Lange galten kommerzielle Tanzstile als „Stiefkind“ in der Tanzwelt: Als Kunstform wurden sie nicht ernst genommen, für die pädagogische Arbeit waren sie nicht wertvoll genug, fundierte Studien oder Literatur waren schwer zu finden.
Trotz all dieser Umstände konnten sich Hip-Hop, Jazzdance, Videoclip Dance, Streetdance und Co. in der tanzpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten rasant etablieren und die Nachfrage nach diesen Stilen hat im Freizeitbereich längst die klassischen und zeitgenössischen Stile überholt.
Die Gründe für diesen Vormarsch sind vielseitig.
Einer davon könnten etwa die Freiräume sein, die kommerzielle Stile bieten. Denn im Vergleich zur klassischen Tanztechnik sind die (noch viel jüngeren) kommerziellen Stile keine in sich geschlossenen Techniken, sondern lassen nach wie vor Weiterentwicklungen zu.
Anders ausgedrückt: Im klassischen Ballett können Menschen, die nicht jahrelang dafür ausgebildet wurden, wohl kaum einfach eine Choreographie „erfinden“ – im Videoclip Dancing schon. Ganz im Gegenteil. Aus körperlichen und tänzerischen Unvollkommenheiten oder Voraussetzungen, die nicht der tänzerischen Norm entsprechen, ergeben sich gar oft spezielle Trends wie etwa „Tutting“ oder „Krumping“.
Dadurch ermöglichen kommerzielle Tanzstile auch „Nicht-Tänzer/innen“ bald Erfolgserlebnisse und Möglichkeiten sich auszudrücken und eignen sich damit ideal für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Hinzu kommt, dass gerade die rhythmische und sehr übersichtlich strukturierte kommerzielle Musik (im Vergleich zu klassischen oder zeitgenössischen Kompositionen) jungen Menschen mehr Sicherheit bietet, um sich Bewegungen hinzugeben.
Der Vorteil, der durch die Aktualität dieser Stile geboten wird, ist jedoch auch eine große Herausforderung für Menschen, die sich nicht (mehr) ständig mit den tänzerischen Entwicklungen beschäftigen. Denn während sich urbane Tanzstile langsam von der Jugendsubkultur zu Hochkultur „mausern“ konnten und ihren Einzug in Theaterhäuser feiern, ist Literatur über ihre Hintergründe und Möglichkeiten der Aufbereitung nach wie vor nur mangelhaft vorhanden.
Die in diesem Sammelband veröffentlichten Arbeiten stammen alle von Absolventen des Kolleg-Abschlussjahrgangs 2014. Die Vielfältigkeit der Arbeiten spiegelt die breit gefächerten Interessen und Schwerpunkte der Absolventen wider.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Vereins arriOla
CHARLOTTE A ICHHORN
Tanz dich Schlau! Tanz im interdisziplinären Kontext mit Neurowissenschaft und anderen Bildungsbereichen
1 Einleitung
2 Der Tanz
2.1 Was ist Tanz?
2.2 Kreativer Kindertanz
2.3 Die Bedeutung des Tanzens in verschiedenen Bildungsbereichen
2.4 Tanz, Kreativität und Emotionen
2.5 Musik und Rhythmus
2.5.1 Musik aus lernpsychologischer Sicht
2.5.2 Hören, musizieren und erleben im neuronalen Netzwerk
2.6 Tanzpädagogik - erfolgreich lernen und lehren
2.7 Bewegung fördert Lernprozesse im Gehirn
2.8 Tanz als kognitive Tätigkeit
2.8.1 Gedächtnisformen
2.8.2 Das Kurz- und Langzeitgedächtnis
2.8.3 Explizites und implizites Gedächtnis
2.8.4 Motorisches und vorstellendes Gedächtnis
3 Das menschliche Gehirn
3.1 Neuroplastizität
3.2 Aufbau
3.2.1 Der Hirnstamm
3.2.2 Das Großhirn
3.2.3 Das Kleinhirn
3.2.4 Das limbische System
3.2.5 Das Zentralnervensystem
3.3 Neuronen und Synapsen
3.4 Motoneuronen
3.5 Motorische Kontrollsysteme
3.6 Lernen durch Spiegelneuronen
4 Die Integration der Sinne und das Gehirn
4.1 Lernen mit allen Sinnen
4.2 Die Wahrnehmung
4.2.1 Taktile Wahrnehmung
4.2.2 Kinästhetische Wahrnehmung
4.2.3 Vestibuläre Wahrnehmung
4.2.4 Visuelle und auditive Wahrnehmung
4.2.5 Gustatorische und olfaktorische Wahrnehmung
4.3 Raumvorstellung
4.4 Neuronale Entwicklungsprozesse durch sensorische Erfahrung
4.5 Sinnesschulung durch Tanz
5 Schlusswort
Quellenverzeichnis
I SABELL S CHIFFER
Bewegungserziehung im Kindergarten
1 Einleitung
2 Was ist Bewegung?
2.1 Definition/Begriffserklärung
2.2 Die unterschiedlichen Bereiche innerhalb der Motorik
3 Die motorische Entwicklung und die Entwicklung von Bewegungsabläufen von
0-6jährigen Kindern
3.1 Die motorische Verhaltensentwicklung des Fötus
3.2 Die motorische Verhaltensentwicklung des Neugeborenen
3.2.1 Angeborene Reflexe
3.2.2 Zufällige, ungerichtete Bewegungen (Strampeln)
3.2.3 Zielstrebige, gerichtete Bewegungen
3.3 Die motorische Entwicklung im ersten Lebensjahr
3.4 Die motorische Entwicklung im Kleinkindalter - ein bis drei Jahre
3.5 Die motorische Entwicklung vom vierten bis zum sechsten Lebensjahr
4 Der Bildungsbereich „Bewegung“
4.1 Bewegung als ein zentraler Bildungsbereich
4.2 Begründung des Bildungsbereich „Bewegung“ im Rahmen frühkindlicher Bildungsprozesse
4.3 Wie Kinder lernen
4.4 Die Welt durch Bewegung erfahren
4.5 Lernen mit allen Sinnen
4.6 Lernen braucht Bewegung
5 Die Bedeutung der Bewegung für die kindliche Entwicklung
5.1 Bewegung als Erfahrung der dinglichen Umwelt
5.2 Bewegung als Erfahrung des Selbst
5.3 Bewegung als Erfahrung der sozialen Umwelt
5.4 Die Funktionen der Bewegung für Kinder
6 Bewegungsmangel
6.1 Reizüberflutung und Bewegungsarmut
6.2 Die Folgen von Bewegungsmangel
7 Bewegungserziehung im Kindergarten
7.1 Die Ziele der Bewegungserziehung
7.2 Die Inhalte der Bewegungserziehung
7.3 Vermittlungsmethoden
7.4 Bewegung im Kindergarten
7.4.1 Aufgaben der/des PädagogIn
7.4.2 Kindern Raum für Bewegung im Kindergarten geben
7.4.3 Beispiele für eine Bewegungseinheit
8 Schlusswort
Quellenverzeichnis
LISA MARIELLE N EUNER
Selbstachtung durch Tanz. Kreativer Kindertanz, dessen Methoden und deren positive Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung
1 Einleitung
2 Kreativer Kindertanz
3 Stärkung der Selbstwahrnehmung und Selbstwertschätzung durch Tanz
3.1 Emotions in motion - Tanz als Medium zum Ausdruck innerster Empfindungen
3.2 Tanz als Möglichkeit eines individuellen und normfreien Kennenlernens des eigenen Körpers
3.3 Wahrnehmung des Selbst
3.3.1 Selbstwahrnehmung durch das Medium des Körpers
3.4 Von Wahrnehmung zu Wertschätzung seiner Selbst
3.5 Erfahrung der Selbstwirksamkeit durch Tanz
4 Die Rolle des/der Tanzpädagogen/in als Begleiter im Selbstentdeckungsprozess .
4.1 Tanzpädagogen/innen als fachlich-kompetente Experten/innen
4.2 Die größte Herausforderung für Tanzpädagogen/innen im Bereich des kreativen Kindertanzes
4.3 Gemeinsames kreatives Arbeiten und die Symbiose zwischen Pädagoge/in und SchülerInnen
4.4 Tanzpädagogen/innen und ihre zwischenmenschlichen Aufgaben
5 Von Leibeserziehung zu Liebeserziehung- eine Theorie angelehnt an Erich Fromms Konzept der (Selbst)Liebe
5.1 Selbstliebe- eine Begriffserklärung
5.2 Selbstliebe durch Tanz
5.3 Nächstenliebe und altruistische Liebe durch Tanz
6 Von Selbstwahrnehmung zu Fremdwahrnehmung
7 Mit Selbstwahrnehmung kommt Verantwortung
7.1 Die anarchistische Tanzstunde
8 Musik und Sprache als Begleiter des Tanzes und Medium zur Persönlichkeitsentwicklung
8.1 Get into the Groove - Musik als beste Freundin des Tanzes
8.2 Sprache als Weg zum Tanz
9 Stärkung des Raumgefühls durch Tanz - Bewegung des Ichs im Raum
10 Schlussbetrachtung
Quellenverzeichnis
TANJA H UBER
Der Tanzbegriff in Nietzsches Werken und dessen aktueller Bezug zur Tanzpädagogik
1 Einleitung
2 Biographie Nietzsches
3 Der Tanzbegriff
3.1 Nietzsches Tanzbegriff
3.1.1 Ästhetik als wesentlicher Teil von Nietzsches Tanzbegriff
3.1.2 Apollinisch - Dionysisch; zwei Begriffe mit großer Bedeutung
3.1.2.1 Dionysisch
3.1.2.2 Apollinisch
3.1.2.3 Apollinisch und Dionysisch als Gegensatzpaar
4 Tanzenkönnen - Füße, Begriffe, Worte, Feder
4.1 Die Sprache des Tanzes
4.2 Die Tanzgebärde
5 Tanz und Bewegungsformen in Nietzsches „Zarathustra“
5.1 „actio in distans“
5.2 „Dis-tanz“, „Unter-Gänge“, „Über-Gänge“
5.3 Tanzlieder und Aphorismen
6 Tanzpädagogik
7 Nietzsches Tanzbegriff im Bezug zur aktuellen Tanzpädagogik
7.1 Kreativer Kindertanz
7.2 Nietzsches Tanzbegriff und aktuelle Tanzpädagogik - Der Versuche einer Bezugnahme
8 Resümee
Quellenverzeichnis
SEJLA S OFTIC
Mut zum Tanz. Integration von kommerziellem Tanz im Unterricht an österreichischen allgemein bildenden höheren Schulen
1 Einleitung
2 Tanz
2.1 Kommerzielle Tanzstile
2.1.1 Modern
2.1.2 Jazz Dance
2.1.3 Hip Hop
2.2 Vorteile Kommerzieller Tanzstile
3 Tanz im österreichischen Curriculum der AHS
3.1 Unterrichtsfach Bewegung und Sport
3.2 Tanz in der Schule - historische Entwicklung und aktueller Stand
3.3 Hürden in der Praxis
4 Tanz in der AHS - mögliche Unterrichtskonzepte
4.1 Tanzworkshops mit professionellen Tanzpädagogen auf Projektbasis
4.2 Mut zum Tanz - Lehrerfortbildung und Schülereinbindung
5 Initiativen - Tanz im AHS Unterricht
6 Zusammenfassung
Quellenverzeichnis
KLAUDIA KMAK
Qualität des Tanzunterrichts in Wien. Das Tanzangebot im Sommersemester 2014 für Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren in öffentlichen Einrichtungen und die Ausbildungsmöglichkeiten der Tanztrainerinnen und Tanztrainer
1 Einleitung
2 Methode
2.1 Keywords
2.2 Forschungsfragen
3 Tanzangebot von öffentlichen Einrichtungen im Sommersemester 2014 für Kinder zwischen 4 und 14 Jahren
3.1 Musikschulen
3.1.1 Entstehung der Musikschulen
3.1.2 Tanzkurse in Musikschulen
3.2 Volkshochschulen
3.2.1 Entstehungsgeschichte der VHS
3.2.2 Tanzkurse der VHS in Wien
3.3 Musisches Zentrum
3.3.1 Entstehung des Musischen Zentrums
3.3.2 Tanzkurse des Musischen Zentrums
4 Auswertung des Tanzangebotes
5 Rolle des kommerziellen Tanzes in der heutigen Gesellschaft
6 Zeitgenössische/ Klassische Tanzstile
6.1 Tanzstilursprung
6.1.1 Ballett
6.1.2 Modern Dance
6.1.3 Kreativer Kindertanz
6.2 Ausbildungsmöglichkeiten in Österreich im Bereich Zeitgenössischem Tanz und Pädagogik
7 Kommerzielle Tanzstile
7.1 Tanzstildefinitionen
7.1.1 Jazz
7.1.2 Hip Hop
7.1.3 Videoclip Dancing
7.1.4 Stepptanz
7.2 Ausbildungsmöglichkeiten für kommerzielle Tanzstile und Pädagogik in Österreich
8 Rolle der Entwicklungspsychologie in der Tanzausbildung
8.1 Entwicklungspsychologische Entwicklung für Kinder zwischen 4 und 6 Jahre
8.2 Entwicklungspsychologische Entwicklung für Kinder ab 6 Jahren
9 Disskussion und Schlussfolgerung
Quellenverzeichnis
Vorwort des Vereins arriOla
Lange galten kommerzielle Tanzstile als „Stiefkind“ in der Tanzwelt: Als Kunstform wurden sie nicht ernst genommen, für die pädagogische Arbeit waren sie nicht wertvoll genug, fundierte Studien oder Literatur waren schwer zu finden
Trotz all dieser Umstände konnten sich Hip-Hop, Jazzdance, Videoclip Dance, Streetdance und Co. in der tanzpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten rasant etablieren und die Nachfrage nach diesen Stilen hat im Freizeitbereich längst die klassischen und zeitgenössischen Stile überholt. (Anm.: Dieses Thema behandelt Klaudia Kmak ab Seite 137.)
Die Gründe für diesen Vormarsch sind vielseitig
Einer davon könnten etwa die Freiräume sein, die kommerzielle Stile bieten. Denn im Vergleich zur klassischen Tanztechnik sind die (noch viel jüngeren) kommerziellen Stile keine in sich geschlossenen Techniken, sondern lassen nach wie vor Weiterentwicklungen zu
Anders ausgedrückt: Im klassischen Ballett können Menschen, die nicht jahrelang dafür ausgebildet wurden, wohl kaum einfach eine Choreographie „erfinden“ - im Videoclip Dancing schon. Ganz im Gegenteil. Aus körperlichen und tänzerischen Unvollkommenheiten oder Voraussetzungen, die nicht der tänzerischen Norm entsprechen, ergeben sich gar oft spezielle Trends wie etwa „Tutting“ oder „Krumping“. Dadurch ermöglichen kommerzielle Tanzstile auch „Nicht-Tänzer/innen“ bald Erfolgserlebnisse und Möglichkeiten sich auszudrücken und eignen sich damit ideal für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Hinzu kommt, dass gerade die rhythmische und sehr übersichtlich strukturierte kommerzielle Musik (im Vergleich zu klassischen oder zeitgenössischen Kompositionen) jungen Menschen mehr Sicherheit bietet, um sich Bewegungen hinzugeben.
Der Vorteil, der durch die Aktualität dieser Stile geboten wird, ist jedoch auch eine große Herausforderung für Menschen, die sich nicht (mehr) ständig mit den tänzerischen Entwicklungen beschäftigen. Denn während sich urbane Tanzstile langsam von der Jugendsubkultur zu Hochkultur „mausern“ konnten und ihren Einzug in Theaterhäuser feiern, ist Literatur über ihre Hintergründe und Möglichkeiten der Aufbereitung nach wie vor nur mangelhaft vorhanden.
Das KKTP, Österreichs erstes Kolleg für Tanzpädagogik, soll daher nicht nur anhand von vielen praktischen und theoretischen Einheiten Anleitungen zum Einsatz von kommerziellen Stilen in der tanzpädagogischen Arbeit bieten, sondern diese auch im Rahmen von fundierten Abschlussarbeiten erforschen.
Das Angebot vom KKTP richtet sich in erster Linie an Menschen mit tänzerischen und/oder pädagogischen Vorkenntnissen, die eine tanzpädagogische Tätigkeit im Amateurbereich (Tanzstudios, Schulen, Freizeiteinrichtungen etc.) anstreben. Das Curriculum enthält eine didaktische und methodische Ausbildung für alle Altersbereiche, legt dabei sein Hauptaugenmerk aber speziell auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Wie alle Ausbildungen in Kolleg-Form handelt es sich beim KKTP um eine kompakte Berufsausbildung, welche sehr praxisnah gestaltet ist und auch berufsbegleitend absolviert werden kann. Für alle Auszubildenden mit Hauptwohnsitz in Wien dient das arriOla Tanzstudio als sogenannte Base-School, an der die tänzerischen und pädagogischen Praxis- sowie Hospitationsstunden und der Begleitkurs absolviert werden. Mit seiner langjährigen Erfahrung bildet das ArriOla-Tanzstudio heute Wiens größtes Kindertanzstudio mit vielen weiteren Tanzprojekten im Freizeit- und Bildungsbereich in ganz Österreich.
Ziel des KKTP ist die Ausbildung von TanzlehrerInnen auf pädagogischer, tänzerischer und choreografischer Ebene, wodurch sie dann befähigt sind, SchülerInnen vom Kinder- bis zum Erwachsenenalter ein vielfältiges Unterrichtsspektrum an kommerziellen Tanzstilen zu bieten.1
Die in diesem Sammelband veröffentlichten Arbeiten stammen alle von Absolventen des Kolleg-Abschlussjahrgangs 2014. Die Vielfältigkeit der Arbeiten spiegelt die breit gefächerten Interessen und Schwerpunkte der Absolventen wider.
CHARLOTTE AICHHORN
„Tanz dich schlau!“ Tanz im interdisziplinären Kontext mit der Neurowissenschaft und anderen Bildungsbereichen.
1 Einleitung
Die Bereiche Musik, Rhythmik, Tanz, Pädagogik und Psychologie haben mich schon während meiner Schulzeit sehr interessiert, was sich auch an meinen Abschlusszeugnissen leicht erkennen lässt, wenn man sich die Schwerpunktfächer anschaut. Denke ich an den Musikunterricht an meinem Gymnasium zurück, habe ich immer ein ganz bestimmtes Bild vor Augen, das unter anderem der Beweggrund beziehungsweise der Denkanstoß für meine vorliegende Arbeit gewesen ist.
In unserem Musikraum stand ein großer, schwarzer Flügel vor einer breiten Pinnwand und auf dieser hing während meiner gesamten acht Jahre Schullaufbahn ein ganz bestimmter Zeitungsartikel. Auf dem Bild war ein Junge mit einer Geige zu sehen und in großer Schrift stand der Titel: „Musik macht Kinder klug“. Diese Überschrift hat bei mir unbewusst scheinbar mehr Eindruck hinterlassen, als ich es mir gedacht hätte. Ich machte mir immer wieder Gedanken zu diesem Zeitungsartikel, auch in Verbindung mit Tanz, und überlegte, wenn das für Musik gilt, muss es doch auf für den Tanz eine Bedeutung haben. Bestimmt lag es auch daran, dass mich Tanzen generell immer herausforderte und besonders das Merken von Choreographien nicht immer das Leichteste für mich war. Aus diesem Grund dachte ich mir oft „tanzen ist mehr als nur tanzen“, denn um es umgangssprachlich zu formulieren: Man muss dabei manchmal ganz schön sein Hirn anstrengen.
In den vergangenen Monaten, als ich begonnen habe tanzpädagogisch tätig zu sein, ist mir aufgefallen, dass es auch den Kindern unterschiedlicher Altersstufen nicht immer leicht fällt eine schwierigere Tanzabfolge alleine wiederzugeben. Daher habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie oder wie viel tanzen - eine auf den ersten Blick rein körperliche Aktivität - die kognitive, soziale und emotionale Ebene beansprucht. Es muss also mehr dahinter stecken und das möchte ich gerne herausfinden.
Aus diesem Grund habe ich das Thema „Tanz dich schlau! Tanzpädagogik im interdisziplinären Kontext mit der Neurowissenschaft und anderen Bildungsbereichen“ für meine Arbeit gewählt und stelle mir folgende Frage: Welchen Einfluss hat Tanz auf das Gedächtnis, die damit verbundene Wahrnehmung und andere Bildungsbereiche? Dabei beziehe ich mich allgemein auf kommerzielle Tanzstile (wie Ballett, Jazzdance, Hip-Hop, Streetdance, Lyrical usw.) und den kreativen Kindertanz. Somit gehe ich besonders auf das Kindes- und Jugendalter ein, werde aber auch ausgewählte Beispiele bei professionellen BühnentänzerInnen erläutern.
Zu Beginn meiner Arbeit möchte ich einen allgemeinen Überblick über den Tanz geben, wobei ich mich parallel immer auf die lernpsychologischen und neurowissenschaftlichen Aspekte des Tanzes beziehen werde. Da Tanz, Musik und Rhythmus eine Einheit bilden, möchte ich darauf auch kurz im ersten Kapitel eingehen. Im weiteren Verlauf werde ich mich mit dem menschlichen Gehirn genauer auseinandersetzen, um auf die Gedächtnisformen und -leistungen im Tanz aus neurowissenschaftlicher Sicht eingehen zu können. Im letzten Kapitel widme ich mich einem Thema, welches den Tanz und das Gehirn in Verbindung bringt, nämlich die Wahrnehmung.
In der vorliegenden Arbeit werde ich meine Fragestellung mit wissenschaftlich fundierten Quellen erforschen.
In meinem Schlusswort möchte ich versuchen, alle Erkenntnisse und Schlussfolgerungen auf die tanzpädagogische Praxis mit Kindern umzulegen, um anschließend zu einer Beantwortung meiner Fragestellung zu kommen.
2 Der Tanz
2.1 Was ist Tanz?
Der Tanz ist ein Ausdrucksmittel durch rhythmische Körperbewegungen und kann unter anderem zur Kommunikation und zum Darstellen von Gefühlen dienen. Tanz ist eine darstellende Kunstform und hat je nach Kultur unterschiedliche Bedeutungen und Formen.2 Der Begriff Tanz impliziert neben den vielen unterschiedlichen Tanzstilen für jeden Menschen auch eine verschiedenartige Bedeutung. So kann Tanz als Kommunikationsund Ausdrucksmittel, als kulturelles Erbe, als Sport, als Kunstform oder als rhythmische Bewegung des Körpers betrachtet werden.3
Die tänzerische Bewegung ist multidimensional und umfasst verschiedene Dimensionen wie Raum, Zeit und Energie/Kraft. TänzerInnen machen den Raum beziehungsweise das Raumvolumen durch horizontale und vertikale Bewegungen für den Zuschauer sichtbar. Dies kann alleine oder in einer Gruppe geschehen und unterschiedliche Bewegungsqualitäten beinhalten. Neben dem Raum wird durch Eigenschaften wie Dauer oder Geschwindigkeit einer Bewegung auch die Dimension Zeit im Tanz erkennbar. Somit kann der Aspekt Zeit durch schnelle, rasch aufeinander folgende Tanzelemente komprimiert werden, aber auch durch Pausen, langsame, ausgedehnte Bewegungen verlängert werden. Eine wichtige Rolle spielt hier auch der Zeitablauf, welcher durch die Ab- beziehungsweise Reihenfolge der Bewegungen strukturiert wird. Die dritte Dimension im Tanz ist die Energie. Damit sich der Körper bewegen kann, ist Kraft notwendig und dazu wiederum Energie. TänzerInnen müssen also Energie aufbringen und gezielt einsetzen, um bestimmte Bewegungselemente mit dem Körper auszuführen.4
2.2 Kreativer Kindertanz
Beim kreativen Kindertanz ab dem vierten Lebensjahr handelt es sich laut Judith Frege in erster Linie um eine spielerische Heranführung an den Tanz. Dabei steht die Schulung körperlicher und geistiger Fähigkeiten durch die bewusste Bewegungserziehung im Vordergrund. Kinder haben von Natur aus einen Bewegungsdrang und eine Bewegungsfreude, welche es zu fördern gilt. Im kreativen Kindertanz soll diese Bewegungsfreude aufgegriffen werden und gleichzeitig auch Platz für die kindliche Fantasie sein. Somit können Kinder eine Vielfalt an Bewegungsmöglichkeiten kennenlernen, entwickeln und in weiterer Folge in tänzerischer Form anwenden. Durch verschiedene Übungen werden die Bereiche rhythmische Erziehung, Technik und schöpferisches Gestalten gefördert. Wichtig ist dabei, eine Ausgewogenheit dieser Bereiche zu beachten. Außerdem soll den Kindern dabei Sicherheit und das Gefühl von Selbstbewusstsein vermittelt werden. Der kreative Kindertanz umfasst wichtige Basiselemente des Tanzes wie zum Beispiel das Strecken und Beugen des Beines/Fußes. Somit wird der Körper auf kindgerechte Art und Weise geformt und die Muskulatur aufgebaut. Im Vordergrund steht das spielerische Heranführen an technische Übungen durch unterschiedliche Motive, welche die Fantasie der Kinder anregen. Dadurch wird beispielsweise eine trockene, technische Aufgabe interessant und weckt die Vorstellungskraft der Kinder, was wiederum zu einer höheren Motivation bei der Ausführung einer Übung führt. Hinzu kommt auch die Auseinandersetzung mit den drei von Rudolf Laban geprägten Grundelementen des kreativen Kindertanzes: Kraft, Zeit, Raum.5
2.3 Die Bedeutung des Tanzens in verschiedenen Bildungsbereichen
Tanz lässt sich nicht nur auf eine rein körperliche Tätigkeit reduzieren. Im Tanz werden neben der physischen Ebene unterschiedliche Fähigkeiten und Bereiche beansprucht wie zum Beispiel die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung.6 Der Choreograph Royston Maldoom beschreibt in seinem Beitrag zur Kunstvermittlung, warum Tanz eine wichtige Rolle in der emotionalen Erziehung spielt. „Da psychologische Programme die Art, wie Menschen fühlen, beeinflussen können, beobachten wir gleichzeitige Veränderungen in Haltung, Körpersprache und Bewegung. Es ist meine eigene Erfahrung […], dass gute Tanzprogramme in kürzester Zeit solche körperlichen Veränderungen mit sich bringen und damit verbunden auch Veränderungen in der Art des Fühlens, des emotionalen Verhaltens, des Selbstwertgefühls und der Kommunikation miteinander und mit der Umgebung.“7
Auch Barbara Haselbach vertritt den Standpunkt, dass Tanz- und Bewegungserziehung viele günstige Gelegenheiten bietet, soziales Verhalten zu entwickeln. So ist es zum Beispiel bei unterschiedlichen Übungen in der Tanzstunde wichtig, dass Kinder lernen andere nicht zu behindern oder zu stören und trotzdem genügend Raum für sich selbst finden. Ebenso gibt es im kreativen Kindertanz auch Partner- oder Gruppenaufgaben, die Zusammenarbeit erfordern, weshalb neben dem Tanz auch spielerisch die Sozialkompetenz gefördert wird. Aus diesem Grund ist tanzen nicht nur eine gute Möglichkeit zur Bildung von Gemeinschaften, sondern wirkt auch kommunikationsfördernd. Beim Tanzen in einer Gruppe, beim Überwinden einer schwierigen Gruppenübung oder bei einer gemeinsamen Aufführung überwiegen oft die Freude am Tun und das Gemeinschaftsgefühl. All diese gemeinsamen Erfahrungen wirken sich positiv auf die Kommunikation untereinander aus.
Eine Förderung im sprachlichen Bereich geschieht auch durch die Vermittlung einer Tanzterminologie. Da es für die unterschiedlichen Tanzschritte bestimmte Bezeichnungen gibt, wird automatisch das Vokabular auf diesem Gebiet erweitert. Somit werden differenzierte Bezeichnungen in den Wortschatz aufgenommen, welche die einzelnen Bewegungen charakterisieren.8
Brigitte Bergmann vertritt ebenso den Standpunkt, dass Tanz zu ganzheitlichem Lernen beiträgt. Im Tanz wird nicht nur ein gesundes Körpergefühl und ein Körperbewusstsein entwickelt, sondern auch die Grob- und Feinmotorik geschult. Des Weiteren kann durch das Erlernen der unterschiedlichen Tanzschritte die Konzentrationsfähigkeit gesteigert werden und das Gedächtnis wird trainiert.9
Neben dem körperlichen, sozialen, kognitiven und sprachlichen Aspekt wird durch das Tanzen auch die personale Funktion entwickelt und geschult. Kinder können durch die Bewegung im Tanzunterricht den eigenen Körper besser kennenlernen und sich mit ihren körperlichen Fähigkeiten befassen. Dadurch können sich Kinder selber besser kennenlernen und ein Bild über sich selbst entwickeln. Tanzen hat auch eine produktive Funktion, da mit dem Körper selber etwas geschaffen beziehungsweise hervorgebracht wird - sei es eine Grundbewegungsart oder eine komplexe Bewegungsabfolge von Tanzschritten. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass sich im Tanz auch eine expressive und eine komparative Funktion finden. Emotionen und Empfindungen können durch die körperliche Bewegung ausgedrückt und vermittelt werden und durch den Aspekt der Gruppe kann man die Tanzfähigkeiten auch untereinander vergleichen beziehungsweise wetteifern. Tanz und Bewegung bieten also viele Möglichkeiten für die Entwicklung in den unterschiedlichsten und oft elementaren Bildungsbereichen.10
2.4 Tanz, Kreativität und Emotionen
Neben der kognitiven Ebene, die beim Tanzen beansprucht wird, spielen auch Gefühle und Emotionen eine große Rolle. Durch die unterschiedlichen Bewegungsfolgen werden bei TänzerInnen auch unterschiedliche Vorstellungen geweckt, welche ebenfalls im motorischen Gedächtnis ihren Platz haben. Somit kann aus einer Vorstellung eine Bewegung werden und umgekehrt. Besonders im deutschen Ausdruckstanz ist die Verbindung von Emotionen und Gefühlen mit dem Tanz von Bedeutung.11
Im kreativen Tanz mit Kindern sollte nicht nur die Leistung im Vordergrund stehen, sondern auch Raum für Kreativität also freies, schöpferisches Gestalten sein. Dabei ist es wichtig, dass Kinder angeregt und bestärkt werden kreative Übungen individuell zu lösen und nicht nach einem standardisierten Beispiel. Dies ermöglicht jedem Kind seine entsprechende Ausdrucksform in der Bewegung zu finden. Daher ist neben dem Erarbeiten eines gemeinsamen Themas beziehungsweise Tanzes ein kreativer Teil von Bedeutung für die Differenzierung und Individualisierung.12
Barbara Haselbach schreibt „Tanzerziehung gehört auch zum Bereich der ästhetischen Erziehung. Sie ist bestrebt, die physischen, affektiven und intellektuellen Fähigkeiten des Kindes durch die Bewegung zum Ausdruck und zur Entfaltung zu bringen.“13 Daher formuliert sie als Ziele des Tanzunterrichts einerseits die Erziehung durch Bewegung und Tanz, andererseits die Erziehung zum Tanz durch die künstlerischen und schöpferischen Aspekte. Aus diesem Grund sollte die Bewegungsbildung im Tanz die Möglichkeit bieten, bereits Bekanntes weiter zu üben und zu vertiefen, aber auch neue, unbekannte Bewegungen zu erproben.14
2.5 Musik und Rhythmus
Musik und Rhythmus sind in Verbindung mit dem Tanz zwei wichtige Komponenten, die jedem bekannt sind. Doch wie lassen sich diese Begriffe eigentlich definieren? Was ist Musik, was ist Rhythmus?
Der Rhythmus ist nicht nur in der Musik ein Begriff, sondern auch im alltäglichen Leben.
Menschen haben zum Beispiel einen biologischen Rhythmus oder einen Tages- und Nachtrhythmus. In der Musik hingegen versteht man unter Rhythmus die zeitliche Anordnung der Töne. Ein Rhythmus kann verschiedene Eigenschaften aufweisen und beispielsweise einfach und nachvollziehbar gestaltet sein oder sehr komplex und vielschichtig.
Musik ist Klang und besteht aus verschiedenen Elementen wie zum Beispiel Rhythmus, Dynamik, Klangfarbe und Melodie. Durch die drei Merkmale Tempo, Metrum und Rhythmus wird die Musik zeitlich strukturiert. Musik kann verschiedenste Gefühle und Emotionen ausdrücken beziehungsweise hervorrufen und somit den Hörer in verschiedene Stimmungen versetzen. Sie wird vom menschlichen Gehör aufgenommen, verarbeitet und somit Teil der menschlichen Wahrnehmung.15
2.5.1 Musik aus lernpsychologischer Sicht
Lernen ist ein ganzheitlicher Prozess, sprich es sollten alle Areale des Gehirns ausgeglichen miteinander arbeiten und darauf kann Musik einen positiven Einfluss haben. Durch das Hören von Musik mit verbalen (Sprache) und musikalischen Reizen werden im menschlichen Gehirn verschiedene Regionen aktiviert und verknüpft. Die linke Hemisphäre (Gehirnhälfte) wird durch die verbalen Reize und die rechte Hemisphäre durch die Musik aktiviert. Musik fördert daher auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Hemisphären. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich im Gehirn besonders dann neue neuronale Verbindungen entwickeln, wenn beim Lernen eine interessante, angenehme und anregende Atmosphäre vorhanden ist und dies kann durch Musik unterstützt werden. Durch Musik können Emotionen und positive Gefühle entstehen und dadurch kann die Lernmotivation gesteigert werden. Folglich unterstützt der Einsatz von Musik, wie zum Beispiel im Tanzunterricht, kognitives und emotionales Lernen.16
2.5.2 Hören, musizieren und erleben im neuronalen Netzwerk
Musik und musizieren beschränkt sich nicht nur auf das Hören von Musik sondern beinhaltet auch andere Prozesse wie feinmotorische Arbeit mit den Händen beim Spielen eines Instrumentes, Musik und Rhythmus im Tanz oder der Einsatz der eigenen Stimme um zu musizieren. Da Musik viele verschiedene Aspekte und Ebenen anspricht, beteiligen sich auch im Gehirn unterschiedliche Areale wie zum Beispiel der Bereich für die Motorik, welcher für die Ausführung und Planung von Bewegungen verantwortlich ist. Laut Manfred Spitzer macht das gesamte Gehirn Musik, da viele Areale an der Verarbeitung beteiligt sind. Es fasst komplexe Bewegungen beim Musizieren und Tanzen zusammen mit Bewegungen beim Singen oder Klopfen eines Rhythmus und diese werden in motorischen und sensorischen Bereichen im Gehirn verarbeitet. Tanz und Musik sind daher aus neurologischer Sicht stark miteinander verknüpft.17
2.6 Tanzpädagogik- erfolgreich lernen und lehren
Es gibt in der Pädagogik einige wichtige Erkenntnisse über das Lernen allgemein, die auch auf das Tanzenlernen zutreffen. Von Bedeutung ist zum Beispiel die Lernmotivation des lernenden Kindes zu erhalten und zu fördern. Dazu ist es wichtig, dass eine Aufgabe ein Kind weder unter- noch überfordert. Sprich die Tanzschritte sollten der Altersgruppe beziehungsweise dem Können der Kinder angepasst sein, sodass zwar eine Herausforderung besteht, aber die Aufgabe bewältigbar bleibt. Der Prozess des Lernens sollte von positiven Gefühlen begleitet sein, anstatt durch unerreichbare Ziele zu entmutigen. Dadurch stellt sich ein Lernerfolg ein und die Kinder werden zum Lernen motiviert. Außerdem ist für das Erlernen neuer Inhalte oder Bewegungen generell Übung und Wiederholung wichtig, um Sicherheit und Routine zu erlangen. Ganz nach dem Motto: Übung macht den Meister.18
Der Neurobiologe Gerald Hüther erklärt, dass sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen jede Erfahrung und Wahrnehmung von neuem Wissen an bereits vorhandenes Können und Wissen anknüpft, sprich an etwas Vertrautes. Nun ist die Bereitschaft sich auf etwas Neues einzulassen bei Kindern umso größer, je sicherer und vertrauter die Lernumgebung und die Lernatmosphäre sind. Dies ist ein wichtiger Aspekt für das Lernen, weil Angst und Druck ebenso wie Verunsicherung im Gehirn Erregung erzeugen und diese den Lernprozess hemmt oder sogar blockiert. Daher bildet das Vertrauen eine essentielle Basis für Entwicklungs- und Bildungsprozesse.19
2.7 Bewegung fördert Lernprozesse im Gehirn
Dass Bewegung unterschiedlicher Art und somit auch tanzen förderlich für die Gesundheit ist und sich positiv auf das allgemeine Wohlbefinden auswirkt, ist eine altbekannte Tatsache. Doch Bewegung und sportliche Betätigung wirkt sich auch auf Lernprozesse in unserem Gehirn aus. Durch Bewegung können die Blutzellen in unserem Körper Sauerstoff besser aufnehmen, was wiederum zur Folge hat, dass sich nicht nur die Muskel-, Lungen-, und Herzfunktion steigern, sondern auch die Hirnfunktion verbessert wird. Dazu ergab eine Studie, die in England mit Schulkindern durchgeführt wurde, dass SchülerInnen, die vor dem Unterricht fünf Minuten lang Gymnastikübungen gemacht haben, bessere Leistungen erbrachten und effizienter lernen konnten als SchülerInnen ohne jene Bewegungseinheit.20
2.8 Tanz als kognitive Tätigkeit
2.8.1 Gedächtnisformen
„Tänzerische Bewegung kann ebenso Ausdruck von Denken sein, wie es Denken auslösen kann.“21
Beim Tanzen ist der Körper unser Instrument, um mit Bewegungen etwas mitzuteilen. Im Tanz werden Fähigkeiten wie Beobachtung und Nachahmung gefordert, damit wir Gefühle und Emotionen tänzerisch umsetzen können. Es werden beispielsweise tänzerische Darstellungsfähigkeiten und Techniken oder Improvisation erlernt. Dafür ist es notwendig, über Form und Rhythmus der Bewegung nachzudenken, und somit impliziert tanzen einen Denkprozess.22
2.8.2 Das Kurz- und Langzeitgedächtnis
Stephan Brinkmann geht davon aus, dass TänzerInnen im Laufe ihrer Tätigkeit ein sogenanntes Bewegungsgedächtnis entwickeln. Dabei stellt sich besonders für die Kognitionswissenschaft die Frage, ob das Gedächtnis und die Wahrnehmung überhaupt getrennt voneinander betrachtet werden können, da Wahrnehmungs- und Verarbeitungszentren im Gehirn zusammenarbeiten. Grundsätzlich lassen sich seit den Anfängen der Gehirnforschung zwei Arten der Gedächtnisformen unterscheiden, die bis heute Gültigkeit haben. Das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis.
Im Kurzzeitgedächtnis werden Informationen durch Aufmerksamkeit und Wiederholung für zirka eine halbe Stunde gespeichert. An der Schnittstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis werden passive Informationen vom Kurzzeitgedächtnis in bewusste Verarbeitungsprozesse umgewandelt. Diese Schnittstelle nennt man in der Neurowissenschaft auch Arbeitsgedächtnis. Befinden sich die Informationen im Arbeitsgedächtnis, sind sie also von der passiven Information in einen bewussten Verarbeitungsprozess übergegangen, können sie schließlich für aktive Handlungen genutzt werden. Das Arbeitsgedächtnis steht im Mittelpunkt der Gedächtnisprozesse und ist die Verbindung zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Durch Wiederholungen werden Informationen vom Kurzzeitgedächtnis schließlich im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Brinkmann beschreibt, dass professionelle TänzerInnen während ihrer jahrelangen Ausbildung motorische Informationen verinnerlichen und darauf zurückgreifen, also Bewegungen erinnern.23
2.8.3 Explizites und implizites Gedächtnis
Das Langzeitgedächtnis lässt sich in das implizite und das explizite Gedächtnis unterteilen. Das implizite Gedächtnis ist für das Behalten von Bewegungen verantwortlich, entwickelt sich stetig und speichert Fähigkeiten, welche nicht vollständig bewusst erinnert werden können. Ein Beispiel dafür sind motorische Fähigkeiten wie Rad fahren, Klavier spielen oder das Tanzen. Das explizite Gedächtnis ist hingegen für das bewusste Erinnern von vergangenen Erfahrungen, sprich theoretischem Wissen, verantwortlich.
Besonders das implizite Gedächtnis ist daher für die Tanzwissenschaft ein interessanter Bereich. Wie schon erwähnt entwickelt sich das implizite Gedächtnis konstant, aber langsam und braucht daher Zeit. Auf den tanzpädagogischen Bereich übertragen bedeutet dies: „Organisch ineinandergreifende Bewegungsabläufe, wie im Tanz, müssen vor ihrer Ausführung gesehen, vorbereitet, gelernt und verinnerlicht werden.“24 Da TänzerInnen ihre Bewegungen auch mental beziehungsweise theoretisch erfassen müssen, sind das explizite und das implizite Gedächtnis nicht nur getrennt voneinander zu betrachten, sondern stehen miteinander in Beziehung.25
2.8.4 Motorisches und vorstellendes Gedächtnis
Das implizite Gedächtnis kann man deshalb auch als motorisches Gedächtnis verstehen. Körperbewegungen werden vom Gedächtnis abgespeichert und verinnerlicht. Die Entwicklung eines motorischen Gedächtnisses ist ein Prozess, der durch Übung und Wiederholung von bestimmten Bewegungsabläufen entsteht. Unter dem motorischen Gedächtnis wird auch die erworbene Tanztechnik verstanden. Es wird eine neuromuskuläre Koordination entwickelt, wodurch ein Bewegungspotential entsteht. Durch das Üben gleicher Tanzschritte wie zum Beispiel in einer Choreographie werden diese Bewegungsabläufe automatisiert und im Gedächtnis abgespeichert.
Wie bereits erwähnt ist tanzen auch mit Gefühlen und Emotionen verbunden, was bedeutet, dass auch Erinnerungen beziehungsweise die Vorstellung eine große Rolle dabei spielen. Wenn man zum Beispiel bestimmte Tanzschritte beziehungsweise eine Choreographie erlernt, hat man meist schon eine genaue Vorstellung davon im Kopf. Ziel ist es dann, dieses Bild in die einzelnen Schritte aufzugliedern und mit dem Körper umzusetzen. Brinkmann geht davon aus, dass jede Tanzbewegung mit einer Vorstellung verbunden ist. Im Tanz wirken das motorische und das vorstellende Gedächtnis stets zusammen und greifen ineinander.
Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Das motorische Gedächtnis arbeitet nach dem Prinzip der Wiederholung und sorgt dafür, dass erlernte Tanzbewegungen verinnerlicht werden und abrufbar sind. Dadurch ist es möglich, eine Choreographie aus dem Gedächtnis abzurufen und wiederzugeben. Der Tanz wird somit vermittelbar und reproduzierbar. Mit dem vorstellenden Gedächtnis hingegen kann die Form der Tanzbewegungen durch Dynamik und Emotion belebt werden. Im Tanz werden beide dieser Gedächtnisformen gleichermaßen beansprucht, wodurch Motorik und Vorstellung im Tanz zu einer Einheit verschmelzen.26
Das menschliche Gehirn ist sehr komplex und Neurowissenschaftler erforschen, in welchen Arealen bestimmte Gedächtnisvorgänge stattfinden. Um einen Einblick in die Neurowissenschaft zu bekommen und zu veranschaulichen, welche Regionen im Gehirn für welche Funktionen verantwortlich sind, möchte ich mich im nächsten Kapitel genauer damit befassen.27
3 Das menschliche Gehirn
Das menschliche Gehirn ist ein sehr komplexes Organ mit vielen verschiedenen Funktionen. Im folgenden Kapitel möchte ich daher einen allgemeinen Überblick geben und auf ausgewählte Bereiche genauer eingehen, die mir für die Verbindung von Tanz und den motorischen Bereich beziehungsweise die Sinneswahrnehmung besonders relevant erscheinen.
Das menschliche Gedächtnis ist ein Informationsspeicher. Es ermöglicht uns, Informationen unterschiedlichster Art aufzunehmen, zu speichern und in bestimmten Situationen wieder abzurufen. All diese Informationen werden durch die Sinnesorgane aufgenommen und verarbeitet, bis sie schließlich in bestimmte Areale des Gehirns weitergeleitet werden.28
3.1 Neuroplastizität
Während früher angenommen wurde, dass sich das menschliche Gehirn beziehungsweise die Anzahl der Nervenzellen nach der Geburt nicht mehr sonderlich entwickeln würden, ist in der Neurowissenschaft heute klar: Das Gehirn ist keineswegs statisch. Im Gegenteil, das Gehirn ist plastisch und entwickelt sich laufend durch Lernprozesse.29
Aufgrund dieser Lernprozesse werden im Gehirn die Verbindungen zwischen den Nervenzellen ständig verändert. Diese Verbindungen nennt man Synapsen. Vereinfacht bedeutet das, dass bestimmte Reize vom Gehirn immer wieder verarbeitet werden, sich dadurch die Stärke der Synapsen verändert und dadurch wiederum die Wahrnehmung und Bewegungen schneller und genauer funktionieren können. Diese Anpassungsvorgänge im Gehirn nennt man Neuroplastizität.30
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Querschnitt des menschlichen Gehirns
3.2 Aufbau
3.2.1 Der Hirnstamm
Der Hirnstamm ist die Fortsetzung des Rückenmarks (verlängertes Mark) in das Gehirn. Dort befinden sich alle auf- und absteigenden Nervenstränge, viele wichtige Kerne und Nervenzellen. Durch den Hirnstamm sind das verlängerte Rückenmark, die Brücke und das Mittelhirn miteinander verbunden.31 Der Hirnstamm ist ein wichtiges Zentrum, da hier Informationen aus allen Sinnesbereichen miteinander verknüpft werden. Zu den Aufgaben des Hirnstammes gehören die Steuerung der einfachen Halte- und Stellreflexe, die Kontrolle der Körperstellung im Raum und Funktionen wie Atmung, Kreislauf und Verdauung.32
3.2.2 Das Großhirn
Die beiden Gehirnhälften bilden die Hauptmasse des Gehirns und werden in die rechte und linke Großhirnhemisphäre unterteilt. Verbunden werden sie durch den sogenannten Balken. Beide Gehirnhälften können allgemeine Grundleistungen durchführen, jedoch zeigen Untersuchungen, dass bei der Ausführung unterschiedlicher Gehirnfunktionen immer eine Hemisphäre in der Leistung dominiert. Dabei ist wichtig zu bedenken, dass diese Gehirnareale nur einen Schwerpunkt der Leistung übernehmen und nie absolut zu betrachten sind.33
So steht die rechte Gehirnhälfte für räumliche Orientierung, Kreativität beziehungsweise künstlerische Fähigkeiten und nicht-verbale Leistungen. Sie sorgt dafür, dass der Gesamtzusammenhang einer Sache erfasst wird. Die linke Gehirnhälfte ist hingegen für analytisches Denken und Sprache verantwortlich. Trotz der Spezialisierung der beiden Hemisphären ist es natürlich notwendig, dass beide Gehirnhälften gut ausgebildet sind, um bei komplexeren Aufgaben zusammenarbeiten zu können.34
3.2.3 Das Kleinhirn
Das Kleinhirn liegt in der hinteren Region des Schädels. In Bezug auf das Thema Tanz ist das Kleinhirn besonders interessant, da es in erster Linie die Aufgabe hat, die Motorik zu koordinieren. Hier werden nämlich die Informationen der Sinnesorgane, welche zuerst von der Großhirnrinde an die Muskeln geleitet werden, letztendlich aufeinander abgestimmt. Daher bildet das Kleinhirn ein wichtiges Zentrum für die Koordination von Bewegungen.35 Es ist für die Regelung des Gleichgewichts verantwortlich sowie für die Muskelspannung und die Bewegungskoordination. Am aktiven Tasten ist das Kleinhirn beteiligt und hat deshalb im Bereich der Wahrnehmung einen wichtigen Stellenwert. Das Kleinhirn arbeitet nicht eigenaktiv, sondern reagiert ausschließlich auf sensorische Reize.36
3.2.4 Das limbische System
Das limbische System kann auch als Gefühlszentrale bezeichnet werden, weil in dieser Hirnregion Gefühle verarbeitet und gespeichert werden. Emotionen spielen beim Lernen eine wichtige Rolle, da das limbische System auch für Lern- und Gedächtnisvorgänge verantwortlich ist. Es gibt fünf weitere Hirnbereiche, die zum limbischen System gehören: den Thalamus, den Hypothalamus, den Hippocampus, das Basalganglion und den Mandelkern. Der Thalamus ist mitverantwortlich für die Verarbeitung und Interpretation unserer sinnlichen Wahrnehmung, welche in weiterer Folge vom Hippocampus verarbeitet und in das Kurz- oder Langzeitgedächtnis weitergeleitet wird.37
3.2.5 Das Zentralnervensystem
Zum Zentralnervensystem gehören das Gehirn und das Rückenmark. Es ist die Schalt- und Steuerstelle des Menschen, denn bevor Reize und Informationen weitergeleitet werden, müssen sie im Zentralnervensystem eingeordnet und gespeichert werden. Daher ist das Zentralnervensystem eine wichtige Überwachungsstelle für unser gesamtes Lernen und Verhalten.38
3.3 Neuronen und Synapsen
Das menschliche Gehirn besteht aus vielen Millionen Nervenzellen, auch Neuronen genannt. Die Neuronen haben die Aufgabe, Informationen zu übertragen. Dies geschieht entweder direkt zwischen zwei Nervenzellen oder auf Muskel- oder Drüsenzellen. Vereinfacht beschrieben besteht ein Neuron aus einem Zellkörper, von dem viele Verästelungen ausgehen. Die Übermittlung von Informationen erfolgt über eine einzige dieser Verästelungen und zwar das Axon. Alle anderen Verzweigungen werden Dendriten genannt. Das Axon leitet Informationen an andere Zellen weiter, während die Aufgabe der Dendriten darin besteht, Informationen zu empfangen. Die Verbindung von einem Nervenzellenende (Axon) zu einer anderen Nervenzelle heißt Synapse. Synaptische Verbindungen werden im Lauf des Lebens durch unterschiedliche Erfahrungen gestaltet und modelliert.39
3.4 Motoneuronen
Durch Nervenzellen geschieht die Übertragung von neuronalen Signalen auf Muskelfasern. Diese spezielle Nervenzellen heißen Motoneuronen. Sowohl die Beschaffenheit der Motoneuronen als auch die Möglichkeit der neuromuskulären Signalübertragung sind sehr vielschichtig. Alle Reize und Signale, welche einen Einfluss auf die muskuläre Bewegung haben, laufen letztendlich über Motoneuronen. Die motorische Informationsverarbeitung bei einer Bewegung im Tanz, ob einfach oder komplex, geschieht über Motoneuronen.40
3.5 Motorische Kontrollsysteme
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: motorischer Homunkulus
Über die Großhirnrinde verteilt befinden sich motorische und sensorische Felder. Im Gehirn gibt es einen bestimmten Bereich, der für alle Bewegungsabläufe verantwortlich ist, den motorischen Cortex. Dieser Cortex ist die äußerste Schicht des Großhirns und für den räumlich-zeitlichen Ablauf von Bewegungen zuständig.
Der motorische Cortex lässt sich in unterschiedliche Areale aufteilen, wobei jedes Areal für einen bestimmten Körperteil steht. Diese Aufgliederung ist als motorischer Homunkulus bekannt und bedeutet so viel wie kleiner Mensch. Die folgende Abbildung zeigt, wie die Körperregionen innerhalb der Großhirnrinde repräsentiert sind. Besonders Hände und Mund nehmen sehr viel Platz in Anspruch, was zeigt, dass ein großes Ausmaß an Feinsteuerung für diese Regionen erforderlich ist.41
3.6 Lernen durch Spiegelneuronen
Laut Ulrich Herrmann sind Spiegelneuronen unter anderem die neurobiologische Grundlage für Beobachtungslernen. Besonders bei Kleinkindern zeigt sich die unbewusste Tendenz nachzuahmen und zu imitieren, was sie gerade sehen. Der Grund dafür sind unsere Spiegelneuronen. Das Imitationsverhalten durch Spiegelneuronen ist daher auch in den ersten Lebensjahren besonders von Bedeutung und dient der (nonverbalen) Kommunikation. Aber auch später im Erwachsenenalter werden durch Spiegelneuronen die Gesichtsausdrücke, Körperhaltung oder Empfindungen unseres Gegenübers imitiert. Aus diesem Grund gehen Gehirnforscher davon aus, dass Spiegelneuronen die neurobiologische Basis für das Lernen am Modell sind.42
Besonders beim Tanzen geschieht lernen auf der Basis der Nachahmung. So versuchen Kinder oder Erwachsene im Tanzunterricht bewusst die vorgegebenen Bewegungsmuster des Tanzlehrers/der Tanzlehrerin nachzuvollziehen und zu imitieren. Das Lernen am Modell beziehungsweise die Nachahmung, die auf Basis der Spiegelneuronen erfolgt, bildet also eine wichtige Fähigkeit für jegliche Art des Lernens. Besonders interessant ist, dass sogar beim Beobachten von Bewegungen dieselben Gehirnareale aktiviert werden, wie wenn wir selbst diese Bewegung ausführen würden. Spiegelneuronen spielen daher gerade für die Vermittlung von Tanz eine wichtige Rolle, da in diesem Fall das Lernen durch Beobachtung und Nachahmung wesentlich leichter ist als durch verbale Kommunikation.43
4 Die Integration der Sinne und das Gehirn
4.1 Lernen mit allen Sinnen
Wie im Kapitel über das menschliche Gehirn bereits verdeutlicht wurde, bilden sich im menschlichen Gehirn Synapsen durch vielseitige Wahrnehmungserfahrung. Daher sind besonders für Säuglinge und in der frühen Kindheit sensorische Reize sozusagen die Nahrung für das Gehirn, da sich das Gehirn in diesem Stadium stark entwickelt und noch sehr veränderbar ist.44
„Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“,45 sagte bereits der Philosoph John Locke. Die Wahrnehmung und das Gedächtnis sind eng miteinander verbunden und stehen in einer Wechselbeziehung, denn es ist in der Wissenschaft schon lange bekannt, dass Sinneserfahrungen die Grundlage für jegliche Art des Lernens bilden.46
4.2 Die Wahrnehmung
Reize, also Informationen aus unserer Umwelt oder von unserem Körper selbst, werden von den verschiedenen Sinnesorganen aufgenommen, verarbeitet und an das Gehirn weitergeleitet. Diesen Vorgang der sinnlichen Informationsverarbeitung beschreibt man als Wahrnehmung. Jean Ayres erläutert, wie wichtig es ist, dass die unterschiedlichen Sinneseindrücke aus der Umwelt vom Gehirn differenziert und eingeordnet werden, da die Verarbeitung der sinnlichen Wahrnehmung eine wichtige Grundlage für Lernprozesse bildet.47
Wenn man in der Geschichte der Wahrnehmung ein wenig zurückblickt, lässt sich feststellen, dass es allgemein zwar die Einteilung in die klassischen fünf Sinne gibt (das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen), aber je nach Literaturquelle viele weitere differenzierte Einteilungen der Sinnesgebiete erfolgen, da die Grenzen nicht eindeutig zu definieren beziehungsweise fließend sind. Im folgenden Kapitel werde ich mich auf sieben verschiedene Sinnesgebiete beziehen, wobei ich auf jene, die mir in Verbindung mit Tanz und Bewegung besonders relevant erscheinen, genauer eingehen möchte.
- Taktile Wahrnehmung (Tastsinn)
- Kinästhetische Wahrnehmung (Bewegungsempfindung)
- Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtssinn)
- Visuelle Wahrnehmung (Sehsinn)
- Auditive Wahrnehmung (Hörsinn)
- Olfaktorische Wahrnehmung (Geruchssinn)
- Gustatorische Wahrnehmung (Geschmackssinn)48
4.2.1 Taktile Wahrnehmung
Das größte Wahrnehmungsorgan des Menschen ist die Haut. Schon im Mutterleib ist das taktile System entwickelt und es können über die Haut unterschiedliche Reize wahrgenommen werden. Besonders die Hände und Füße dienen zur taktilen Erkundung eines Gegenstandes, um Informationen über beispielsweise die Oberflächenbeschaffenheit oder die geometrische Form zu erhalten. Die taktile Wahrnehmung lässt sich in vier große Bereiche einteilen: die Berührungs-, Erkundungs-, Temperatur- und Schmerzwahrnehmung.49
4.2.2 Kinästhetische Wahrnehmung
Die kinästhetische Wahrnehmung umfasst die (meist unbewusste) Lage- und Bewegungswahrnehmung des Körpers in einem Raum, aber auch die Empfindungen von Bewegungen des Körpers selbst. Oft wird die kinästhetische Wahrnehmung, weil sich die dafür verantwortlichen Sinneszellen in tiefer gelegenem Gewebe befinden, auch als Tiefensensibilität bezeichnet. Durch die Lage- und Bewegungsempfindung ist es uns möglich, unsere Muskeln zu koordinieren und somit auch jegliche Art von Bewegung zu steuern. Mittels kinästhetischer Wahrnehmung erhalten wir Informationen über die Stellung unserer Körperteile zueinander und können daher unsere Eigenbewegung kontrollieren. Die kinästhetische Wahrnehmung umfasst unterschiedliche Fähigkeiten und lässt sich in vier Bereiche gliedern: den Stellungssinn, den Bewegungssinn, den Kraftsinn und den Spannungssinn. Der Stellungssinn gibt uns, wie der Name schon verrät, Auskunft darüber, wie die Stellung unserer Gelenke und einzelnen Körperteile zueinander ist, sowie auch über die Lage des Körpers im Raum. Um die Geschwindigkeit und die Richtung einer Bewegung (ohne den Sehsinn) erkennen zu können, setzen wir den Bewegungssinn ein. Mit dem Kraftsinn ist es uns möglich, den Grad der Muskelkraft zu dosieren, den wir für eine Bewegung oder die Ausführung einer bestimmten Aufgabe benötigen. Der vierte und letzte Bereich der kinästhetischen Wahrnehmung ist der Spannungssinn. Er gibt über das Ausmaß der Muskelspannung während einer Bewegung Auskunft und regelt somit den Spannungsgrad der Muskulatur. Diese vier Bereiche arbeiten im Normalfall ganz unbewusst zusammen.
Besonders im Tanz wird die kinästhetische Wahrnehmung durch das Erlernen neuer Bewegungen und Bewegungsabläufe direkt angesprochen. Zuerst werden die Bewegungen unter bewusster Führung erlernt bis sie schließlich durch Übung und Wiederholung automatisiert werden. Beim Tanzen wird die kinästhetische Wahrnehmungsfähigkeit mit allen ihren Bereichen beansprucht und dadurch auch ihre Funktionsfähigkeit gesteigert. Auch der bewusste Wechsel von Anspannung und Entspannung fällt in diesen Bereich und ist im Hinblick auf die Entwicklung eines differenzierten Körperschemas von Bedeutung.50
4.2.3 Vestibuläre Wahrnehmung
Der Gleichgewichtssinn und die kinästhetische Wahrnehmung sind durch die Lage- und Haltungsveränderungen des Körpers eng miteinander verbunden. Durch den Gleichgewichtssinn ist es uns möglich, aufrecht zu gehen und Bewegungen wie zum Beispiel eine Drehung auszuführen. Der Name „vestibulär“ leitet sich vom lateinischen Wort „vestibulum“ ab, was übersetzt „Vorhof“ bedeutet. Damit ist der Vorhof des Innenohrs gemeint, weil dort das Organ für den Gleichgewichtssinn liegt.
Ebenso mit dem Innenohr verbunden ist der Drehbewegungssinn. Der Drehbewegungssinn unterstützt uns bei diversen Rotationsbeschleunigungen und leistet daher auch einen wichtigen Beitrag zu der allgemeinen Bewegungskoordination. Mittels Gleichgewichtssinn können wir Geschwindigkeits- und Rotationsveränderungen unseres Körpers wahrnehmen und somit feststellen, wie schnell wir uns bewegen.
Zusammenfassend bedeutet das, dass wir über die kinästhetische Wahrnehmung Informationen über die Lage und Bewegungen von Körperteilen zueinander bekommen, während der Gleichgewichtssinn die Information über die Lage unseres Körpers in Verbindung mit der Schwerkraft liefert. Nachdem die Sinnessysteme eng miteinander verbunden sind und zusammenarbeiten, ist es möglich, neben der Raum- und Körperlage eine ganzheitliche Bewegungswahrnehmung zu erlangen.51
4.2.4 Visuelle und auditive Wahrnehmung
Das Organ, welches mit dem Sehsinn in Verbindung steht, ist das Auge. Es verarbeitet optische Eindrücke und ist, unter anderem aufgrund der elektronischen Medien, heute im Alltag eines der am meisten benutzten Sinnesorgane. Das Sehen impliziert immer eine subjektive Sichtweise, da beim Aufnehmen und Verarbeiten der Umwelteindrücke jeder Betrachter eine persönliche Sichtweise hat. Der Mensch filtert beim Sehvorgang und wählt aus, was für ihn von Bedeutung ist. Dabei spielen auch Gefühle, Stimmungen, Interessen und Gewohnheiten eine wichtige Rolle. Das visuelle System hat neben der Farb- und Mustererkennung auch die wichtige Aufgabe, uns zur Orientierung im Raum zu verhelfen. Mittels Sehsinn ist es möglich, Informationen über einen Raum zu erhalten, in dem wir uns befinden. Diese Informationen sind neben der kinästhetischen Wahrnehmung für die Kontrolle unserer Haltung und die Steuerung der Fortbewegung relevant.
Der Hörsinn bildet die Grundlage für die menschliche Kommunikation und ist eine wichtige Voraussetzung für das Erlernen der Sprache. Durch die auditive Wahrnehmung ist es uns möglich, akustische Reize wie zum Beispiel Musik wahrzunehmen.52
4.2.5 Gustatorische und olfaktorische Wahrnehmung
Im Vergleich zu den anderen Sinnessystemen reagieren der Geruchs- und Geschmackssinn auf chemische Reize. Diese beiden Systeme sind eng verbunden und besonders bei der Nahrungsaufnahme sind riechen und schmecken zum ganzheitlichen Erfassen des Nahrungsmittels stark voneinander abhängig.
Gerüche begleiten uns durch den Alltag und sind oft mit Emotionen oder Erinnerungen im Gedächtnis verbunden. So können zum Beispiel eine Turnhalle, ein Tanzstudio oder Gummimatten einen eigenen typischen Geruch haben und dadurch unterschiedliche Erinnerungen wecken.53
4.3 Raumvorstellung
Die Sinneswahrnehmung ermöglicht es uns zu lokalisieren, wo im Raum wir uns gerade befinden. Dies geschieht maßgeblich durch den visuellen und den vestibulären Sinn. Die Informationen der Sinnesorgane werden an die Großhirnrinde gesendet und von dort in die jeweiligen motorischen Regionen der Hirnrinde weitergeleitet. Somit gelingt es unserem Gehirn, die Körperbewegungen im Raum einzuordnen. Diese Raumwahrnehmung kann besonders durch die Stimulation des Gleichgewichtsinns gefördert werden, um eine differenzierte Wahrnehmung für die Beziehung zwischen Raum und Körper zu erlangen.54
4.4 Neuronale Entwicklungsprozesse durch sensorische Erfahrung
Durch sensorische Einflüsse können sich Bereiche im Gehirn strukturell und funktionell verändern. Besonders für Säuglinge und Kleinkinder sind sensorische Einflüsse aus der Umwelt wichtig, um bestimmte neuronale Systeme aufzubauen und richtig ausbilden zu können. Aber auch später im Erwachsenenalter können Synapsen und neuronale Verbindungsmuster durch unterschiedliche Einflüsse und Erfahrungen modifiziert werden. Das bedeutet, dass differenzierte Umwelteinflüsse und Reize über die gesamte Lebensspanne hinweg für den neuronalen Entwicklungsprozess essentiell sind.55
4.5 Sinnesschulung durch Tanz
Im Tanz beziehungsweise in der Tanzerziehung werden besonders jene Sinne angeregt, welche mit dem Körper und der Ausführung von Bewegungen zu tun haben. Dazu gehören die Wahrnehmung des Körpers selbst sowie die Beziehung zu anderen Kindern, Objekten oder Hilfsmitteln während einer Tanzeinheit. Im und durch den Tanz werden einige bestimmte Sinne besonders beansprucht: der kinästhetische Sinn, der Gleichgewichtssinn, der visuelle, auditive und taktile Sinn.
Der kinästhetische Sinn gibt Informationen darüber an unser Gehirn weiter, in welchem Spannungszustand sich unsere Muskeln befinden, und ob der Körper beziehungsweise einzelne Körperteile gespannt oder locker sind. Es ist daher wichtig zu fühlen, in welcher Stellung und Lage sich der Körper befindet, um dies in weiterer Folge für bewusste Bewegungen einzusetzen.
Der Gleichgewichtssinn im Ohr ist beim Tanzen besonders für das Wahrnehmen von Richtungen und Richtungswechsel von Bedeutung, aber auch für das Empfinden von unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen sich der Körper fortbewegt.
Mit Hilfe des visuellen Sinns kann einerseits der Raum erkannt werden, in dem sich der/die TänzerIn befindet und andererseits kann dadurch der Tanz anderer beobachtet und verfolgt werden, was besonders beim Unterrichten und Nachahmen eine große Rolle spielt. Durch den Sehsinn ist es möglich, Formen und Linien im Tanz zu erkennen und zu verfolgen.
Rhythmus und Musik werden über den akustischen Sinn aufgenommen, weshalb dieser im Tanzunterricht ebenso eine Rolle spielt. So werden durch die auditive Wahrnehmung Melodie, Rhythmus, Tonhöhe oder Tondauer übermittelt und mit Bewegungen im Tanz verbunden.
Um Berührungen mit dem Boden, dem eigenen Körper oder Partnern wahrzunehmen, gibt es den taktilen Sinn. So können zum Beispiel Druck und Gegendruck in unterschiedlichen Intensitätsgraden erfahren und unterschiedliche Oberflächen und Formen ertastet und erfühlt werden.56
5 Schlusswort
Während meiner Recherchearbeiten wurde deutlich, dass es zwar viel Literatur für die Bereiche der Neurowissenschaft und der Tanzpädagogik gibt, aber sehr wenig wissenschaftliche Literatur, welche diese beiden Themen miteinander vernetzt. Es gibt allgemein für die Entwicklung der Motorik und der Sinneswahrnehmung im Zusammenhang mit der Hirnforschung einige Erkenntnisse und Untersuchungen, doch speziell auf den Tanz bezogen steckt die Hirnforschung noch in den Kinderschuhen. Deshalb möchte ich meine Ergebnisse zu diesem Thema hier noch einmal kurz zusammenfassen und die allgemeinen Erkenntnisse aus dem motorischen, pädagogischen und neurodidaktischen Bereich auf die tanzpädagogische Praxis übertragen.
Dafür möchte ich abschließend auf meine zu Beginn gestellte Forschungsfrage „Welchen Einfluss hat Tanz auf das Gedächtnis, die damit verbundene Wahrnehmung und andere Bildungsbereiche?“ eingehen.
Im Zuge meiner Arbeit bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass Tanz weit mehr ist als eine körperliche Tätigkeit, welche sich auf den motorischen Bereich beschränken lässt. Ganz im Gegenteil: Tanzen vernetzt viele, verschiedene Bildungsbereiche und ist vor allem auch eine kognitive Tätigkeit, die das Gedächtnis definitiv beansprucht und auch die damit verbundene Sinneswahrnehmung.
Der Tanz fördert die Persönlichkeitsentwicklung, die Sozialkompetenz durch das Agieren in der Gemeinschaft und in Folge dessen auch die Kommunikation. Neben der Entwicklung eines gesunden Körpergefühls verbessert tanzen auch die Konzentrationsfähigkeit sowie die Grob- und Feinmotorik. Da Rhythmus und Musik mit dem Tanz eng in Verbindung stehen, werden automatisch auch rhythmisch-musikalische Fähigkeiten verinnerlicht und geschult.
Es lässt sich also erkennen, dass beim Tanzen viele unterschiedliche Bildungsbereiche angesprochen werden und somit Lernprozesse auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Eine wichtige Rolle für die Verarbeitung dieser Lernprozesse spielt dabei unser Gehirn beziehungsweise das Gedächtnis, ohne dem lernen nicht möglich wäre. Wir unterscheiden zwischen zwei Gedächtnisformen, welche für jede Art des Lernens, auch für das Erlernen von Bewegungsabläufen, Voraussetzung sind: Das Kurzzeitgedächtnis, welches Informationen aufnimmt, kurzzeitig speichern kann und durch den Prozess der Wiederholung in das Langzeitgedächtnis weiterleitet, und das Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis unterteilt sich wiederum in ein implizites und explizites Gedächtnis. Das implizite Gedächtnis speichert motorische Fähigkeiten, welche nicht bewusst erinnert werden können. Die Aufgabe des expliziten Gedächtnisses hingegen ist das bewusste Erinnern von theoretischem Wissen. Diese beiden Formen sind natürlich eng miteinander verbunden und arbeiten zusammen.
Auf den tanzpädagogischen Bereich bezogen bedeutet das, dass es wichtig und sogar notwendig ist, Bewegungsabläufe und Tanzschritte ausreichend zu üben und zu wiederholen, damit sie im Langzeitgedächtnis verankert werden können. Im tänzerischen Bereich spricht man auch von einem motorischen und vorstellenden Gedächtnis, durch das Bewegungen und bildhafte Vorstellungen verknüpft werden können und im Tanz eine Einheit bilden.
Lernprozesse wie zum Beispiel das Erlernen einer Choreographie sind Nahrung für unser Gehirn, denn dadurch entstehen neue Synapsen und das Gehirn entwickelt sich somit ständig weiter. Aufgrund dieses Prozesses spricht man von einer Neuroplastizität des Gehirns, da es nicht statisch ist, sondern sich verändert und anpasst.
Das menschliche Gehirn besteht aus vielen verschiedenen Regionen, die auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind. Somit gibt es im Gehirn auch Areale, welche die Motorik steuern und für die Bewegung zuständig sind.
Besonders beteiligt an allen Prozessen, die im Zusammenhang mit Bewegung und motorischen Leistungen stehen, sprich am Tanzen, sind das Kleinhirn und der motorische Cortex.
Im Kleinhirn werden nämlich alle Informationen unserer Sinnesorgane verarbeitet und an die Muskeln weitergeleitet, womit es nicht nur für das Gleichgewicht und die Raumorientierung sehr wichtig ist, sondern für die gesamte Koordination der Bewegung. Der motorische Cortex ist besonders für räumlich-zeitliche Bewegungsabläufe wichtig. Die Steuerung von differenzierten Tanzbewegungen ist meiner Meinung nach also durchaus eine Gedächtnisleistung, an der verschiedene Gehirnregionen beteiligt sind.
Ohne diese Leistung der bestimmten Gehirnregionen wäre tanzen oder das Erlernen von Tanzschritten wohl kaum möglich.
In diesem Zusammenhang habe ich während meiner Arbeit auch festgestellt, wie wichtig Spiegelneuronen bei der Vermittlung und dem Erlernen von Tanz sind. Tanzenlernen geschieht nämlich hauptsächlich durch lernen am Modell, sprich Nachahmung und dazu benötigen wir unsere Spiegelneuronen. Dadurch ist es uns erst möglich, im Tanzunterricht vorgezeigte Bewegungen zu imitieren und in weiterer Folge zu verarbeiten. Wie bereits deutlich wurde, können das Gehirn und die Wahrnehmung nicht getrennt betrachten werden, beziehungsweise sind sie für die Verarbeitung von Umwelteinflüssen voneinander abhängig. Auch beim Tanzen hat die Wahrnehmung einen großen Stellenwert, um nicht zu sagen: Sie bildet die Grundlage für motorische Handlungen. Hier stehen im Hinblick auf den Tanz besonders die vestibuläre und die kinästhetische Wahrnehmung im Vordergrund. Für den tanzpädagogischen Bereich bedeutet dies, dass speziell bei der Arbeit mit jungen Kindern Übungen zur Sensibilisierung und Förderung dieser Sinne wichtig sind.
Zusammenfassend lässt sich aufgrund all dieser Erkenntnisse aus dem neurowissenschaftlichen und tanzpädagogischen Bereich feststellen, dass tanzen sehr wohl eine Gedächtnisleistung impliziert und daher eine kognitive Tätigkeit ist, an der viele Gehirnareale und Sinne beteiligt sind. Dabei werden Fähigkeiten aus vielen unterschiedlichen Bildungsbereichen beansprucht und gefördert. Aus meiner Sicht sind all diese Erkenntnisse ein guter Grund, Tanz mehr in den Alltag von Kindergärten und Schulen zu integrieren. In diesem Sinne möchte ich abschließend noch ein Zitat von Augustinus von Hippo wiedergeben, welches meine Arbeit schön zusammenfasst:
„ Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge. Er bindet den Einzelnen an die Gemeinschaft.
Ich lobe den Tanz, der alles fordert und fördert - Gesundheit und Klarheit im Geist sowie eine beschwingte Seele. [ … ] “ 57
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ISABELL SCHIFFER
Bewegungserziehung im Kindergarten
1 Einleitung
„ Leben ist Bewegung und ohne Bewegung findet Leben nicht statt “ Moshe Feldenkrais (1904 - 1984)
Bewegung begleitet jedes Lebewesen. Auch beim Menschen ist Bewegung - der wissenschaftliche Begriff dafür lautet Motorik - die Vorrausetzung für die ganzheitliche Entwicklung auf allen Gebieten. Die Bewegung und die Bewegungsförderung haben in der frühen Kindheit eine wesentliche Bedeutung für die kindliche Gesamtentwicklung. Es ist bekannt, dass die Motorik eng mit sensorischen (sensorisch = die Aufnahme von Sinnesempfindungen durch Sinnesorgane) und psychischen Prozessen verbunden ist. Zwischen Bewegen, Fühlen und Denken kann nur willkürlich unterschieden werden. Hierfür gibt es die Begriffe „Psychomotorik“ und „Sensu-“ bzw. „Sensomotorik“. Jedes menschliche Verhalten beinhaltet motorische, emotionale und kognitive Aspekte. Daher ist für Kinder die Bewegung ein wichtiges Mittel, um ihre Umwelt zu „begreifen“ und zu „erfassen“, aber auch, um Informationen über sich selbst, ihren Körper und ihre Fähigkeiten zu erhalten. Im Vorschulalter hat die Bewegungserziehung vor allem das Ziel, einen Raum für die natürliche Lebensfreude des Kindes zu schaffen und das Wohlbefinden und die motorischen Fähigkeiten zu stärken. Die Bewegung ist auch für die Wahrnehmung, für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung von entscheidender Bedeutung.58
Ich habe mir das Thema „Bewegungserziehung im Kindergarten“ ausgesucht, da es mich sehr interessiert, ich selbst mit viel Bewegung und Tanz aufgewachsen bin, und dadurch die Entwicklung meines positiven Körper- und Selbstwertgefühls stark unterstützt wurde. Ich bewege mich gerne und habe an der Bewegungserziehung im Elementarbereich großes Interesse gefunden. Es ist ein sehr weitläufiges Thema, aus diesem Grund habe ich mich entschieden, eine allgemeine Arbeit mit einem Exkurs in die motorische Entwicklungspsychologie der 0 bis 6-Jährigen und die Bewegungserziehung im Elementarbereich zu verfassen.
Die Bewegungserziehung ist ein sehr wichtiger Bereich in der Elementarpädagogik und trägt zu einer gesunden und ganzheitlichen Entwicklung bei. Ich möchte mit der folgenden Arbeit aufzeigen, warum die Bewegungserziehung so wichtig ist, und Anregungen für eine optimale Umsetzung im pädagogischen Kindergartenalltag geben.
Die Arbeit dient dazu, einen Einblick in die Welt der Bewegungserziehung aus elementarpädagogischer Sicht zu bekommen.
2 Was ist Bewegung?
2.1 Definition/Begriffserklärung
Motorik (lat. motorius = bewegend, beweglich)
Als Motorik werden alle willkürlich gesteuerten Bewegungen des Körpers bezeichnet. Über das Gehirn und das Rückenmark werden die Impulse der motorischen Nerven an die Muskeln weitergeleitet.59
2.2 Die unterschiedlichen Bereiche innerhalb der Motorik
Es wird zwischen Grob- und Feinmotorik unterschieden.
Die Grobmotorik befasst sich ausschließlich mit den großen Bewegungsabläufen, wie zum Beispiel gehen, laufen, klettern, sitzen usw. Das Gleichgewicht und die Reaktionsfähigkeit fallen auch in diesen Bereich. Die großen Muskelgruppen sind hier betroffen. Wenn Kinder im Kleinkindalter in der grobmotorischen Entwicklung einen Schritt (wie zum Beispiel das Krabbeln) auslassen, ist es möglich, dass diese Kinder in der späteren Entwicklung ein Manko aufweisen oder es erst in späteren Entwicklungsschritten nachholen. Zur Förderung der Grobmotorik können Bewegungsspielzeuge wie zum Beispiel Roller, Laufrad oder Fahrrad eingesetzt werden.60
In den Bereich der Feinmotorik fallen die Handmotorik (Graphomotorik = Stifthaltung) und Fingerkoordination sowie die Fuß-, Zehen-, Augen-, Mund- und Gesichtsmotorik. Die Hand- und Mundmotorik wird von sehr nahe beieinander liegenden Hirnarealen (= „Bausteine“ der Gehirnfunktion des Großhirns) gesteuert. Wenn zum Beispiel ein Problem der Mundmotorik und dadurch ein Problem der Sprache vorliegt, wäre es sinnvoll, auch die Handmotorik zu untersuchen und umgekehrt. Um die Feinmotorik zu stärken, sind Spielzeuge mit kleinen Einzelheiten (zum Beispiel Legosteine und Montessori-Materialien) von Vorteil.61
Gleichzeitig wird innerhalb der Motorik noch zwischen folgenden Teilbereichen unterschieden:
- Die Neuromotorik (Bewegung und Reflexe) bezieht sich hauptsächlich auf das Säuglingsalter. Dabei handelt es sich um die Umformung der angeboren Reflexe in differenzierte und bewusst koordinierte Bewegungen.
- Die Sensomotorik (sensorisch = die Aufnahme von Sinnesempfindungen durch Sinnesorgane) ist ein Zusammenspiel von Bewegung und Wahrnehmung. Um z. B. einen Ball zielgenau zu werfen, bedarf es der Augen-Hand-Koordination. Die Armund Handstellung wird visuell wahrgenommen und rückgemeldet, um den Bewegungsablauf anschließend zu verbessern bzw. zu festigen. Die „Wahrnehmung ändert sich unter der Bewegung und die Bewegung ermöglicht die Wahrnehmung“62 Laut Piaget (1973) sind sensomotorische Handlungen die Grundlage der kognitiven Entwicklung.63
- Die Psychomotorik ist eine Verbindung der psychischen und motorischen Entwicklung. Bewegung und emotionales Befinden stehen in einer Wechselbeziehung zueinander (z. B. wird Traurigkeit durch eine gesenkte Kopfhaltung ausgedrückt). Das Erlebte und die damit verbundenen Stimmungen und Gefühle werden in und durch Bewegung weitervermittelt.
- Als Lokomotorik werden die Bewegungsfähigkeit und das Bewegungsverhalten bezeichnet (die Art der Bewegung). Sie befasst sich mit der Fortbewegung (Ortsveränderung durch z. B. klettern, laufen, springen und gehen), Bewegungen und teils unwillkürlichen Reflexen des Körpers (oder Teilbereichen des Körpers), dem Bewegungsdrang und dem Raumerleben (durch die durchgeführten Bewegungen).
- Als Soziomotorik wird der körpersprachliche Ausdruck, z. B. durch Mimik und Gestik, und die Wahrnehmung von körpersprachlichen Zeichen bezeichnet.64
3 Die motorische Entwicklung und die Entwicklung von Bewegungsabläufen von 0-6-jährigen Kindern
3.1 Die motorische Verhaltensentwicklung des Fötus
Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat werden komplexe Bewegungsmuster beim Fötus beobachtet. Das Gähnen, das Räkeln und das Strecken werden bereits so ausgeführt, wie es wahrscheinlich im weiteren Leben zu beobachten sein wird. Bis kurz vor dem Geburtstermin nehmen die Aktivitäten zu und verringern sich eine Woche vor der Geburt wieder. Die Gründe hierfür sind einerseits der Platzmangel, andererseits die durch die Reifung verbesserten neuronalen Hemm- und Steuerungsmechanismen - hierfür ist das Großhirn zuständig.65
Es ist anzunehmen, dass diese fötalen Bewegungsmuster nach der Geburt weiterhin zu beobachten sind. Allerdings sind sie nicht gut erkennbar, da der Säugling noch sehr schwache Muskeln hat. Die Auswirkung der Schwerkraft spielt dabei auch eine große Rolle.66
3.2 Die motorische Verhaltensentwicklung des Neugeborenen
Nach der motorischen Reife befindet sich das Neugeborene noch im sogenannten fötalen Zustand. Das bedeutet, dass die Arme und Beine noch sehr schwach sind, der Kopf dagegen unverhältnismäßig groß. Die Motorik verliert diesen fötalen Charakter nach circa zwei bis drei Monaten. Die geschlossene Körperhaltung ist typisch für ein Neugeborenes. Die Arme und Beine sind angezogen und die Fäuste geballt. Beim Drehen auf den Rücken oder auf den Bauch bleibt diese Körperhaltung erhalten. Der Kopf wird meist zur Seite gedreht.67
Laut KASTEN (2005) können drei Arten von motorischen Verhaltensmustern unterschieden werden:
3.2.1 Angeborene Reflexe
Das sind unwillkürliche motorische Reaktionen auf bestimmte Reize/Berührungen. Viele von ihnen werden schon nach einigen Wochen oder Monaten schwächer, danach verschwinden alle schließlich ganz, um sich in differenziertere Bewegungen zu verformen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden viele Reflexe neu identifiziert (lebenswichtig sind zum Beispiel der Atem-, Schluck- und Saugreflex), dennoch ist davon auszugehen, dass noch nicht alle entdeckt wurden. In der Frühgeborenenmedizin dienen die Reflexe zur Beobachtung der Entwicklung, und um die Funktionsfähigkeit des kindlichen Nervensystems zu ermitteln. Der Zeitpunkt des Auftretens, die Stärke, die Gleichmäßigkeit auf jeder Körperseite, das Abschwächen und Verlöschen der Reflexe ist hierbei wichtig. Deutliches Abweichen von der Norm begründet meist den Verdacht auf Hirnschädigungen.68
[...]
1 Vgl. URL: http://www.kktp.at (Stand: 10.09.2014).
2 Vgl. GRAU 1999, S. 8f.
3 Vgl. ALFONSO 2001, S. 11ff.
4 Vgl. AISSEN-CREWETT 2000, S. 13-19.
5 Vgl. FREGE 2010, S. 7-15.
6 Vgl. MALDOOM 2007, S. 307.
7 MALDOOM 2007, S. 312.
8 Vgl. HASELBACH 1984, S. 27-33.
9 Vgl. BERGMANN 2006, S. 7f.
10 Vgl. ZIMMER 2004, S. 17-20.
11 Vgl. BRINKMANN 2013, S. 163f.
12 Vgl. HASELBACH 1984, S. 30-33.
13 Ebd., S. 27.
14 Vgl. ebd., S. 27f.
15 Vgl. QUAST 2005, S. 31f.
16 Vgl. ebd., S. 49-52.
17 Vgl. SPITZER 2007, S. 208f.
18 Vgl. HERMANN 2009, S. 10f.
19 Vgl. HÜTHER 2006, S. 45f.
20 Vgl. BLAKEMORE 2006, S. 194.
21 AISSEN-CREWETT 2000, S. 20.
22 Vgl. ebd., S. 23ff.
23 Vgl. BRINKMANN 2013, S. 52-56.
24 Ebd., S. 57.
25 Vgl. ebd., S. 56-61.
26 Vgl. BRINKMANN 2013, S. 160-177.
27 Vgl. ebd., S. 66.
28 Vgl. URL: https://www.uni-due.de/edit/lp/common/bio.htm (Stand: 15.04.2014).
29 Vgl. SPITZER 2007, S. 174f.
30 Vgl. ebd., S. 321.
31 Vgl. THOMPSON 2001, S. 15.
32 Vgl. ZIMMER 2005, S. 35f.
33 Vgl. REICHERT 2000, S. 166.
34 Vgl. ZIMMER 2005, S. 38.
35 Vgl. ebd., S. 36.
36 Vgl. HIRLER 2003, S. 14-15.
37 Vgl. LIEBERTZ 2004, S. 31-33.
38 Vgl. ZIMMER 2005, S. 33.
39 Vgl. THOMPSON 2001, S. 3.
40 Vgl. REICHERT 2000, S. 121-125.
41 Vgl. URL: http://dasgehirn.info/handeln/motorik/kommandozentrale-fuer-bewegungen (Stand:15.04.2014).
42 Vgl. HERRMANN 2009, S. 54f.
43 Vgl. BLAKEMORE 2006, S. 226f.
44 Vgl. ZIMMER 2005, S. 43.
45 Ebd., S, 22.
46 Vgl. ebd., S. 22.
47 Vgl. AYRES 2002, S. 7-11.
48 Vgl. ZIMMER 2005, S. 56-61.
49 Vgl. ebd., S. 104-107.
50 Vgl. ZIMMER 2005, S. 120-124.
51 Vgl. ZIMMER 2005, S. 129- 135.
52 Vgl. ebd., S. 63- 87.
53 Vgl. ebd., S. 142- 149.
54 Vgl. AYRES 2002, S. 131ff.
55 Vgl. REICHERT 2000, S. 219.
56 Vgl. HASELBACH 1984, S. 29f.
57 Vgl. URL: http://www.tanzenwieichbin.ch/inspiration.php?DOC_INST=4 (Stand: 15.4.2014).
58 Vgl. URL: http://www.ifp.bayern.de/projekte/laufende/krombholz-motorik2.html (Stand: 2.05.2014).
59 Vgl. URL: http://motorik.net (Stand: 30.4.2014.)
60 Vgl. URL: http://motorik.net/grobmotorik.html (Stand: 30.4.2014).
61 Vgl. URL: http://motorik.net/feinmotorik.html (Stand: 30.4.2014).
62 URL: http://www2.hu-berlin.de/kbp/klassifikation.html (Stand: 30.4.2014).
63 Vgl. URL: http://www2.hu-berlin.de/kbp/klassifikation.html (Stand: 30.4.2014).
64 Vgl. URL: http://ebookbrowse.com/gesamtwerk-juli-2010-bewegung-hp-pdf-d155515644 (Stand: 2.5.2014).
65 Vgl. ROSSMANN 2004, S. 47.
66 Vgl. ebd., S. 47.
67 Vgl. KASTEN 2005, S. 78f.
68 Vgl. ebd., S. 79.
- Arbeit zitieren
- Verein arriOla (Autor:in), 2014, Kommerzielle Tanzstile unterrichten – Tanz & Pädagogik erforschen (Band 1), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282750
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