Einleitung
Kaum ein Begriff wird in Medizin und Pflege häufiger benutzt als Ganzheitlichkeit. Es entspricht dem Zeitgeist, ganzheitlich zu denken und zu arbeiten. Darüber hinaus gibt es viele ganzheitlich klassifizierte Gesundheitsangebote. Das Thema Ganzheitlichkeit ist im wissenschaftlichen Kontext, wie auch im pseudo-wissenschaftlichen und esoterischen Kontext populär. Sei es wenn Mediziner wie Helmut Milz (vgl. ebd., 1985) den Beginn einer ganzheitlichen Medizin postulieren, wenn die Pflegewissenschaftlerinnen Patricia Benner und Judith Wrubel über den Sorgebegriff bei Heidegger die Natur der Pflegenden bestimmen (vgl. ebd., 1997) oder wenn in einem Standardwerk der Krankenpflegeausbildung die Ganzheit des Menschen als Tatsache dargestellt wird (vgl. Juchli, 1991, 26ff), in vielfältiger Form wird der Begriff Ganzheitlichkeit genutzt. Woher kommt diese Popularität des Konzeptes Ganzheitlichkeit? Unsere Lebensumstände sind alles andere als ganzheitlich. Unser Leben ist geprägt durch Arbeitsteilung, die Aufspaltung des Lebens in Teilbereiche, durch die Einnahme unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Rollen und Funktionen und die Veränderung und der Verlust von Bindungen und Werten (vgl. Bischoff, 1994, 37). Die Naturwissenschaften fordern immer stärker eine Abkehr des kausalanalytischen Denkens und die Hinwendung zu vernetztem, ganzheitlichem Denken und Handeln. Dies hat Auswirkungen auf die Medizin und die mit ihr in einen starken Zusammenhang stehende Pflege. Woher kommt diese Hinwendung zur Ganzheitlichkeit? In Publikationen findet sich eine unüberschaubare Anzahl von Veröffentlichungen, die sich mit ganzheitlichen Gedanken und Ideen auseinandersetzen. Doch da der Begriff nicht klar gefasst ist, ist der Ganzheitsbegriff „exakt das, was ein Autor sich darunter vorstellt“ (Niehoff / Schrader, 1989, 22). Welche philosophischen Ursprünge haben die verschiedenen ganzheitlichen Ideen? Was kann man darunter verstehen und was ist seine Bedeutung und sein Zweck?
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Inhalt
1. Einleitung
2. Methoden
3. Krise der Wissenschaften
4. Krise der Medizin
4.1 Verlust von individuellen Sinn
4.2 Ethische Dilemma
4.3 Vernachlässigung von Prävention
4.4 Grenzen durch Ökonomisierung
5. Krise der Pflegewissenschaft
6. Ganzheitlichkeit
Historischer Exkurs
Exkurs Soziologie und Politische Philosophie
6.1 Philosophisches Modell Holismus
6.2 Harmoniemodelle
6.3 New Age
6.4 Naturheilverfahren
6.5 Anthropologische Medizin
7. Ganzheitlichkeit als Ideologie? Eine kritische Analyse der Realität
8. Zusammenfassung
9. Fazit / Ausblick
10. Literatur
Einleitung
Kaum ein Begriff wird in Medizin und Pflege häufiger benutzt als Ganzheitlichkeit. Es entspricht dem Zeitgeist, ganzheitlich zu denken und zu arbeiten. Darüber hinaus gibt es viele ganzheitlich klassifizierte Gesundheitsangebote. Das Thema Ganzheitlichkeit ist im wissenschaftlichen Kontext, wie auch im pseudo-wissenschaftlichen und esoterischen Kontext populär. Sei es wenn Mediziner wie Helmut Milz (vgl. ebd., 1985) den Beginn einer ganzheitlichen Medizin postulieren, wenn die Pflegewissenschaftlerinnen Patricia Benner und Judith Wrubel über den Sorgebegriff bei Heidegger die Natur der Pflegenden bestimmen (vgl. ebd., 1997) oder wenn in einem Standardwerk der Krankenpflegeausbildung die Ganzheit des Menschen als Tatsache dargestellt wird (vgl. Juchli, 1991, 26ff), in vielfältiger Form wird der Begriff Ganzheitlichkeit genutzt. Woher kommt diese Popularität des Konzeptes Ganzheitlichkeit? Unsere Lebensumstände sind alles andere als ganzheitlich. Unser Leben ist geprägt durch Arbeitsteilung, die Aufspaltung des Lebens in Teilbereiche, durch die Einnahme unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Rollen und Funktionen und die Veränderung und der Verlust von Bindungen und Werten (vgl. Bischoff, 1994, 37).
Die Naturwissenschaften fordern immer stärker eine Abkehr des kausalanalytischen Denkens und die Hinwendung zu vernetztem, ganzheitlichem Denken und Handeln. Dies hat Auswirkungen auf die Medizin und die mit ihr in einen starken Zusammenhang stehende Pflege. Woher kommt diese Hinwendung zur Ganzheitlichkeit? In Publikationen findet sich eine unüberschaubare Anzahl von Veröffentlichungen, die sich mit ganzheitlichen Gedanken und Ideen auseinandersetzen. Doch da der Begriff nicht klar gefasst ist, ist der Ganzheitsbegriff „exakt das, was ein Autor sich darunter vorstellt“ (Niehoff / Schrader, 1989, 22). Welche philosophischen Ursprünge haben die verschiedenen ganzheitlichen Ideen? Was kann man darunter verstehen und was ist seine Bedeutung und sein Zweck?
Die Hauptthese dieser Diplomarbeit ist, dass es sich bei ganzheitlichen Ideen weniger um konkrete Handlungsanweisungen handelt, sondern mehr um Visionen, Ideale, einem „Bedürfnis nach einer neuen , Übersichtlichkeit’“ (Kühn, 1989, 112) bzw. um ideologischen Denkweisen. Sie somit einen Zweck erfüllt - als Ideologie.
Die vorliegende Arbeit soll die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zwischen den mit Ganzheitlichkeit verbundenen Ideen darstellen. Dies im Sinne eines Versuchs, alle Aspekte und Bereiche des menschlichen Lebens zu berücksichtigen. Hier sollen vor allem die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der ganzheitlichen Konzepte herausgestellt und ideologiekritisch analysiert werden.
So populär, wie der Begriff Ganzheitlichkeit ist, so unscharf bleibt das wissenschaftstheoretische Konzept. Dieser Unschärfe und den Gründen für die Popularität wird im Folgenden anhand von drei Thesen nachgegangen:
1. die Wissenschaften allgemein und die Naturwissenschaften speziell sind derzeit in einer Krise,
2. als Reaktion auf die Krise werden ganzheitliche Ideen populär und
3. diese ganzheitlichen Ideen sind nicht wertfrei, sondern sind eine Ideologie.
Der ersten These wird in den Kapiteln drei bis fünf nachgegangen, wobei zuerst die Wissenschaften allgemein betrachtet werden und sich von da aus mit der Medizin und der Pflegewissenschaft beschäftigt wird. Mit Ganzheitlichkeit und der damit zusammenhängenden zweiten These beschäftige sich das sechste Kapitel, während die dritte These im Mittelpunkt des siebten Kapitels steht. Nach eine kurzen Zusammenfassung ist das neunte Kapitel der Versuch ein Fazit zu ziehen. In diesem Fazit geht es auch um eine Perspektive, wohin sich ganzheitliche Theorien entwickeln können. Außerdem werden hier die Aspekte besprochen, die nicht bearbeitet wurden, da sie den Rahmen der Arbeit gesprengt hätten, wo sich aber eine weitere Forschung lohnen würde.
2. Methoden
Diese Diplomarbeit ist eine theoretische; methodisch wurde mit einer Literaturrecherche und -auswertung gearbeitet. In der Recherche zu der Fragestellung wurde bereits frühzeitig deutlich, dass der Begriff der Ganzheitlichkeit breit gefächert und von den unterschiedlichsten Konzepten besetzt wird. Um diese verschiedenen ganzheitlichen Konzepte hinsichtlich ihrer Praxisrelevanz analysieren zu können, bedarf es einer Klärung der ihnen zugrunde liegenden theoretischen Grundlagen. Um dies zu erreichen konnte das Mittel der Wahl keine empirische Diplomarbeit sein, da die Schritte für die notwendige Operationalisierung einer empirischen Arbeit erst nach einer theoretischen Beschäftigung mit dem Thema erfolgen können. Diese theoretische Beschäftigung ist notwendig, da jedes Handeln von Theorien geleitet ist. Des Weiteren kann nur so geklärt werden, ob die theoretischen Grundlagen von Ganzheitlichkeit die Möglichkeiten haben, die erkenntnistheoretischen und die Strukturprobleme abzubilden und zu lösen.
Mit Hilfe der Literaturrecherche wurden die Fragen herausgearbeitet, benannt und anhand deren Thesen entwickelt. Zu Beginn der Recherche wurde im Internet mittels verschiedener Suchmaschinen nach dem Stichwort ,Ganzheitlichkeit’ gesucht. Dies erwies sich als unbrauchbar, da hiermit als Ergebnis tausende Verweise herauskamen. Diese Summe konnte auch nicht auf die zentrale These nach der ,Ideologie’ eingegrenzt werden, da diese Verknüpfung zu keinem Ergebnis führte. Und wenn die Verknüpfung mit „Religion“, „Glauben“, „Vision“ oder nur mit „Pflege“ oder „Medizin“ geschah, war die Menge der Verweise wieder nicht eingrenzbar. Somit musste die Literaturrecherche auf die Bibliotheken beschränkt werden.
In der Bibliothek der Alice-Salomon-Fachhochschule gab es nur wenig zu ,Ganzheitlichkeit’; allein eine Diplomarbeit aus dem Jahre 1992 im Bereich Sozialpädagogik / Sozialarbeit (vgl. Kühnen, 1992) und auch sonst nur wenig Literatur die Fragestellung: ,Ganzheitlichkeit als Ideologie?’ betreffend. Eine Ausnahme bildeten die verschiedenen Pflegezeitschriften. Nach der Bestandsaufnahme dort weitete sich die Suche auf die Stadt- und Landesbibliotheken aus, wo es ausreichend Material aus den verschiedensten Fachrichtungen: von der Medizin, über die Pflege bis hin zur Pädagogik und Semantik gab. Da ein Großteil der Diskussion und kritischen Analyse der Ganzheitlichkeit innerhalb der Medizin stattfindet, bildete dies den Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der Ganzheitlichkeit.
3. Krise der Wissenschaften
1. These: Die Wissenschaften allgemein und speziell die Naturwissenschaften befinden sich eine Krise.
Die Krise der Wissenschaften zeichnet sich durch eine mangelhafte Begründung sowie einer unzureichenden ethischen Einbettung in einen philosophischen Gesamtzusammenhang aus (vgl. Pieringer / Ebner, 2000; Beck, 2001). Die allgemeinste Definition von Wissenschaft[1] ist: Wissenschaft könnte man als den gesellschaftlichen und politisch institutionalisierten und nur kollektiv realisierbaren Versuch bezeichnen, systematisch und methodisch zu erforschen, was alles in der Welt ist und warum dies der Fall ist (vgl. Sandkühler et. al., 1999, 1245ff). Aus der Sicht ihrer Ergebnisse ist die Wissenschaft ein historisch entstandenes System von Wissen über die Natur, die Gesellschaft und das Denken, dem relative Wahrheit zukommt. Der Begriff der Wissenschaft ist vor allem auch ein wertender Begriff, welcher regulative Ideale beinhaltet; die Idee der Wissenschaft wird durch vier regulative Ideale charakterisiert, welche in vielfachen Bezügen und Abhängigkeiten zueinander stehen. Es handelt sich um
- das Ideal der Wahrheit,
- das Ideal der Erklärung bzw. des Verstehens,
- das Ideal der Begründung (epistemische Rechtfertigung) und
- das Ideal der Intersubjektivität.
Diese Ideale sind seit der Antike gleich geblieben (vgl. Sandkühler et. al., 1999, 1763ff; Klaus / Buhr, 1975, 1310ff). Da etwas Wissenschaftliches wahr sein muss, müssen „die einzelnen wissenschaftlichen Beschreibungen der Tatsachen in der Welt (..) möglichst lückenlos inferentiell miteinander verbunden sein“ (Sandkühler et. al., 1999, 1766).
Von der Antike an haben Wissenschaft und Philosophie einen engen Zusammenhang, dies zeigt sich bereits im Wortursprung, wonach die Philosophie als griechische ,philosophia’ die Zuneigung oder Freundschaft zum Wissen darstellt (vgl. Sandkühler et. al., 1999, 1245). Philosophie ist das subjektive Bemühen um eigenständiges Urteilen und Begreifen, unter Einschluss der Fähigkeit, im gemeinsam geführten und kontrollierten Dialog Rechenschaft für die Ansprüche eines vermeintlich oder wirklich festen, invarianten, daher lernbaren Wissens ablegen zu können. Das lehrende Erklären einer (Sprach-)Praxis bzw. ihrer Form oder Idee zur Ermöglichung einer freien Anerkennung, eines freien Begreifens und freier Teilnahme ist schon bei Sokrates und Platon Hauptmerkmal und Hauptaufgabe der Philosophie - somit ist die Philosophie von ihrem Ursprung die Methodik der Erklärung der Wissenschaften (vgl. ebd.). Seit der Antike steht im Zentrum der Philosophie die Idee einer autonomen Institution Wissenschaft als gemeinsam organisiertem Streben nach methodisch gesichertem, möglichst schriftlich festgehaltenem Wissen. Dessen Ansprüche müssen aber auch immer mündlich kommentiert und dialogisch kritisiert werden. Sie müssen ferner, an die jeweilige Situation angepasst werden. Es geht ihr insgesamt gerade um den Zusammenhang zwischen Theorie und Erfahrung und theoriegestützter Praxis (vgl. ebd.).
In der Philosophie wurden die Begründungen entwickelt, mit dem die Wissenschaften ihren Sinn gründen konnten. Mit der Begründung einer rein empirisch erfahrbaren und somit anschaulichen Wissenschaft in der Aufklärung zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts, bei der Gedankenmodelle aus der Beobachtung einzelner Phänomene entwickelt werden, und nicht aus einem logischen Gedankenzusammenhang, wurden die Theologie und die Philosophie als Grund, Basis und Begründung der Wissenschaften beiseite gelegt. Das neue Paradigma[2] war nicht mehr die Logik (Philosophie) oder der Glaube (Theologie), sondern die Anschauung und die Anwendung. Daher konnte die Philosophie den Wissenschaftlern keinen Sinn mehr stiften. Somit hatten die Wissenschaften in der Aufklärung im Rahmen ihrer Emanzipation von der Theologie auch die Philosophie als ihren Grund verloren. Dies war die Geburtsstunde der Naturwissenschaften, welche auf eine Anwendung hin orientiert waren. Zur gleichen Zeit entstand mit der Aufklärung und dem aufkommenden Bürgertum ein Bewusstsein zur Individualität, die Idee vom Individuum. Dieses Individuum wurde nun isoliert und aus dem Zusammenhang gerissen betrachtet, wurde zum Objekt der Betrachtung. Somit wurden Beziehungen zwischen Personen und von Personen zu ihrer Umwelt immer stärker verdinglicht. Die einzelnen Personen waren nun nicht mehr Träger einer Gruppe oder einer zugeschriebenen Eigenschaft, sondern Individuen, einzelne Personen, die nun in Konkurrenz zueinander treten konnten und sich gegenseitig als handelnde Objekte wahrnahmen. „Durch jene Verdinglichung nehmen alle persönlichen Beziehungen unter den Menschen die Gestalt von Beziehungen zwischen zeitlos existierenden Dingen an und verdecken damit die historische Entstehung und den Charakter der Veränderbarkeit. Resultat und auch Bedingung dieses Verdinglichungsprozesses ist die sich wertfrei gebende Naturwissenschaft“ (Deppe, 1969, 289).
Mir der Aufklärung zerfallen die Wissenschaften in Einzeldisziplinen, zwischen denen eine interdisziplinäre Verständigung nicht mehr möglich war, da sich diese immer weiter voneinander entfernten und spezialisierten. Die Fragen nach einer , Transzendenz’ und nach dem ,richtigen Leben’ waren durch diese Aufspaltung und die Trennung von der Philosophie nicht mehr möglich zu beantworten.
Die Beantwortung dieser Fragen nach einer ,Transzendenz’ und nach dem ,richtigen Leben’ waren immer Aufgabe der Philosophie, welche immer mehrere Funktionen hatte und weiter hat:
- eine moralisch-praktische in der Suche nach Gut und Böse einer Handlung,
- einen Erkenntnisgewinn sowie
- der Bestimmung eines Ziels, in der Sinnsuche.
Aus der Philosophie heraus entwickelte sich die Theologie, welche die philosophischen Fragen auf eine Gottheit fixiert. Die Philosophie und die Theologie sind die Geisteswissenschaften, welche sich mit den ethischen Fragen der Menschheit und einer moralischen Orientierung beschäftigen. Da die Wissenschaften, und noch stärker die Naturwissenschaften, sich von ihnen gelöst haben, kommt es nun bei ihrer Begründungskrise zu einer Gesamtkrise. Diese Krise vollzieht sich auf drei Ebenen:
- auf einer erkenntnistheoretischen,
- einer ethischen und
- einer gesellschaftlichen Ebene.
Das erkenntnistheoretische Problem ist, das die Einzelwissenschaften Erkenntnisse produzieren, die nicht auf einander bezogen werden und keine Konsequenzen bedacht werden. Darauf folgt ein ethisches Problem: da die Konsequenzen nicht bedacht werden, übernimmt auch niemand die Verantwortung für diese. Gesellschaftlich wird die Wissenschaft hierfür kritisiert und es findet somit eine Entfremdung statt.
Die wissenschaftlichen Ideale können nicht mehr eingehalten werden und so gibt es keinen klaren wissenschaftlichen Rahmen. Die Wissenschaften können nicht mehr Wahrheiten liefern und sind so in einer Beliebigkeit gefangen. Dies aus einer Subjektivierung des Betrachtungsstandpunktes und durch den Zerfall in immer spezialisierte Einzelwissenschaften. Jede Einzeldisziplin hat ihre Erkenntnisse und Wahrheiten. Diese Krise wird auch von den einzelnen Menschen[3] getragen, da die Naturwissenschaften einerseits die Sinnsuche der einzelnen Menschen nicht auffangen konnte und andererseits da sie auch keine idealtypische Welt konstruieren konnte. Die Frage nach dem Sinn wird an das Individuum selbst delegiert. Die Konsequenz daraus ist, dass das Individuum nicht nur Entscheidungsfreiheit gewinnt, sondern auch gezwungen wird, selbst zu entscheiden. Daraus entsteht ein Gefühl der Verunsicherung.
Dieser Teil der Wissenschaftskrise wird in der Moderne verstärkt, da neuere Forschungen in den Naturwissenschaften eine Pluralität entstehen ließen; diese Pluralität wurde durch die Entdeckung der Quanten- und der Relativitätstheorie ausgelöst, wodurch nicht nur in der Physik neue Denkweisen nötig wurden, sondern in den gesamten Wissenschaften wurden bestehende Paradigmen hinterfragt. Mit Entdeckung der Quantenphysik kam es zu der Aufhebung des Ideals der Wahrheit. Diese gab es nun hier nicht mehr, da es keine Theorie mehr gab, die allgemeingültig war. Es gab nun verschiedene Theorien die schlüssig ein Phänomen beschrieben, sich aber eigentlich ausschlossen. Mit der Relativitätstheorie wurde das Ideal der Intersubjektivität aufgehoben. Diese gab es nun nicht mehr, da nach der Relativitätstheorie alle Phänomene von einem veränderlichen Raum-Zeit-Kontinuum abhängig sind.
„Die seit Mitte der siebziger Jahre anwachsende wirtschaftliche, soziale und ökologische Unsicherheit wurde und wird vom ideologischen Mainstream mit dem liberalen Gestus des ,anything goes’ aufgegriffen. Postmoderne Beliebigkeit (,Pluralität’), (...) verdrängt Kausalität und Vernunft. Nicht die technische und kapital ökonomische Instrumentalisierung der Vernunft, sondern Rationalität schlechthin wird für die Krisen verantwortlich gemacht“ (Kühn, 1989, 112). Da es den Naturwissenschaften immer stärker gelingt Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären oder zu deuten, erfasst die Legitimationskrise diese besonders. Verschiedene naturwissenschaftliche Erklärungen stehen nebeneinander und können nicht kombiniert werden - so wird in der Physik Licht zum einen als Wellenenergie und zum anderen als Teilchenenergie („Quanten“) bezeichnet. Die Wellenform der Energie wurde zuerst von Michael Faraday[4] und Clerk Maxwell[5] beschrieben. Sie formulierten eine vollständige Theorie des Elektromagnetismus. Danach wirkt die elektromagnetische Kraft in Form eines Kraftfeldes, welches eine positive und eine negative Ladung enthält, dabei unabhängig von der jeweils anderen Ladung existiert, diese andere Ladung aber beeinflussen kann. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse beschrieben sie die Energie des Lichtes als Wellenform, da nach ihren Berechnungen Licht ein schnell wechselndes elektromagnetisches Feld ist. Da diese Energieform unabhängig von Körpern existiert, waren die Erkenntnisse von Faraday und Maxwell bahnbrechend und zum ersten Mal wurde die Newtonschen Axiome[6] überwunden, wonach Energie von einem Körper und von Bewegung abhängt (vgl. Hermann, 1987).
Die Theorien zum Elektromagnetismus wurden zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Albert Einstein[7] weiterentwickelt, indem er den elektromagnetischen Feldern eine eigenständige Rolle zuwies und meinte, diese würden den gesamten Weltraum bruchlos durchdringen. Somit wären sie zwar eigenständige Phänomene, aber auch miteinander verwoben. Mit seiner speziellen Relativitätstheorie entwickelte er 1905 eine grundlegende Kritik an der Raum- und Zeitmessung. Aus ihr folgerte er das Gesetz von der Trägheit der Energie, das er 1907 zum Gesetz der allgemeinen Äquivalenz von Masse und Energie erweiterte. Spätestens mit der allgemeinen Relativitätstheorie änderte er 1916 die Anschauungen des physikalischen Raumes grundlegend, da er hier nachwies, das der Weltraum nicht nur dreidimensional ist und belegte auch, das Zeit keine selbstständige Einheit ist - beides zusammen bildet den vierdimensionalen Raum. Somit verlieren Raum und Zeit nach Einstein ihre absolute Bedeutung und sie werden zu Phänomenen, die den persönlichen Standpunkt des Betrachters beschreiben. Da nach Einstein der Raum durch die verschiedenen Gravitationsfelder gekrümmt ist, kommt es zu einer Krümmung der Masse im Raum. Und da diese Masse in Zusammenhang mit der Zeit steht, wird auch diese gekrümmt, so dass es keine universelle Zeit gibt. Die Zeit verläuft demnach in verschiedenen Teilen des Universums unterschiedlich. Mit der allgemeinen Relativitätstheorie wurde Masse in Zusammenhang mit Bewegung zu einer Form der Energie (vgl. Hermann, 1987).
Zur gleichen Zeit entwickelten Physiker um Max Planck, Niels Bohr und Werner Heisenberg die Quantentheorie, welche besagt, dass Energie in so genannten Quantensprüngen unstet und sprunghaft abgegeben und aufgenommen wird. In verschiedenen Tests konnten sie nachweisen, dass Wärmeenergie nicht kontinuierlich, sondern in einzelnen Energiepaketen, welche von Albert Einstein Quanten genannt wurden, abgegeben werden. Dem gegenüber stand und steht die Wellentheorie, die genauso in Tests nachgewiesen werden kann. Albert Einstein definierte daher 1905 die Lichtquantenhypothese, die aussagte, dass Licht und alle anderen elektromagnetischen Energien als elektromagnetische Wellen und als Quanten existieren. Energie ist damit sowohl als Welle wie auch als Quanten zu beschreiben. Sie zeigt demnach, je nach Sicht der Betrachtung, bzw. je nach Versuchsaufbau, teilchen- oder wellenartige Aspekte, ist auf engsten Raum begrenzt (als Quant) oder weit im Raum verbreitet. Beide Theorien sind im Labor belegbar und doch schließen sie sich eigentlich aus. Somit kam es im Bereich der Physik zu einem Paradox, welches weit über die Physik wirkte: ein Phänomen konnte mit zwei Theorien beschrieben werden. Es gab keine eindeutige Lösung. Zudem warf die Relativitätstheorie ein neues Weltbild auf. Auch wenn Einstein dies als Weiterentwicklung der Newtonschen Axiome bezeichnete, änderte sich mit dieser Weiterentwicklung einiges. Die Relativitätstheorie änderte zentral die Sicht der Wirklichkeit, da nach ihr die Betrachtung vom Standpunkt und der Zeit der Betrachtung abhängt. Somit wurde eine subjektive Sichtweise wichtig; allerdings schlugen die Versuche von Einstein, eine zentrale Theorie, die diese Weiterentwicklung des Newtonschen Weltbildes zusammenbrachte, um sie mit dieser zu versöhnen, fehl (vgl. Hermann, 1987, 78ff). Somit ist Erkenntnis[8] immer an den Standort, an die Person des Betrachters , des Wissenschaftlers gebunden. Das Erfahrende muss immer wieder auf eine Allgemeingültigkeit und die Gültigkeit für die einzelne Person rückgekoppelt werden. Die Konsequenz hieraus ist m.E. das die Wissenschaft immer neue Erkenntnisse produziert, die Wissenschaftler aber keine Verantwortung für die Erkenntnisse übernehmen, da es zu keiner ausreichenden Rückkoppelung und gesellschaftlichen Verankerung kommt. Es werden durch die Technologie Folgeprobleme produziert, die durch einzelwissenschaftliche Rationalität (monokausale Erklärungen) nicht auf ihre Folgewirkungen untersucht und erkannt werden.
Diese theoretischen Dispute wirkten sich allerdings erst verzögert auf das Bewusstsein der Menschen aus, indem es mit der Entstehung der Postmoderne in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer wissenschaftlichen Beliebigkeit kam.
Als Konsequenz dieser Krise - Erkenntnisverlust in Form einer Machbarkeitsvorstellung, einer Sinnkrise durch Verlust einer Transzendenz und als moralische Krise, da das ,richtige Leben’ nicht mehr vorgegeben wurde - entstand in Westeuropa und den USA eine Umwelt- und Bürgerbewegung, welche die Zerstörung der Natur durch den Menschen thematisierte, und dabei den extensiven Lebensstil kritisierte und als Raubbau klassifizierte. Dieser Lebensstil wurde als technokratisch und die Technik als Fetisch angesehen. Der hiermit einhergehende Bewusstseinswandel in weiten Teilen der Bevölkerung und die wissenschaftliche Entstehung der Postmoderne ließen Fragen nach dem Sinn des Handelns in den Wissenschaften entstehen. Besonders, da den Wissenschaften nicht nur theoretische Dispute inne wohnen, sondern gerade die Naturwissenschaften sich an konkreten Frage- und Problemstellungen orientieren. Naturwissenschaften sind immer gleichzeitig Grundlagen- und angewandte Wissenschaften. In Form der angewandten Naturwissenschaften (z.B. der Ingenieurswissenschaften) werden Technologien entwickelt, produziert und angewandt. Die Naturwissenschaften müssen demnach permanent ihr Handeln hinterfragen, im Sinne von, was ihre Erkenntnisse den Menschen nützt. Wozu sie ihre Forschungen macht und was deren Ziel ist? Und noch zentraler: was sind die Konsequenzen? Hier ist ein Begründungskonflikt entstanden, da es nicht mehr die ,wahre’ Wissenschaft gibt und es gibt gleichzeitig einen Mangel an Begründung, da ein direkter Nutzen von die einzelnen Menschen nicht nachvollziehbar ist.
So empfand z.B. eine große Anzahl von Menschen die Kernenergie spätestens mit dem Atomreaktorunglück in Tschernobyl 1986 als unkontrollierbare Gefahr. Technik wurde mit einem technokratischen Verständnis gleichgesetzt und kritisch betrachtet. In dieser Problemlage wird das erkenntnistheoretische Problem der Naturwissenschaften deutlich: es werden Erkenntnisse produziert, wie die Spaltung des Atomkerns, aber die Folgen wie die Endlagerung des Atommülls, der Unsicherheit der technischen Anlagen oder die Atombombe als Massenvernichtungswaffe wurden zunächst nicht thematisiert.
Auch in der Medizin, einer angewandte Naturwissenschaft, zeigt sich dieses Dilemma deutlich.
4. Krise der Medizin
Die Medizin[9] als Wissenschaft vom gesunden und kranken Funktionszustand des Organismus begreift sich seit Descartes[10] als eine klassische Naturwissenschaft und so kommt es auch bei ihr zu einer Krise. Bei der Krise in der Medizin handelt es sich vorrangig nicht um die Unvereinbarkeit verschiedener Theorien, sondern vor allem um das Problem der Legitimation der medizinischen Handlungen und damit einhergehende ethisch-moralische und erkenntnistheoretische Fragen. Die „klassische“ Medizin hat in der Vergangenheit das Axiom der angewandten Naturwissenschaften befolgt. Sie hat sich verstärkt der Beherrschung des menschlichen Körpers gewidmet und weniger nach dem tieferen Sinn ihres Handelns gefragt. Von der Naturphilosophie enttäuscht, hat „die Medizin der letzten Jahrhunderte (...) sich (..) einseitig als Naturwissenschaft entwickelt (..). So ist sie grundsätzlich den Weg der Naturwissenschaften mitgegangen, die Erscheinungen der Natur vom Menschen abzurücken und zu verobjektivieren. Für ihren eigenen Bereich war dies nichts anderes als die Verdinglichung des Menschen“ (Büchner, 1946, zit. n. Deppe, 1969, 289).
Diese Entwicklung wird durch die aktuelle Molekularmedizin vorangetrieben, da diese postuliert, dass „Krankheiten das Ergebnis biologischer Fehler sind, Fehlinterpretationen auf Seiten der Zellen oder Gewebe oder der falsche Gebrauch von Informationen. Der Punkt (...) ist, daß sie sich ergibt als Resultat eines genuinen Verständnisses der Krankheitsmechanismen“ (Hohlfeld, 1998, 47f). Diese Molekularmedizin sucht nach „als krankhaft diagnostizierte Abweichungen von einem ,normalen’ Genom“ (Lemke, 2003). Gut anderthalb Jahrhunderte alt ist das (naturwissenschaftlich) medizinische Denken, das heute dominiert, obgleich die Vorläufer bis zu Leonardo da Vinci in der Renaissance reichen. Die Grundidee ist trotz dieser Zeitspanne gleich geblieben, und drückt sich sehr anschaulich in einer Überschrift der britischen Ärztezeitschrift ,Lancet’ aus dem Jahre 1850 aus: ,Medicine Independent of Theology’ (vgl. Unschuld, 1995, 119). Damit hatten sich die Mediziner bewusst von einem philosophisch-theologischen Weltbild abgewandt und den Naturwissenschaften zugewandt. Diese Abkehr verhieß bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts für nahezu die gesamte Bevölkerung Fortschritt, und mit gesundheitspolitischen Maßnahmen kombiniert, eine stetig erfolgreichere Behandlung von Krankheiten. Hiermit verlor die Medizin, bzw. die behandelten Menschen und die Angehörigen der medizinischen Zunft den tieferen Sinn; die naturwissenschaftlichen Erklärungen von Krankheit und Gesundheit konzentrierten sich nur einseitig auf das „wie“ einer Krankheitsentstehung und weniger auf das „warum“. Es kam zu einer ,Reparatur’ eines erkrankten Organs oder Körpers und nicht zur ,Heilung’.
Und doch verdanken die Menschen der letzten zwei Jahrhunderte dem Erkenntniszuwachs in der Medizin viel. Mittlerweile liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei mehr als der doppelten Anzahl an Jahren und die meisten Infektionserkrankungen sind heilbar. Keine Frau muss in Mitteleuropa mehr befürchten, im Wochenbett an einer Blutvergiftung zu sterben und die Kindersterblichkeit ist verschwindend gering. Dennoch wird die Medizin zunehmend mit ihren Grenzen konfrontiert: sie kann zwar das Leben des Menschen verlängern, das Folgeproblem ist allerdings die Zunahme der chronischen Leiden. Damit einher geht die Ausgrenzung aller Leiden die nicht beherrschbar sind. Da die Medizin das „warum“ einer Erkrankung nicht beantworten kann, versuchen immer mehr Menschen ihren Leben und einem Leiden einen Sinn außerhalb der Medizin zu geben. Diesen Sinn fanden sie bis zur Säkularisierung in der Religion (vgl. Kapitel 4.2).
Die Medizin kann - nachdem sie fast alle großen Infektionserkrankungen mit Antibiotika und Intensivmedizin bekämpfen kann - das drängende Problem der chronischen Erkrankungen (vgl. Kapitel 4.3) nicht zufrieden stellend lösen. Dies ist eine Kehrseite der immer länger werdenden Lebenserwartung: mit zunehmenden Alter nehmen auch die chronischen Erkrankungen zu. Teils durch ganz normalen Verschleiß (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) und Teils durch Fehler bei der Zellteilung im Alter (Tumorerkrankungen). Doch allein wäre dies vermutlich noch kein ausreichender Grund für die Krise der Medizin - abgesehen von der eben beschriebenen Endlichkeit der Therapien und einer grundsätzlichen naturwissenschaftlichen Krise. Dies muss das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Medizin nicht tangieren. Daher ist anzunehmen, dass es sich hierbei um ein tiefer liegendes Problem handelt.
Zur Verdeutlichung dient hierzu ein kurzer Abriss der Geschichte der Medizin und Krankheitsbeschreibung in Europa und Ostasien im Vergleich. Durch den Philosophen Descartes und dem Mediziner Harvey[11], dem Entdecker des Blutkreislaufes, wurde der Körper im 17. Jahrhundert hierarchisch aufgeteilt. Für Descartes war das Herz der Herrscher über die restlichen Organe und eine Erkrankung wurde als Krise angesehen, welche Entscheidung und Handeln verlangte. Dieses Denken ist bis in die heutige Zeit lebendig, wenn man sich nur all die Metaphern von Abwehr und Kampf anschaut, mit der medizinisches Handeln beschrieben wird. Hier spiegeln sich die abendländische Geschichte und das Entstehen der modernen Gesellschaftssysteme in einer christlichen Denktradition wieder. Im Zeitalter der Vernunft kam es nach den Dreißigjährigen Krieg[12] zu einer Restauration der Staaten und auch zu einer Restauration eines hierarchisch-feudalistischen Herrschaftsanspruchs. Somit bildet die biologisch-anatomischen Denkweise eine gesellschaftliche Realität ab (vgl. Unschuld, 1995, 124f).
In anderen Kulturen kam es durch unterschiedliche Gesellschaftsformen und andere philosophisch-religiösen Vorstellungen zu anderen Theorien. In der traditionellen chinesischen Medizin z.B. gibt es nicht diese hierarchischen Ausprägungen. Die Ursache hierfür liegt in den zentralen chinesischen Religionen wie Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus, die Menschen zu passiven Erdulden von Krankheit aufforderten - im Sinne eines Harmoniedenkens. Hier musste nicht ein Körper beherrscht werden, sondern ein natürliches Gleichgewicht wieder hergestellt werden (vgl. Kapitel 6.2). Somit zeigt sich hier ein grundlegend anderes Verständnis von der Medizin: in den ostasiatischen Kulturen ist die Natur die Heilerin und die Medizin unterstützt hier nur die natürliche Ordnung. In der europäischen Kultur will die Medizin die unvollständige Natur beherrschen und korrigieren.
Durch den oben beschriebenen Verlust der Philosophie und damit der Moral, der Erkenntnis und des Sinnes ist die Medizin orientierungslos. Es müssen Definitionen und Grenzen gezogen werden - Definitionen von Leben und Sterben und was Wissenschaft darf - oder eben nicht darf. Da ein philosophisches Bild vom Menschen fehlt, führt die Orientierungslosigkeit zu Allmachtsgefühlen. Dadurch entsteht eine eigene, interne Dynamik, in der der medizinisch-technische Fortschritt die Zielrichtung und Schnelligkeit bestimmt. Somit wird gemacht, was gemacht werden kann und es entsteht eine Art Zwangsläufigkeit der Handlungen (vgl. Lemke, 2003).
Die Grenze des Lebens wird immer weiter verschoben, und gerade die Definition des Todes hat durch die Medizin - aus rein verwertungstechnischen Gründen - eine neue Definition erhalten. Mit dem heutigen Wissen und Techniken können Organtransplantationen vorgenommen werden. Dies hilft häufig erkrankten Menschen ihr Leben zu verlängern und ihre Lebensqualität zu verbessern. Gleichzeitig verschieben sich so medizinisch-ethische Maßstäbe - nicht mehr der Herztod ist das Kriterium, sondern der Hirntod - die nicht mehr messbare Hirnaktivität - damit die menschlichen Organe für Organtransplantationen weiterverwendet werden können. Die Frage, wie Tod definiert wird, wird somit an einen Nützlichkeitsaspekt geknüpft. Ähnliches passiert mit dem Menschen zu Beginn - oder besser: vor seinem Lebensbeginn. Embryonen gelten als Medikamentenrohstoffe und es wird offen über die Reproduzierbarkeit der menschlichen Individuen gesprochen. Der menschliche Körper wird zur Maschine, zum Materiallager. Es kommt zu einer mechanistischen Konzeption des Lebens (Hohlfeld, 1998, 50). Hiermit ist eine Grenze überschritten, die die Menschen im Innersten berührt und Fragen aufwirft. Antworten werden in den unterschiedlichsten Interessensgruppen wie Behindertenverbänden oder Selbsthilfegruppen chronisch Kranker diskutiert, die teilweise damit im Widerspruch zum technischen Fortschritt und der möglichen Lebensverlängerung stehen. Mediziner, Ethiker, Juristen, Politiker und Betroffene stehen vor ungelösten Fragen.
4.1 Verlust von individuellem Sinn
Das Menschenbild der Medizin nimmt den Menschen nicht als sinnsuchendes und sinnkonstruierendes Wesen, sondern als Objekt wahr. Als Objekt welches wie eine Maschine aus Einzelteilen besteht. Der Mensch als Objekt verliert so seine Identität, entfremdet sich von sich selbst und muss sich unterordnen. Durch diese Unterordnung kommt es zu einem Vertrauensverlust. In der Medizin werden somit aus Individuen, aus Menschen, Patienten, Kranke, Ärzte oder Pflegepersonal. Menschen werden reduziert auf eine Eigenschaft (,krank sein’) oder einen Beruf. Diese reduktionistische Sichtweise ist Teil der naturwissenschaftlichen Tradition der Medizin. Daher ist die moderne Medizin entsprechend ihres Selbstverständnisses als Naturwissenschaft und (Anwendungs-)Technik anzusehen (vgl. Büchner, 1946, zit. n. Deppe, 1969, 289). Damit einhergehen auch die technikkritischen Konnotationen, wie bei den anderen Naturwissenschaften. In dieser Konnotation nimmt nicht der Arzt die Untersuchungen am Patienten vor, sondern „kalte, weißlackierte Technik steht dem Patienten gegenüber, nimmt Daten auf, unbestechlich“ (Unschuld, 1995, 127). Und in dieser technisierten Medizin vermissen viele Menschen Nähe und menschliche Zuwendung; eine Medizin die die Aspekte der individuellen Lebensumstände wahrnimmt. Daher wenden sich immer mehr Menschen denjenigen zu, die genau dies versprechen; die „nicht nur den Ablauf und den gegenwärtigen Zustand des Krankseins feststellt, sondern einen Sinn in der Entstehung sucht“ (ebd.) und eine Orientierung für ein glückliches Leben bietet. Diese Sinngebung wurde von der Medizin bewusst abgelegt. Das Ablegen dieser Sinngebung war ein Grundmotiv der Anbindung der Medizin an die Erkenntnisse und Wahrheiten der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Sinngebung ist immer weltanschaulich bedingt und damit Teil von Philosophie.
Sinngebung, die Frage nach der eigenen Existenz, wird in einer Gesellschaft, in der alles zunehmend Verwertungsinteressen unterworfen wird und selbst so fundamentale Fragen wie der Beginn und das Ende des Lebens wirtschaftlich beeinflusst wird, zentral, und mit dem ,Verlust’ eines Glaubens in einer säkularisierten Welt kommt es zu einem Vakuum. Während es zu einer zunehmenden Abkehr von den christlichen Kirchen in Mitteleuropa kommt, können nur wenige Menschen ohne eine Sinngebung ihres Daseins existieren, die Frage nach dem „warum“ und „wohin“ unbeantwortet lassen. Dies zeigt ein expandierender Markt an para- und pseudoreligiösen Bewegungen und eine Zunahme von esoterischen Krankheitserklärungen. Es gibt somit keine Flucht aus der Religion an sich, sondern die Menschen kommen nicht mehr mit der tradierten Ausübung derselben zurecht. Diese säkularisierte Welt ist eine Folge der Emanzipation in der Aufklärung. Eine göttliche Ordnung gab es nicht mehr und mit ihr auch keine Ständegesellschaft, wo jede Person wusste, was ihrem Stand gemäß von ihr erwartet wurde. Mit der Emanzipation von der Theologie wurde sich nun auf ein irdisches Leben und die damit einhergehende Endlichkeit bezogen.
Mit der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaften in West- und Mitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in unserer Gesellschaft zu einer zunehmenden Individualisierung, welche mit dem Verlust einer gemeinsamen Identität einhergeht, die bis dahin über die Religion, bzw. Konfession, Herkunft oder Klassenidentität begründet wurde. Daher kommt es trotz der mit der Individualisierung und dem technischen Fortschritt errungenen Freiheit und Selbstbestimmten Leben zu einer neuen Sinnsuche.
Bis Descartes wurde das Leben als Einheit wahrgenommen, seitdem wurde der Mensch in Leib und Seele aufgeteilt, wobei für den Wissenschaftler nur das erstere von Interesse sei (vgl. Beck, 2001, 7). Nun wurde der Gegensatz von Krankheit und Gesundheit wahrgenommen, als „eine als kollektives Zielbild vorgestellte und erstrebte Gesundheit einerseits und eine individualisierte, von der Medizin aufgedeckte, bekämpfte, mitunter besiegte, oftmals durch eine Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen abgewehrte oder abgewendete Krankheit andererseits“ (Basaglia, 1985, 8). Gesundheit und Krankheit wurden so aufgeteilt und individualisiert. Nicht mehr Gott oder die Armut machte die Menschen krank, sondern Viren und Bakterien. Es war kein Schicksal mehr, das alle treffen konnte, sondern es wurden individuelle Ursachen entdeckt und bekämpft.
Somit wurde der Zusammenhang zwischen dem individuellen und dem kollektiven Erleben zerstört, der Körper wurde nun als etwas Eigenes, Individuelles erlebt und wahrgenommen. Hiermit einher ging die Vorstellung, das Krankheit und als Folge auch der Tod zu bekämpfen und zu besiegen sei. Die Medizin sah nun alles als beherrschbar und heilbar an; ihr Sinn war nun diese Beherrschung. Damit war es unnötig Schmerz und Leid zu ertragen. Krankheit und letztlich auch der Tod wurden als technische Defekte beschrieben, „der auf dem Bett eine Leiche zurücklässt“ (Basaglia, 1985, 8), das Leben stellt somit nichts Besonderes dar, da der lebende Körper seine Wärme wie ein Ofen durch Verbrennung erzeugt (vgl. Virchow, 1941, zit. n.: Harrington, 2002, 40). Die Medizin hatte somit der Krankheit und dem Leiden den Sinn genommen und sich selbst damit mystifiziert.
Die zentrale Frage ist die, welche Rolle der Mensch in dem Geschehen - was um ihn herum und mit ihm passiert - noch spielt. Woher beziehen die Mediziner und alle anderen Menschen in vorherrschen Diskurs ihre Orientierung?
[...]
[1] Wissenschaft: (griech. = epistasthai, episteme) verlässliches Verstehen, Kennen, auch des sich auf etwas Verstehens und Könnens, insgesamt im Sinn der Fähigkeit, sich in die für eine bestimmte Tätigkeit geeignete feste und sichere Stellung zu versetzen (vgl. Sandkühler, 1999, 1245).
[2] Paradigma: Beispiel, Muster, Vorbild
[3] Wenn in dieser Diplomarbeit von ,dem Menschen’ geschrieben wird, handelt es sich hierbei um ein abstraktes Menschenbild mit der die personifizierte Menschheit gemeint ist und nicht um einen konkreten Menschen. Wenn es dagegen um bestimmte Menschen oder Berufsgruppen handelt, mache ich dies kenntlich.
[4] 1791 - 1876
[5] 1831 - 1879
[6] Isaac Newton (1643 - 1727). Newtonsche Axiome: 1. Ursache der Beschleunigung eines Körpers ist eine auf ihn einwirkende Kraft (Trägheitsgesetz); 2. die Bewegungsänderung eines Körpers ist der einwirkenden Kraft proportional und ihr gleichgerichtet (dynamischen Grundgesetz) und 3. die Wirkung ist gleich der Gegenrichtung. (vgl. Hermann, 1987, 258)
[7] 1879 - 1955
[8] Wenn ich die männliche Form eines Wortes nutze, meine ich die weibliche mit und umgekehrt.
[9] Medizin: (lat.) ars medicina = Heilkunst.
[10] René Descartes (1596 - 1650), franz. Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler. Er gilt als Begründer der rationalistischen Richtung der neueren Philosophie und des neueren Dualismus. Er betont die deduktive Methode und stützt er die Erkenntnis nicht auf sinnliche Wahrnehmung, sondern auf die Gewissheit klarer und deutlicher Vernunfteinsichten und Anschauungen. Er will selbständig denken, nichts auf Treu und Glauben hinnehmen, ohne Voraussetzungen philosophieren, nur der Stimme der Vernunft gehorchen, nur dem logisch Festgestellten, aus unumstößlichen Tatsachen Deduzierten trauen. Ohne eine einheitliche, zuverlässige Methode kann nach ihm kein sicheres Wissen zustande kommen. Die Methode besteht formal in der Ordnung und Disposition des Wissensstoffes. Stufenweise ist vom Einfacheren zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. Vier Grundregeln haben sich bewährt: l. Nichts für wahr zu halten, was nicht sicher und mit Evidenz als wahr erscheint, was nicht so klar und deutlich ist, dass es auf keine Weise zu bezweifeln ist. 2. Jede Schwierigkeit in Teile zu zerlegen, um ihrer besser Herr zu werden. 3. Nach einer bestimmten Ordnung vom Einfachsten und Leichtesten zum Schwierigeren und Zusammengesetzteren sich zu erheben. 4. Sich der Vollständigkeit der Untersuchung zu vergewissern. (vgl. Eisler, 2001, 9664; Russell, 2001, 567ff)
[11] William Harvey (1578 - 1657), engl. Arzt, Anatom und Physiologe.
[12] 1618 - 1648
- Citation du texte
- Arnold Rekittke (Auteur), 2004, Ganzheitheitlichkeit als Ideologie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28500
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