In den letzten Jahren ist es zu einem besorgniserregenden Anstieg von PatientInnen gekommen, bei denen die Multiple Persönlichkeitsstörung („Multiple Personality Disorder“, MPD), diagnostiziert wurde. In den USA wurden bereits ca.100.000 Fälle registriert. Dabei handelt es sich zu 90% um Frauen. – Wie ist dieser gewaltige Anstieg zu erklären? Handelt es sich möglicherweise um eine Modekrankheit?
Die Ursache für diese Krankheit wird heute damit erklärt, dass frühkindliche traumatische Erlebnisse, zumeist inzestuöse Übergriffe, zu Dissoziationen führen. Damit wurde eine neue Erklärung für diese Krankheit gefunden, die schon seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert ist. Es wird angenommen, dass ein sich in einer ausweglosen Situation befindende Mensch sognannte Alter-Egos („Alters“, Alter-Persönlichkeiten) hervorbringt, die das ihre Entstehung auslösende Geschehen vergessen bzw. verdrängt haben. Es werden verschiedene, völlig getrennte Persönlichkeiten entwickelt, die sich von einer normalen Person meist nur dadurch unterscheiden, dass ihnen weniger Zeit zur Verfügung steht, da sie sich ja mit anderen einen Körper teilen müssen. Eine Therapie wird aufgrund von den Schwierigkeiten, welche sich im Alltag stellen, besonders wenn Amnesie auftritt, notwendig. Meist begibt sich die (wie der Therapeut sie bezeichnet) „Wirtspersönlichkeit“ in die Therapie und lernt in der Regel erst während dieser die anderen Alter-Persönlichkeiten kennen.
Rovane entfaltet ihren Ansatz zunächst, ohne auf die Multiple Dissoziationsstörung einzugehen. Jedoch scheint die Übertragung als ein Argument für ihren Personenbegriff zu fungie-ren, indem sie auf der Grundlage eines empirischen Phänomens ihre Definition vom rationalen Standpunkt untermauert. Dazu schließen sich für mich folgende kritische Frage an: Kann man von einem pathologischen Phänomen wie der Multiplen Dissoziationsstörung überhaupt auf normale Menschen schließen? Oder ist die Übertragung auf MPD hier weniger Argument als Illustration oder Herleitung? Dem fügt sich an, ob Rovanes Personenbestimmung möglicherweise schon im Hinblick auf MPD konzipiert wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ausgangspunkt bei John Locke
3. Der rationale Standpunkt
4. Erfordert der rationale Standpunkt ein einheitliches Bewußtsein?
5. Gruppen-Personen
6. Übertragung auf die Multiple Persönlichkeitsstörung
7. Mitbewußtsein
8. Analogie zu Gruppen-Personen
9. Die „Lehrer-Philosoph-Musiker-Persönlichkeit“
10. „Wie würde sich Locke entscheiden?“
11. Schluß
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In den letzten Jahren ist es zu einem besorgniserregenden Anstieg von PatientInnen gekommen, bei denen die Multiple Persönlichkeitsstörung („Multiple Personality Disorder“, MPD ), diagnostiziert wurde. In den USA wurden bereits ca.100.000 Fälle registriert. Dabei handelt es sich zu 90% um Frauen. – Wie ist dieser gewaltige Anstieg zu erklären? Handelt es sich möglicherweise um eine Modekrankheit?
Die Ursache für diese Krankheit wird heute damit erklärt, dass frühkindliche traumatische Erlebnisse, zumeist inzestuöse Übergriffe, zu Dissoziationen führen. Damit wurde eine neue Erklärung für diese Krankheit gefunden, die schon seit dem 19. Jahrhundert dokumentiert ist. Es wird angenommen, dass ein sich in einer ausweglosen Situation befindende Mensch sogenannte Alter-Egos („Alters“, Alter-Persönlichkeiten) hervorbringt, die das ihre Entstehung auslösende Geschehen vergessen bzw. verdrängt haben. Es werden verschiedene, völlig getrennte Persönlichkeiten entwickelt, die sich von einer normalen Person meist nur dadurch unterscheiden, dass ihnen weniger Zeit zur Verfügung steht, da sie sich ja mit anderen einen Körper teilen müssen. Eine Therapie wird aufgrund von den Schwierigkeiten, welche sich im Alltag stellen, besonders wenn Amnesie auftritt, notwendig. Meist begibt sich die (wie der Therapeut sie bezeichnet) „Wirtspersönlichkeit“ in die Therapie und lernt in der Regel erst während dieser die anderen Alter-Persönlichkeiten kennen.[1]
„Der Therapeut sucht im Reigen der während der Behandlung erscheinenden Alter-Persönlichkeiten – das können zwischen drei und hundert sein – nach Helferpersönlichkeiten („internal self helper“), die meist im Gegensatz zu den anderen Alter-Persönlichkeiten ein Bewußtsein („co-consciousness“) von den anderen Persönlichkeiten haben, um mit deren Hilfe zur Erinnerung, Anerkennung und kathartischen Durchlebung des Ursprungstraumas zu finden und die disparaten Persönlichkeiten am Ende wieder zu einer einzigen Persönlichkeit zu verschmelzen, womit das Therapieziel erreicht wäre.“[2]
In meiner Hausarbeit werde ich mich zunächst der Frage widmen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit man von einer Person sprechen kann. Dieser Diskussion wird der Ansatz Carol Rovanes zugrunde liegen. Sie übernimmt von Locke die Bestimmung, dass sich eine Person als sie selbst wahrnehmen, also ein Selbstbewußtsein haben muß. Grundlage aller Wahrnehmung aber ist für Locke das einheitliche Bewußtsein, welches für Rovane ausdrücklich keine Rolle spielt. Ausgehen von diesen beiden Ansätzen werde ich versuchen, den Unterschied zwischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein herauszuarbeiten.
Als notwendiges Kriterium, um von einer Person ausgehen zu können, führt Rovane den rationalen Standpunkt ein. Zunächst werde ich versuchen, diesen Ansatz nachzuvollziehen, bevor ich ihn kritisch hinterfrage: Reicht diese Definition aus? Kann der rationale Standpunkt isoliert betrachtet werden? Diesen Aspekten werde ich mit Hilfe des Textes „Rationalität und Selbstbewußtsein“ von Sydney Shoemaker nachgehen.
Im zweiten Teil ihres Buches „The bounds of agency“ wendet Rovane ihren Personenbegriff auf das Phänomen der Multiplen Dissoziationsstörung an. Hier ist die Fragestellung, ob man bei einer multiplen Persönlichkeit selbständige Personen in einem Menschen annehmen kann. Diesbezüglich werde ich zunächst die Beziehung unter den Alter-Persönlichkeiten, ihre mögliche Kooperation und ihr Bewußtsein von den Zuständen anderer Alters thematisieren. Dafür werde ich einen Text von Jennifer Radden hinzuziehen, in dem sie diese Punkte bearbeitet, und ihre Thesen mit denen Rovanes vergleichen.
Zum Ende meiner Hausarbeit erlaube ich mir das Gedankenspiel, ob nach Lockes Konzeption die Alter-Persönlichkeiten als vollwertige Personen betrachtet werden können.
Rovane entfaltet ihren Ansatz zunächst, ohne auf die Multiple Dissoziationsstörung einzugehen. Jedoch scheint die Übertragung als ein Argument für ihren Personenbegriff zu fungieren, indem sie auf der Grundlage eines empirischen Phänomens ihre Definition vom rationalen Standpunkt untermauert. Dazu schließen sich für mich folgende kritische Frage an: Kann man von einem pathologischen Phänomen wie der Multiplen Dissoziationsstörung überhaupt auf normale Menschen schließen? Oder ist die Übertragung auf MPD hier weniger Argument als Illustration oder Herleitung? Dem fügt sich an, ob Rovanes Personenbestimmung möglicherweise schon im Hinblick auf MPD konzipiert wurde.
2. Ausgangspunkt bei John Locke
Carol Rovane nimmt in ihrem Buch "The bounds of agency" Lockes Bestimmung des Begriffs der Person zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung:
„Nachdem wir dies [die Erörterung der Identität bei Masseteilchen, Pflanzen und Tieren] vorausgeschickt haben, müssen wir, um festzustellen, worin die Identität der Person besteht, zunächst untersuchen, was Person bedeutet. Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört. Denn unmöglich kann jemand wahrnehmen, ohne wahrzunehmen, daß er es tut. Wenn wir etwas sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, überlegen oder wollen, so wissen wir, dass wir das tun. Dies gilt jederzeit hinsichtlich unserer gegenwärtigen Situationen und Wahrnehmungen; jeder wird dadurch für sich selbst zu dem, was er sein eigenes Ich nennt.“[3]
Locke beschreibt den Menschen als ein Subjekt, das insofern es mit sich identisch ist, als eine Person zu betrachten ist. Das identitätsstiftende Moment ist für ihn das Bewußtsein, damit verknüpft das Bewußtsein über die eigenen Handlungen und die Verantwortlichkeit für diese. Eine Person ist also nach Locke jeder Mensch, der seine Handlungen als die seinigen auffassen kann. Er betont damit sowohl den Erfahrungs- als auch den Handlungsaspekt für seine Definition von Person.
Carol Rovane nimmt von Locke zunächst den reflexiven Charakter des Selbst, den Selbstbezug in ihre Definition von Person auf, wobei sie diesen mit dem Pronomen der ersten Person Singular gleichsetzt. Es handelt sich bei diesem „Ich“ um den reflexiven Standpunkt, vom dem aus die eigenen Gedanken und Handlungen als meine erkannt werden. Sie will einen Personenbegriff geben, welcher nicht von einem Erfahrungssubjekt, sondern von einem Handlungssubjekt ausgeht.[4] Vielleicht könnte man ihre Perspektive mit der Kants vergleichen, welcher das theoretisches Selbstbewußtsein, das schon gegeben ist, wenn ich mir meiner Denktätigkeit bewußt bin, von dem praktischen Selbst unterscheidet. Denn nur dadurch bin ich mir bewußt, dass ich mich als ein Wesen weiß, das fähig ist, überlegt zu wählen und aufgrund dieser Wahl sein zukünftiges Selbst zu bestimmen.
Rovane geht von folgenden drei, die Persönlichkeit und Person konstituierenden folgenden Momenten aus:
1. „Eine Person ist etwas mit einem Standpunkt/ Gesichtswinkel der 1. Person.
2. Die Identität einer Person besteht aus der Einheit und Kontinuität dieses Standpunktes.
3. dieser Standpunkt aus Sicht der 1. Person muß nicht mit einer individuellen Seele [Descartes] oder Körper [Aristoteles] übereinstimmen.“[5]
Rovane versteht Locke in der Weise, dass nur gegenüber Gedanken und Handlungen, zu denen das Subjekt direkten phänomenologischen Zugang hat, sei es über das gegenwärtige Bewußtsein oder über die Erinnerung, eine phänomenologische Einheit erreicht werden kann. Sie betont jedoch die Perspektive des Subjekts, den Standpunkt der ersten Person, denn erst von dem es aus kann eine Relation zum Bewußtsein aufgebaut werden, womit es sich als Person qualifiziert. Dadurch ist es ihm möglich, sich selbst von anderem und anderes von sich selbst zu unterscheiden, sich von der Außenwelt abzugrenzen.[6] [7]
Indem Rovane den Standpunkt der ersten Person einführt, hebt sie die doppelte Reflexivität, welche im „Ich-Sagen“ enthalten ist, hervor. Zum einen handelt es sich um eine externe Reflexivität, dass man sich nämlich auf sich selbst bezieht, und zum anderen um eine interne, dass man sich auf etwas, als man selbst bezieht. Der Standpunkt der ersten Person kann man somit als ein Denken über einen selbst als man selbst verstehen.
Rovanes Definition basiert auf einem grammatischen Aspekt. Der Gesichtswinkel der ersten Person erfordert Sprachkompetenz, woraus zu schließen ist, dass die Denkvorkommnisse, auf welche sie sich bezieht, sprachlich sind und sprachlich geäußert werden.
Bevor ich weiter auf Rovanes Verständnis eingehe, möchte ich zunächst Lockes Personenbegriff näher betrachten. Sein Personenverständnis als ein Wesen, dass ein Bewußtsein von seiner Existenz hat, erscheint mir zu wenig differenziert. Nicht alles Bewußtsein ist Selbst-Bewußtsein, außerdem kann es verschiedene Grade von Bewußtsein geben. Sinnliche Wahrnehmungen finden nicht unbedingt reflektiert statt, ja macht man sich wohl eher selten den Akt der Erfahrung bewußt. Nach Locke jedoch ist unsere Erfahrung, wie unser Handeln immer von einem gewissen Grad an Selbstbewußtsein begleitet. Ich denke, dass das Bewußtsein jedoch für das Selbstbewußtsein eine essentielle Rolle spielt, da dieses nur auf der Grundlage von Bewußtsein möglich ist. Rovane hebt sich mit ihrer Definition von Locke ab; denn die Perspektive der ersten Person setzt ein „Ich-Sagen“, damit eine Relation zum Ich als Handelnden voraus. Es handelt sich um eine Reflexionsleistung, die die Voraussetzung für das Selbstbewußtsein bedeutet.
In einem späteren Abschnitt möchte ich mich unter anderem der Frage widmen, ob sich die Einheit eines Bewußtseins darin erklären lassen muß, dass es zu einem Selbst, zu einem Ich gehört.
3. Der rationale Standpunkt
Der Standpunkt der ersten Person bezieht sich bei Rovane im Gegensatz zu Locke nicht auf den phänomenologischen, sondern nach der normativen Analyse auf den rationalen Standpunkt. Auch für Locke ist eine Person als ein handelndes Subjekt zu begreifen, das seine Handlungen als seine eigenen betrachtet und für diese verantwortlich ist. Allerdings ist die Bedingung dafür ein einheitliches Bewußtsein, was für Rovane nicht notwendig ist:
„Der rationale Standpunkt ist der Standpunkt, von dem aus eine Person nachdenkt („deliberates“). Das eigentliche Ziel des Bedenkens ist es, alles-berücksichtigende Urteile („all-things-considered-judgements“) darüber zu erreichen, was am besten zu tun ist (...), und außerdem von da aus zu agieren.“[8]
Der Prozess des Nachdenkens durchläuft folgende Schritte:
1. (Individuelle und psychologische) Widersprüche und Konflikte auflösen
2. Akzeptanz der Implikationen des eigenen Verhaltens
3. Ordnen der eigenen Präferenzen
4. Bewertung der Handlungsmöglichkeiten
5. Bewertung der möglichen Konsequenzen und Ausführung der Handlungen die einem offen stehen
6. Bestimmung der Mittel zum Erreichen der Ziele
7. Evaluierung der Ziele und Neubewertung der Präferenz in Bezug auf die möglichen Mittel und zu erwartende Konsequenzen bei Handlungsausführung[9]
[...]
[1] Vgl. Christina von Braun, Gabriele Dietze (Hg.): Multiple Persönlichkeit. Krankheit, Medium oder Metapher?, Frankfurt/ Main, 1999, Vorwort.
[2] Braun, Dietze: Multiple Persönlichkeit, Vorwort, S. 7.
[3] John Lo>
[4] Vgl. Carol Anne Rovane: The bounds of agency. An essay in revisionary ethics, Princeton, N. J., 1998, S. 14.
[5] Rovane, S. 14. (Ich habe mich hier wie im folgenden für die Übersetzung ins Deutsche entschieden, um eine einheitliche Begrifflichkeit einzuführen.)
[6] Vgl. Rovane, S. 15/ 16.
[7] Rovane kritisiert an Lockes Konzeption außerdem, dass er sich mit der Bedingung des phänomenologischen Standpunktes nicht vollständig vom Körperkriterium freimacht, obwohl er einen rein psychologischen Personenbegriff zu geben versucht. Denn der phänomenologische Zugang ist im Körper, im individuellen Organismus verankert, da in einer solchen Einheit auch die Einheit des Organischen impliziert ist.
An dieser Stellte wird Rovane leider wenig konkret. Geht es ihr hier um Sinneseindrücke und Wahrnehmungen wie z. B. Schmerz, was sich unmittelbar am Körper manifestiert, dann hat sie womöglich recht. In einem späteren Kapitel wendet sie ihre Personenkonzeption auf das Phänomen der Multiplen Persönlichkeit an, wobei sie meiner Meinung nach den phänomenologischen Zugang vom Körperkriterium loslöst. Möglicherweise handelt es sich hier um einen Widerspruch, auf welchen ich später weiter eingehen möchte.
[8] Rovane, S. 21.
[9] Vgl. Rovane, S. 21.
- Citar trabajo
- Jessica Heyser (Autor), 2000, Die Konzeption von personaler Identität nach Carol Rovane und ihre Anwendung auf das Phänomen der Multiplen Persönlichkeit, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28258
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