Kinder zurückzustellen. Eine Arbeitsunterbrechung bedeutet für Frauen einen Karriereeinschnitt. Wenn sie nach der Geburt in den Job zurückkehren, müssen sie oft eine schlechtere Position und Bezahlung als vor der Geburt in Kauf nehmen (Kingston 2014:191). Da Frauen heute einen hohen Bildungsstand haben und viel Zeit in hohe Abschlüsse investieren, streben sie dazu passende gehobene Positionen an. Um diese zu erreichen und zu halten, wird der Kinderwunsch häufig zurückgestellt oder verschoben (Rockmann 2011:158-159).
Arbeitsbezogene Kinderwunschhemnisse sind allerdings nicht allein das Problem von Frauen. Männer werden von ihren Arbeitgebern häufig in andere Städte versetzt. Hinzu kommen lange Arbeitszeiten und oft unbezahlte Überstunden (Atō 2011:170). Eine solche Arbeitsumgebung macht es Männern schwer, sich an Haushalt und Familie zu beteiligen, auch wenn die Umfrage des Kabinettsbüros zeigt, dass viele Männer genau das befürworten (Naikakufu 2014a:12-13).
Um Berufstätigkeit trotz Kindern zu ermöglichen, ist die Kinderbetreuung ein wichtiger Faktor.
Allerdings ist die Betreuungssituation in Japan sehr schlecht. Zwar gibt es entsprechende Einrichtungen, doch die Plätze sind sehr begrenzt und die Wartelisten überfüllt, was ihre Nutzung in der Praxis erschwert (Kingston 2014:190). Hierbei spielen außerdem kulturelle Muster und Denkweisen eine wichtige Rolle. In Japan existiert die Erziehungsweisheit, dass Kinder bis zum dritten Lebensjahr einen besonders engen Kontakt zur Mutter benötigen und diese die Betreuung nur an andere Personen abgeben sollte, wenn es unbedingt notwendig ist (beispielsweise, wenn sie zum Erhalt der Familie arbeiten muss) (Holthus 2011:206). Die Haltung gegenüber arbeitenden Müttern ist in der japanischen Gesellschaft dementsprechend eher negativ (Trommsdorff 2007:252). Dafür, dass Frauen sich meist zwischen Arbeit und Kindern entscheiden müssen, sind somit auch gesellschaftliche Zwänge verantwortlich.
Individualisierungswünsche sind oft auch dafür verantwortlich, dass junge Menschen immer später heiraten. Mehr als 50 Prozent der von der Regierung befragten jungen Japaner und Japa- nerinnen gaben an, ihre Freiheit nicht für eine Ehe opfern zu wollen (Naikakufu 2014a:9). Vor allem für Frauen bedeutet eine Hochzeit häufig, ihre Arbeit und somit ihre Unabhängigkeit auf- geben zu müssen (Klingholz/Vogt 2013:21). Die Ehe ist in Japan eine noch sehr tief verankerte gesellschaftliche Institution und gilt als wahrer Übergang in das Erwachsensein und Grundlage für die Gründung einer eigenen Familie, weshalb die Geburt von Kindern fest mit ihr verbunden ist (Rockmann 2011:108-109). Nur ein Prozent der Kinder in Japan wird unehelich geboren (Klingholz/Vogt 2013:21). Dieses konservative Eheverständnis ist also ein Faktor, der zu einer niedrigen Geburtenrate beiträgt. In Ländern mit einer weniger starken Heiratsinstitution ist die Geburtenrate oft höher als in Japan (Suzuki 2012:60). Das eigentliche Problem ist also nicht die spätere Heirat, sondern, dass die Heirat überhaupt Voraussetzung dafür ist, Kinder zu bekommen. Je älter eine Frau jedoch bei der Eheschließung ist, desto weniger Kinder bekommt sie (MHLW 2013:103). Das Hauptalter der Frauen bei der Erstgeburt liegt heute zwischen 30 und 39 Jahren (Holthus 2011:205). Weil Frauen über 40 nur selten Kinder bekommen, wird bei einer späten Heirat und einem hohen Alter bei der Erstgeburt die Geburt eines zweiten Kindes un- wahrscheinlich (Rockmann 2011:104). Ab dem 30. Lebensjahr nimmt zudem die Fruchtbarkeit ab, während sich medizinische Risiken für Mutter und Kind ab 35 Jahren mehren, wodurch eine späte Schwangerschaft häufig zu Fehlgeburten führt (MHLW 2013:106). Nicht alle Frauen sind sich dieser Risiken bewusst, weshalb sie einen eventuellen Kinderwunsch sorglos auf später ver- schieben. Anderen ist der Zusammenhang von Alter und eventuellen Schwangerschaftsrisiken zwar klar, allerdings nicht Grund genug, sich früher für Kinder zu entscheiden (MHLW 2013:107). Einerseits sind junge Frauen davon überzeugt, später immer noch Kinder bekommen zu können, aber andererseits sind gesundheitliche Probleme für Frauen ab 35 wiede- rum ein Grund dafür, sich gegen Kinder zu entscheiden (MHLW 2013:98), wodurch viele im Endeffekt kinderlos bleiben.
Auch wirtschaftliche Bedenken junger Menschen spielen eine wichtige Rolle. Das ja durchaus vorhandene emotionale Bedürfnis nach Kindern ist oft nach der Geburt eines Kindes gestillt. In Entwicklungsländern besteht neben dem emotionalen Wunsch die ökonomische Notwendigkeit, viele Kinder als Arbeits- und Pflegekräfte zu haben. In einem so hoch entwickelten Land wie Japan stellen sie jedoch ökonomisch gesehen eine Last dar, denn ihre Erziehung erfordert hohen finanziellen und persönlichen Aufwand (Trommsdorff 2007:254). Viele junge Menschen zögern mit der Gründung einer Familie, wenn die Wirtschaftslage oder ihre Arbeitssituation ihren hohen Lebensansprüchen nicht genügt (Suzuki 2012:65).
Das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (MHLW 2013:122) hält eine Einkommenssteigerung für notwendig, um wirtschaftliche Stabilität zu schaffen und die Finanzierung von Kindern zu erleichtern. Die letzten Jahre zeigen jedoch eine entgegengesetzte Entwicklung; unter Premierminister Abe sind die Löhne im Durchschnitt um zwei Prozent gesunken (Katz 2014:133). Die Zahl an irregulär Beschäftigten (Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte, Gelegenheitsjobber) nimmt ständig zu, die an regulär Beschäftigten (Festangstellte in Vollzeit) dagegen ab (Naikakufu 2013b:50). Inzwischen sind 17 Prozent der japanischen Männer zwischen 25 und 34 Jahren in einem irregulären Beschäftigungsverhältnis und erhalten durchschnittlich ein Drittel weniger Gehalt als Festangestellte (Katz 2014:133). Viele Unternehmen ziehen Zeitarbeiter regulär Angestellten vor, da die niedrigeren Löhne für sie eine Kostenersparnis bedeuten. Für Betroffene beginnt damit ein Teufelskreis: Je länger ein Arbeiter irregulär beschäftigt wird, desto geringer sind seine Chancen, jemals fest angestellt, befördert und besser bezahlt zu werden (Katz 2014:134). Diese wirtschaftliche Unsicherheit wirkt sich natürlich negativ auf die Familienplanung aus. Während 70 Prozent der regulär beschäftigten Männer zwischen 30 und 39 Jahren verheiratet sind, sind es nur 25 Prozent der irregulär Beschäftigten im selben Alter (Katz 2014:133). Dass junge Männer wegen ihrer instabilen finanziellen Situation nicht heiraten, wirkt sich in einer Gesellschaft, in der es ohne Ehe kaum Kinder gibt, zwangsläufig negativ auf die Geburtenrate aus. Doch selbst ein festes Arbeitsver- hältnis ist nicht zwingend mit wirtschaftlicher Sicherheit gleichzusetzen. Es sind nicht nur die langen Arbeitszeiten, sondern auch die niedrigen Löhne, die ein Hemmnis für potenzielle Eltern darstellen. In Japan zählt bei der Bezahlung das Dienstalter und nicht die Leistung, was bedeutet, dass junge Menschen im Allgemeinen weniger verdienen als ältere (Suzuki 2012:65). Die Fertilitätskraft geht aber in erster Linie von jungen Menschen aus, die sich wegen einer unsicheren oder nicht zufriedenstellenden finanziellen Lage gegen Kinder entscheiden.
Das Zusammenspiel von wirtschaftlicher Unbeständigkeit und vielerlei persönlichen Ängsten - vor allem vonseiten der Japanerinnen - ist also der Grund dafür, dass ein vorhandener Kinderwunsch oft zurückgestellt wird.
Die relativ hohe Geburtenrate in skandinavischen Ländern und Frankreich zeigt, dass eine gute Familienpolitik langfristig positiv wirken kann. Doch dafür muss sie potenziellen Eltern das Gefühl geben, wirklich unterstützt zu werden, worin Japan zumindest bis 2012 nicht erfolgreich war (Suzuki 2012:74). Bisherige Lösungsversuche fasst das folgende Kapitel zusammen.
2. 2 Problembewusstsein und familienpolitische Gegenmaßnahmen von 1990 bis 2012
Vor der Darlegung der familienpolitischen Maßnahmen der japanischen Regierung sei kurz er- läutert, was darunter zu verstehen ist. Die Familienpolitik vereint Teile der Sozial- und Bevölke- rungspolitik. Sie ist ein Teil der Sozialpolitik, weil sie sich dem Wohlergehen der Bevölkerung, speziell der Familie, widmet. Gleichzeitig ist sie ein Teil der Bevölkerungspolitik, weil sie pronatalistisch wirken soll (Atō 2011:152). Unter pronatalistischer Politik versteht man „Bemü- hungen oder konkrete Maßnahmen [...], die darauf ausgerichtet sind, das Fertilitätsniveau eines Staates [...] zu erhöhen“ (Rockmann 2011:35). Familienpolitik ist insoweit pronatalistisch und damit bevölkerungspolitisch, als sie versucht, die Geburtenrate zu beeinflussen. Dabei achtet sie jedoch die Menschenrechte, indem sie auf restriktive bevölkerungspolitische Methoden, wie zum Beispiel ein Verbot von Abtreibungen, verzichtet (Atō 2011:152). Pronatalistische Familienpoli- tik kann verschiedene Maßnahmen umfassen: Kindergeld, Steuervorteile für Familien, Ausbau der Kinderbetreuung, leichtere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Schaffung eines positiven Images von Familien in der Gesellschaft (Rockmann 2011:38-40).
Ein abnehmender Trend in Japans Geburtenrate ist bereits seit den 1920er Jahren zu beobachten, wenn auch mit kurzen Erholungsphasen, zum Beispiel während des Zweiten Weltkrieges, als die „Mutterschaft im Interesse des Krieg führenden Staates“ (kokkateki bosei) propagiert wurde (Rockmann 2011:99). Trotzdem wurde diese Tendenz lange nicht beachtet; stattdessen herrschte durch den Platzmangel und Babyboom der Nachkriegsjahre eine allgemeine Angst vor Überbevölkerung (Klingholz/Vogt 2013:6).
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- Arbeit zitieren
- Franziska Riedel (Autor:in), 2014, Familienpolitische Maßnahmen gegen den demografischen Wandel unter der Regierung Abe im Spiegel japanischer Tageszeitungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286952
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