„Tarabas“ gehört zu den von der Forschung auffällig wenig beachteten Werken Joseph Roths. Ein Grund hierfür mag sein, dass Roth sich gerade in seinem Spätwerk ganz entschieden zu traditionellen Erzählweisen bekannt hat und die Forschung dazu geneigt hat, Gattungszuordnungen unhinterfragt zu übernehmen. Um Roths Bekenntnis zu Erzähltraditionen soll es in dieser Arbeit gehen, genauer gesagt um Roths Verwendung einer bestimmten Gattung – die der Legende. Hierbei soll zunächst festgestellt werden, was die Legende in ihrer ursprünglichen Form ausmacht, ihre Konstituenten verortet werden um dann anhand dieser zu untersuchen, inwieweit Roth in seiner Erzählung Merkmale und Charakteristika der Gattung verwendet, neu anordnet, ihnen widerspricht und sie unterläuft. Dabei wird aufgezeigt, dass Roths “Tarabas“, der auf den ersten Blick auffallend schlicht scheint, einen ausgesprochen originären und einfallsreichen Umgang mit einer Gattung darstellt, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert mit Sicherheit nicht mehr als sonderlich zeitgemäß gelten kann.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Gattung Legende
2.1 Notwendige Beschränkungen
2.2 Inhalt und Struktur der Legende
2.3 Form und Funktion der Legende
3. „Tarabas"
3.1. Deutlich erkennbare Legendenhaftigkeit
3.2 Die Verwendung der Legendenstruktur
3.3 Tarabas – ein „nachvollziehbarer“ Heiliger
3.4 Das pervertierte Wunder
3.5 Die „Funktion“ von Roths „Tarabas“
4. Fazit
Literatur
1. Einleitung
In einem Mitte der sechziger Jahre erstmals erschienenen Aufsatz mokierte Marcel Reich – Ranicki im Bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Joseph Roths, dass man „eher bereit“ war „seine Prosa zu rühmen als zu untersuchen“[1]. Einige Jahrzehnte später sieht es in der Roth-Forschung nicht mehr ganz so düster aus, die Sekundärliteratur zu Roths Werk ist entschieden angewachsen. Dennoch gibt es weiterhin auffällig wenig beachtete Beispiele von Roths Schaffen, und der in dieser Arbeit behandelte „Tarabas“ gehört mit dazu. Ein Grund hierfür mag sein, dass Roth sich gerade in seinem Spätwerk „um die neuen Wege der Kunst überhaupt nicht gekümmert und sich entschieden zur traditionellen Erzählweise bekannt hat“[2]. Gerade um Roths Bekenntnis zu Erzähltraditionen soll es in dieser Arbeit gehen, genauer gesagt um Roths Verwendung einer bestimmten Gattung – die der Legende. Hierbei soll zunächst festgestellt werden, was die Legende in ihrer ursprünglichen Form ausmacht, ihre Konstituenten verortet werden um dann anhand dieser zu untersuchen, inwieweit Roth in seiner Erzählung Merkmale und Charakteristika der Gattung verwendet, neu anordnet, ihnen widerspricht und sie unterläuft. Dabei hoffe ich aufzeigen zu können, dass Roths “Tarabas“, der auf den ersten Blick auffallend schlicht scheint, einen ausgesprochen originären und einfallsreichen Umgang mit einer Gattung darstellt, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert mit Sicherheit nicht mehr als sonderlich zeitgemäß gelten kann. Während man bei der „Legende vom heiligen Trinker“[3] in der Forschung gerne darüber streitet, ob die eindeutige Gattungszuweisung im Titel überhaupt anzunehmen ist, neigen die Interpreten beim „Tarabas“ dazu, ihn als moderne Legende anzuerkennen. Dass man Roth seine „Naivität, seine höchst eigenartige Kindlichkeit“[4], die Reich – Ranicki dem Erzähler unterstellt, gerade auch in einem scheinbar so schlichten Werk wie dem „Tarabas“ nicht fraglos abnehmen sollte, wird sich in Roths Verwendung von Gattungsmerkmalen zeigen lassen.
2. Die Gattung Legende
2.1. Notwendige Beschränkungen
„Das vielgestaltige und weitläufige Reich der Legenden ist begrifflich schwer zu erfassen“[5]. Mit dieser Äußerung charakterisiert Barth das bei der Beschäftigung mit Gattungsfragen stets auftauchende Problem der angemessenen Grenzziehungen. Für die Legende scheint dies besonders zuzutreffen:
Im Vergleich zu anderen Textsorten – etwa dem bürgerlichen Trauerspiel, der Kunstballade oder dem Nouveau Roman – zeichnet sich die Legende [...] durch eine recht ansehnliche Geschichte aus; daß sie in dieser Zeit den jeweiligen Umständen entsprechend tiefgreifende Wandlungen erfahren hat, steht zu erwarten.[6]
So lobenswert Eckers Anliegen, die Legende auf höchstem Abstraktionsniveau zu definieren, sein mag – im Rahmen dieser Arbeit muss die Legende nicht „in ihrer umfassendsten Gestaltmöglichkeit, ihrer größten Verallgemeinerung“[7] betrachtet werden. Dies legitimiert sich zum einen daraus, dass es ausdrücklich nicht das Ziel dieser Arbeit ist, festzustellen ob Roths Erzählung nun eine moderne Legende ist oder nicht – auf einen Gattungstempel möchte ich bewusst verzichten. Zum anderen erscheint der enger gewählte Legendenbegriff für den besprochenen Text ausreichend, wie sich im Verlauf der Untersuchung herausstellen wird. Die Legende im Rahmen dieser Arbeit meint eine schlicht, fromm und ernst präsentierte Erzählung religiösen Inhalts, worin vor allem von heiligen Personen und Wundern gehandelt wird, mit Hilfe derer eine überirdische, göttliche Instanz ihren Heilsplan für die Menschen durchsetzt.[8]
Desweiteren soll die Legende hier hauptsächlich auf ihre „mittelalterliche und christliche Erscheinunsgformen“[9] beschränkt bleiben. Da es sich bei Roths Erzählung auch hauptsächlich um die Lebensbeschreibung des Protagonisten handelt, erscheint es auch sinnvoll, sich an Rosenfelds Beschränkung auf die Heiligenvita als Legende anzuschließen, und die – bei anderen gattungstheoretischen Arbeiten durchaus miteinbezogenen – Ausprägungen auszuschließen[10]. Das Einbeziehen von Mirakelerzählungen, die sich mit einzelnen Wundern nach dem Tod eines Heiligen beschäftigen, oder Exempla, die Anekdoten aus dem Heiligenleben ausschmücken, würde für die Arbeit an Roths Text wenig Brauchbares ergeben. Nach diesen grundsätzlichen Grenzziehungen gilt es, die Merkmale der Legende im hier dargelegten Sinne zu beschreiben, mit denen im weiteren Verlauf an Roths Texten gearbeitet werden kann und soll.
2.2 Inhalt und Struktur der Legende
Der Begriff „Heiligenvita“ birgt eine erste grobe Beschreibung des Inhaltes der Legende bereits in sich: Sie erzählt das Leben eines Menschen, der sich für seine Religion besonders verdient gemacht und dadurch den Status der Heiligkeit erlangt hat. Somit kann die Legende durchaus als frühe Form der Biographik betrachtet werden, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sie zunächst den Anspruch auf „faktische“ Wahrheit hat und damit von verwandten Formen wie der Fabel und dem Märchen abgegrenzt werden kann. Zwar mag es den in der Legende beschriebenen Heiligen nie gegeben haben –„einen förmlichen Kanonisationsprozeß, der auch auf die historische Glaubwürdigkeit einer Gestalt und ihrer Wunder Rücksicht nimmt, gibt es [...]erst seit dem Papst Urban VIII. (1623-1637)“[11] – aber der „klassische“ Rezipient der Legende glaubt zumindest an die tatsächliche Existenz des Heiligen und seiner Taten. Legenden in unserem Sinne werden zumeist von einem „triadischen Muster“[12] bestimmt:
Die drei Handlungsabschnitte werden bestimmt durch a) die Zeit, bevor sich der spätere Heilige ganz dem Dienst Gottes weiht, b) durch das Leben im Dienst Gottes, das zumeist durch eine Flucht in die Einsamkeit vorbereitet wird, und c) durch die Verehrung des Heiligen nach seinem Tod.[13]
Hinzu kommt häufig noch die „Kategorie der ‚Vorbestimmung’[...], die den späteren Heiligen am Anfang der Legende in bezug auf seinen bevorstehenden Lebensweg orientiert“[14]. Bestimmt von dieser Struktur wird auf einem zugrundeliegenden „Schematismus von göttlicher Gnade und sündiger Welt“[15] ein „ ‚typisches’ vollkommenes Leben, das durch entsprechende Topoi festgelegt ist“[16] erzählt. Es verwundert also nicht, dass zahlreiche Elemente der Legende austauschbar sind und immer wieder ähnliche Motive in unterschiedlichen Legenden auftauchen. Auch wenn es Legenden gibt „ohne jede Wundererzählung“[17], so ist „das Element des Wunderbaren“[18] dennoch in den meisten Heiligenviten in Form von religiösen Erscheinungen und anderen übernatürlichen Begebenheiten anzutreffen und wohl einer der ausschlaggebenden Gründe, warum die Legende so häufig in einem Atemzug mit Märchen und Sage genannt wird. Doch gerade das Wunder ist häufig geeignet, die Formen zu trennen: „Das Wunder, dem Märchen etwas Selbstverständliches“ ist in „der Legende Offenbarung des alles beherrschenden Gottes“[19]. Die Sage eint mit der Legende der Wahrheitsanspruch, aber bei ihr fordert „ die ‚Wirklichkeit’ des Übernatürlichen [...] das Erschrecken heraus“, ihr Wunder ist – zumeist, es handelt sich hier natürlich auch um zweckmäßige Vereinfachungen – „das Numinose, das schreckliche und grauenhafte Ereignis“ und wird „durchaus schockhaft empfunden“[20]. Auch in der Legende gibt es wenig erquickliche Begebenheiten übernatürlicher Natur – der Teufel oder einer seiner Dämonen sind keine seltenen Motive in der Gattung. Aber auch ihre Auftritte sind wenig erschreckend, da sie im Regelfall dazu dienen, die Standfestigkeit des Heiligen auch im Angesicht außerweltlicher Bedrohung zu beweisen.
[...]
[1] Marcel Reich-Ranicki, Joseph Roths Flucht ins Märchen. In: ders., Nachprüfung. Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern. München, Zürich 1977. S. 202.
[2] Ebd., S. 203.
[3] Vgl. Joseph Roth, Die Legende vom heiligen Trinker. Köln 1994.
[4] Marcel Reich-Ranicki, Joseph Roths Flucht ins Märchen (wie Anm. 1) S. 208.
[5] Ferdinand Barth, Legenden als Lehrdichtung. In: Hans Gerd Rötzer, Herbert Walz (Hrsg.), Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann zum 70. Geburtstag. Darmstadt 1981. S. 61.
[6] Hans-Peter Ecker, Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung. Stuttgart, Weimar 1993. S. 33.
[7] André Jolles, Einfache Formen. Tübingen 1958. S. 23.
[8] Hans-Peter Ecker, Die Legende (wie Anm. 6) , S. 26.
[9] Ebd., S. 30.
[10] Vgl. Hellmut Rosenfeld, Legende. In: Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweiter Band. Berlin 1965. S. 13 – 31.
[11] Ulrich Wyss, Legenden. In: Volker Mertens, Ulrich Müller(Hrsg.). Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984, S.40
[12] Frank Joachim Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“. Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel. Frankfurt a. Main 1996. S.111.
[13] ebd.
[14] Ebd.
[15] Ulrich Wyss, Legenden (wie Anm. 11). S. 50.
[16] Claudia Maria Riehl, Kontinuität und Wandel von Erzählstrukturen am Beispiel der Legende. Göppingen 1993. S. 14.
[17] Helmut Rosenfeld, Legende. Tübingen 1961. S. 8.
[18] Ebd., S. 5.
[19] Ebd., S. 15.
[20] Leander Petzoldt, Dämonenfurcht und Gottvertrauen. Zur Geschichte und Erforschung unserer Volkssagen. Darmstadt 1989. S.30.
- Citar trabajo
- Mario Fesler (Autor), 2004, Die Verwendung der Gattung Legende in Joseph Roths 'Tarabas', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28463
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