Der Autor gibt einen Überblick über die Entwicklung des ökonomischen Denkens in unterschiedlichen Zeitepochen, in dem er sich mit Schlüsselbegriffen, wie Wirtschaft, Knappheit, Markt, etc. beschäftigt und das erkenntnistheoretische Grundverständnis der orthodoxen Mainstream-Ökonomie sehr stringent herausarbeitet sowie den Begriffswandel der politischen Ökonomie hin zu einem verengten ökonomischen Denken darstellt. Als Basishypothese wird davon ausgegangen, dass die orthodoxe Mainstream Ökonomie ganz wesentlich auf dem neoklassischen Paradigma basiert. Als Ansatzpunkt für heterodoxe ökonomische Ökonomien werden die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Neoklassik und dem Neoliberalismus dargestellt. In weiterer Folge werden die zentralen Kritikpunkte am herrschenden ökonomischen Paradigma mit der provokanten Textierung "Kognitive Dissonanz zwischen Neoklassik und Neoliberalismus" aufgezeigt.
Im zweiten Unterkapitel beschäftigt sich der Autor detaillierter mit dem Marxismus und der daraus sich entwickelten radikalen Ökonomie. In weiterer Folge werden zentrale Überlegungen von Keynes wie des Neokeynesianismus dargestellt. Im Anschluss werden zentrale Kennzeichen der feministischen Ökonomie vorgestellt, die unter anderem Fragen wie jene der unbezahlten Arbeit, der Entwicklung der Frauenerwerbsquote, der unterschiedlichen Bezahlung und generell die Rolle der Frauen in den Wirtschaftswissenschaften thematisiert.Im nächsten Unterkapitel beschäftigt sich der Autor mit der österreichischen Schule der Ökonomie. Im letzten Unterkapitel wird die Neue Institutionenökonomik detaillierter vorgestellt, weil deren Beitrag für die heterodoxe Ökonomie als besonders relevant zu bewerten ist.
Im zweiten Abschnitt der Masterarbeit beschäftigt sich der Autor mit den Rahmenbedingungen für heterodoxen Ökonomie-Unterricht an Universitäten, Fachhochschulen und Berufsbildenden Höheren Schulen. Er untersucht bzw. beschreibt so interessante Bereiche, wie die Dominanz und die Schwächen orthodoxer Lehrbücher, die praktisch kaum existente Vermittlung heterodoxer Inhalte im VWL-Unterricht und beleuchtet die entsprechende Situation in der Lehrerfortbildung.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Einleitung
I. Theoretischer Teil
1.1. Wirtschaft und Ökonomie
1.2. Wirtschaft im historischen Kontext
1.3. Wirtschaft und komplexe Rahmenbedingungen
2. Orthodoxe Ökonomie (Mainstream-Ökonomie)
2.1. Begriff und Abgrenzungskriterien zur Heterodoxen Ökonomie
2.1. Das Paradigma der Neoklassik
2.2. Neoliberalismus
3. Heterodoxe Ökonomie
3.1. Begriff
3.2. Ausgewählte Ansätze und Theorien Heterodoxer Ökonomie
3.2.1. Marxismus und Radikale Ökonomie
3.2.2. Keynesianismus und Neokeynesianismus
3.2.3. Feministische Ökonomie
3.2.4. Österreichische Schule der Ökonomie
4. Aktueller Stand der heterodoxen Ökonomie-Forschung
5. Kritik und Ausblick
II. Pädagogischer Teil
1. Rahmenbedingungen für heterodoxen Ökonomie-Unterricht
1.1. Dominanz und Schwächen orthodoxer Lehrbücher
1.2. Heterodoxer Ökonomieunterricht an Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS)
1.3. Heterodoxer Ökonomieunterricht an Fachhochschulen
1.3.1. VWL-Curricula an österreichischen Fachhochschulen
1.3.2. Analyse des VWL-Lehrinhalte an den österreichischen Fachhochschulen
2. Heterodoxe Ökonomie lehren
2.1. Unterrichtsmodi der Heterodoxen Ökonomie
2.1.1. Heterodoxer VWL-Unterricht als Enrichment
2.1.2. Modulare Vermittlung heterodoxer Theorieansätze
2.1.3. Orthodoxe und Heterodoxe Ökonomie als Parallelperspektive
2.2. Heterodoxe Ökonomie im Blickwinkel unterschiedlicher Lehrertypen
3. Lehrerfortbildung und Heterodoxe Ökonomie
3.1. Pädagogik der Heterodoxen Ökonomie - Umdenken durch „Andersdenken“
3.2. Synopse Heterodoxer Ökonomie und wirtschaftsethischer Problemfelder
3.3. Literaturempfehlungen zur Heterodoxen Ökonomie
3.4. Heterodoxe Ökonomie im Internet
III. Anhang
Anhang 1: Die mächtigsten 50 Konzerngruppen und deren Lenkungsmacht
Anhang 2: Auszug aus dem Lehrplan der Handelsakademie (BGBL II, Nr. 291, 19. Juli 2004)
Anhang 3: The Economist’s Oath
Anhang 4: Informationsblatt „Der Multiplikatoreffekt“
Anhang 5: Einstieg in die Heterodoxe Ökonomie (geeignet für BHS)
IV. Verzeichnisse
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abstract
In dieser Arbeit wird untersucht, ob Alternativen zum Mainstream der neoklassischen Modellökonomik der Wirtschaftswissenschaften existieren. Die geringe Pluralität der wissenschaftlichen Ansätze und Perspektiven behindert den wissenschaftlichen Fortschritt und hat negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft und die Politik. Neoliberale Strömungen und der um sich greifende Finanzkapitalismus tragen zur Verschärfung der Krise einer pluralen Ökonomik bei. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über die Ansätze und Theorien der Heterodoxen Ökonomie und zeigt zudem Möglichkeiten und Umsetzungskonzepte einer Didaktik der Heterodoxen Ökonomie auf. Der Autor möchte mit dieser Arbeit einen Beitrag für mehr Pluralität im Volkswirtschaftslehreunterricht an berufsbildenden Schulen und wirtschaftswissenschaftlichen Fachhochschulstudienlehrgängen leisten.
Keywords: Heterodoxe Ökonomie – Pluralismus – Wirtschaftswissenschaften – Pädagogik – Didaktik der Wirtschaftswissenschaften
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abstract
The following thesis discusses the question whether there are any alternatives to the mainstream of neoclassical model economics. The lack of plurality in scientific approach and in future perspectives impede scientific progress and lead to negative effects on economic development and also on politics. Neoliberal tendencies and the speed of financial capitalism aggravate the crisis of plural economics. By showing various concepts of didactics of heterodox economics and their possible application this thesis wants to be conducive to more plurality in the didactics of economics in vocational schools.
Keywords: heterodox economics – pluralism – economics – padagogics - didactics economics
Einleitung
Das globale Wirtschaftssystem steckt in einer tiefen systemischen Krise. Die Latenz dieser seit den 1970er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stattfindenden Entwicklung wurde spätestens mit der Krise von 2008 aufgedeckt. Nur durch größte Anstrengungen der internationalen Staatengemeinde ist es mit mechanischen, symptomatischen Systemeingriffen gelungen, den globalen Super-Gau einer Weltwirtschaftskrise nach dem Muster von 1929 zu vermeiden.
Fünf Jahre später ist ernüchternd festzustellen, dass die Wirtschaftstheorie des Neoliberalismus weiterhin (fast) weltweit die Grundlage für wirtschaftspolitisches Denken und Handeln bleibt. Nach der Devise „Business as usual“ wurde aus der Krise nichts gelernt und keine systemischen Änderungen vorgenommen. Der Traum des Keynesianismus von einer lenkbaren Marktwirtschaft ist längst ausgeträumt, der Zusammenbruch des realen Sozialismus und der Polarsturm der Globalisierung haben die Vorstellung einer Volkswirtschaftslehre als National ökonomie endgültig ad absurdum geführt (Brodbeck 2013, VII). Der Neoliberalismus, fußend auf den theoretischen Grundlagen der Neoklassik, ist und bleibt voraussichtlich das Betriebssystem der globalisierten Wirtschaft.
Trotz aller theoretischen Veränderungen seit dem Hauptwerk von Adam Smith (An Inquiry into The Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1789) - in etwas durch die Lehre vom Nutzen im 19. Jahrhundert und durch die bis in die Gegenwart fortgesetzte vielfache Art und Weise der Verfeinerung und Mathematisierung der Ökonomie - bleiben die eigentlichen Grundlagen der Ökonomie als allgemeiner theoretischer Rahmen in den modernen Wirtschaftswissenschaften paradigmatisch unangetastet. Als Beispiele hierfür können Schlagworte wie „Nutzen- oder Produktionsfunktion“, „Gleichgewicht“, „Marktmechanismus“, „Knappheit“ oder das „Rationalitätspostulat“ genannt werden. Die in der neoliberalen Doktrin verankerte Trennung von Subjekt (Mensch) und Objekt (Wirtschaft) verdrängt die erkenntnistheoretische Position der Einbettung der Wirtschaft in die ganze menschliche Gesellschaft.
Wenngleich das neoklassische bzw. neoliberale Paradigma als Orthodoxe Ökonomie den Mainstream in der Realwirtschaft, in der Lehre und in weiten Teilen der Forschung bildet, existieren zahlreiche alternative Ansätze und Theorien, die das starre Gedankenkorsett einer mechanistischen Marktideologie durchbrechen. Unter dem Begriff der Heterodoxen Ökonomie zusammengefasst gewinnen sie aufgrund der immer offensichtlicher werdenden Schwächen und Mängel der Orthodoxen Ökonomie sowohl im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs als auch in der Lehre zunehmend an Bedeutung.
Im Rahmen dieser Masterarbeit wird die Methodik und individualistische Sichtweise der vorherrschenden Ökonomie kritisch beleuchtet. Die Heterodoxe Ökonomie zeigt auf, dass ökonomische Prozesse nicht ausschließlich mit „individuellen Rationalverhalten“ (Stichwort homo oeconomicus) erklärt werden können, dass „das Soziale“ auch oder gerade eben in auf Größenwachstum basierenden Wirtschaftssystemen ein wesentliches systemisches Element darstellt und dass die Wirtschaftswissenschaften (Plural!) über die Initiierung eines kritischen Selbst-Reflexionsprozesses das vorhandene Potential ihrer Pluralität, ihrer Offenheit und ihrer Interdisziplinarität im Sinne einer den gegenwärtigen Forschungskorridor des Mainstream durchbrechenden anderen, wieder an den Wurzeln der Ökonomie ansetzenden Forschung und Lehre, besser nutzen können.
Im theoretischen Teil der Arbeit wird in den Kapiteln 1 und 2 der Bogen von der dogmenhistorischen Entwicklung wirtschaftlichen Denkens und Handels bis zur Herausbildung der Orthodoxen Mainstream-Ökonomie in Differenzierung zur Heterodoxen Ökonomie gespannt. Das dritte Kapitel widmet sich dem Wesen der Heterodoxen Ökonomie unter Berücksichtigung der Herausarbeitung ihrer unterschiedlichen Ansätze, Theorien und Schulen. Der aktuelle Stand in der heterodoxen Ökonomie-Forschung wird in Kapitel 4 dargestellt, in Kapitel 5 werden Kritik und Ausblick behandelt.
Der pädagogische Teil der Arbeit beschreibt vorweg die Rahmenbedingungen für heterodoxen Ökonomie-Unterricht. Einleitend wird die Dominanz der in Unterricht und Lehre verwendeten orthodoxen Lehrbücher thematisiert und im Anschluss der Status Quo des Volkswirtschaftsunterrichts an Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) und Fachhochschulen dargestellt.. Das zweite Kapitel „Heterodoxe Ökonomie lernen“ ist der LehrerInnenfortbildung im Bereich der Heterodoxen Ökonomie gewidmet. Das dritte Kapitel „Heterodoxe Ökonomie lehren“ beschäftigt sich mit der Vermittlung von heterodoxen Lehrinhalten. Hier ist es Aufgabe der Fachdidaktik eine Brücke zwischen den Wirtschaftswissenschaften und den Erziehungswissenschaften zu schlagen. Die Herausforderung besteht in der Entwicklung von Konzepten, die ein „Andersdenken“ der SchülerInnen bzw. der Studierenden in wirtschaftlichen Belangen initiieren können sowie in der Ausformulierung von ökonomischen Thematiken, die für den Einstieg in die Heterodoxe Ökonomie geeignet sind. Für die praktische Umsetzung und Anwendung werden Literatur- und Ideenquellen zur Heterodoxen Ökonomie angeführt, die eine Einarbeitung in die Materie der Heterodoxen Ökonomie und in weiterer Folge eine qualifizierte Unterrichtsplanung ermöglichen sollen.
Durch die Auffächerung der Perspektivenvielfalt ökonomischer Betrachtungsweisen, soll diese Masterarbeit die ersten Schritte einer Entdeckungsreise zu einer „anderen Ökonomie“ begleiten und Inspirationsquelle für das weitere Studium der Heterodoxen Ökonomie sein.
I. Theoretischer Teil
1. Ökonomisches Denken im Wandel der Zeit
1.1. Wirtschaft und Ökonomie
Der Begriff der Wirtschaft bezieht sich auf den Bereich menschlichen Handelns, der sich im weitesten Sinn auf die Produktion knapper Güter und deren Konsum bezieht. … Im eigentlichen Sinn bezieht sich der Begriff ‚Wirtschaft‘ (Ökonomie) auf denjenigen Teil menschlichen Handelns, der in Verfügungen (Entscheidungen) über knappe Mittel zur (insbesondere arbeitsteiligen) Produktion von Gütern für den Konsum besteht; dabei sind alle Mittel, die mittelbar oder unmittelbar dem Konsum dienen, wirtschaftliche Güter (Brockhaus 2013)1.
Knappheit ist zentrales Moment dieser Definitionen von Wirtschaft und Ökonomie. Outputseitig statuiert sich Knappheit über die implizit als vorhanden angenommene Nachfrage nach (knappen) Gütern, oder anders ausgedrückt: Produziert wird nur, was nachgefragt oder angebotsseitig2 formuliert - nachgefragt werden könnte - und in weiterer Folge mittelbar oder unmittelbar konsumiert wird. Mittelbarer Konsum bezieht sich auf die Produktion von Investitionsgütern, die im Produktionsprozess von Gütern eingesetzt werden und deren primärer Verwendungszweck auf die Schaffung von Mehrwert ausgerichtet ist. Unmittelbarer Konsum bedeutet Nutzengenerierung durch Wertverzehr; das Gut wird zur Befriedigung eines oder mehrerer Bedürfnisse eingesetzt. Wie aus der Brockhaus'schen Definition des Wirtschaftsbegriffs hervorgeht, kommen nur knappe Ressourcen als Wirtschaftsobjekt in Betracht. Freie Güter bedürfen keiner bewirtschafteten Ressourcenbasis und sind somit keine Wirtschaftsgüter. Die Entscheidungsfindung über den Einsatz knapper Ressourcen ist durch das Spannungsverhältnis zwischen einerseits unbegrenzten Bedürfnissen und andererseits durch einen beschränkten Bedarf, der sich aus der Kaufkraft ergibt, geprägt. Entscheidungen zwischen Konsumwünschen (Bedürfnissen) und Güterversorgung (Bedarf) sind daher gemäß dem Wirtschaftlichkeitsprinzip3 zu treffen, das die Rationalität von Entscheidungen auf eine Zweckrationalität einengt indem dieses Handlungsmodell explizit auf die Maximierung von (wirtschaftlichem) Nutzen gerichtet ist. Der homo oeconomicus, der „Wirtschaftsmensch", als Vollstrecker dieser Weltanschauung handelt rational und egoistisch. Mit seinem einzigen Interesse an Gewinnmaximierung und persönlichem Vorteil ist er eine Konstante in den Formeln des neoklassischen Marktmodells. Die in der Begriffsklärung vorgenommene Trennung von Produktion und Konsum (Unternehmen und Haushalt) steht für die neuzeitliche Ablösung vom Leitbild der Autarkie. Wirtschaft ist somit zu verstehen als komplexes Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen zwischen arbeitsteilig organisierten Akteuren, die mithilfe von Geld (Geldwirtschaft) Güter und Dienstleistungen auf Märkten (Marktwirtschaft) unter bestimmten rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Wirtschaftssystem) austauschen.
Mit dem Bezug auf die Prozesse der Produktion und des Konsums verweist die Brockhaus’sche Begriffsdefinition von Wirtschaft auf die dahinter stehenden Wirtschaftssubjekte der Unternehmen und privaten Haushalte. Als produzierendes Wirtschaftssubjekt treten Unternehmen in Erscheinung, die angebotsseitig ihre Erzeugnisse bzw. Dienstleistungen auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten im Austausch gegen Geldleistungen der Haushalte anbieten. Als konsumierendes Wirtschafssubjekt agieren Haushalte, die im Austausch für ihre Arbeitskraft, Geldleistungen (Löhne und Gehälter) erhalten, um in weiterer Konsequenz ihre Nach frage nach Gütern und Dienstleistungen finanzieren zu können. Aufbauend auf diesen äußerst simplen wie logischen Überlegungen wird in der Volkswirtschaftslehre ein einfaches Geld- und Güterkreislaufmodell erstellt (siehe Abbildung 1, „Einfacher Wirtschafskreislauf", Edling 2008, 9), das in nahezu jedem orthodoxen Lehrbuch über die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre zu finden ist.
Die zitierte Begriffsdefinition von Wirtschaft sowie der „Einfache Wirtschaftskreislauf" (siehe Abbildung 1) sind hier als Beispiele orthodoxer Mainstream-Ökonomie angeführt, jener Ansätze, Theorien und Methoden, die „in der universitären Lehre und in den Lehrbüchern dominieren, deren Forschung (bevorzugt) gefördert wird und die in den angesehenen Top-Fachzeitschriften sowie auf Tagungen diskutiert werden" (Dequech 2012, 354 in Hirte und Thieme 2013, 3). Die herausgeschälten Kernelemente der Knappheit, Präferenzen und Nutzenfunktionen, der ökonomischen Rationalität, dem Gleichgewichtsdenken sowie dem ausgeprägten Drang zur Modellisierung und Mathematisierung sind vorrangig dem neoklassischen Paradigma zuzuordnen. Der Markt als effizient arbeitende „Maschine" (Dobusch und Kapeller 2009 in Hirte und Thieme 2013, 3) ist die unveränderliche Kernmetapher des gegenwärtigen Mainstreams, der für sich die Deutungshoheit für sämtliche wirtschaftliche Agenden beansprucht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Einfacher Wirtschaftskreislauf4
Der Elementarkreislauf bildet in einer ersten oberflächlichen Betrachtung einen einfach sachökonomischen Zusammenhang ab. Verlässt man den Korridor einer ökonomisch orthodoxen, am Mainstream orientierten Sichtweise, so werfen sich Fragen auf, die in der Orthodoxen Ökonomie nicht gestellt werden. Beispielsweise wird „das Soziale" (Machtverhältnisse, Wohlstandsstruktur, wirtschaftsethische Aspekte, etc.) in der gegenwärtigen Mainstream-Ökonomie weitgehend ausgeklammert (Hirte und Thieme 2013, 12). Das Kreislaufschema fokussiert einseitig auf die formalen Tauschbeziehungen, das Verhältnis zwischen privaten Haushalten und Unternehmen wird ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der Zirkulation betrachtet. Die Wirtschaftssubjekte treten bezogen auf diesen Tauschakt in einem Verhältnis der Gleichheit gegenüber. Vom Inhalt der Austauschbeziehung betrachtet, dienen Haushalte und Unternehmen jeweils dem anderen, um sich selbst zu dienen, sie begründen in dieser Wechselseitigkeit zugleich Mittel und Zweck. Ein Blick hinter die Kulissen des Austausches zeigt, welche gesellschaftlichen Verhältnisse der Wirtschaftskreislauf ausblendet:
Sie [Anm. des Autors: Haushalte und Unternehmen] müssen sich also wechselseitig als Eigentümer der Waren anerkennen. Damit ist eine besondere Art der Freiheit gesetzt: Freiwilligkeit der Transaktion, Verzicht auf Gewalt, Anerkennung der selbstsüchtigen Interessen. … In den verborgenen Stätten der Produktion ist nur die ‚Arbeit‘ in der Gestalt des Lohnarbeiters als Person präsent. … Statt Freiheit herrscht Unterwerfung unter fremde Zwecke und Bedingungen, statt Gleichheit besteht ein System der Hierarchie mit fein differenzierten Unterordnungsverhältnissen, statt Eigentum am Resultat der eigenen Arbeit existiert Eigentumslosigkeit. Der gegen Lohn arbeitende Mensch wird auf einen Produktionsfaktor reduziert, reiht sich also ein unter die Produktionsinstrumente und den Boden, steht als ‚sprechender Produktionsfaktor‘ faktisch auf derselben Ebene mit den anderen Faktoren. (Sandleben 2002, 1 ff)
Der im Wirtschaftskreislauf angenommene „Subjekt-Charakter“ der Arbeitnehmerhaushalte ist nur unter dem Aspekt der Ausklammerung der tatsächlichen Verhältnisse der Produktion aufrechtzuerhalten. Durch die Konzentration des Wirtschaftskreislaufs auf die Zirkulationssphäre gehen die Rollen der ökonomischen Klassen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess verloren. Ökonomische Gegensätze und Widersprüche, die damit zusammenhängen, werden ausgeblendet (Sandleben 2002, 3). Weiters ist kritisch anzumerken, dass dem einfachen Wirtschaftskreislauf eine Theorie der Wertschöpfung fehlt: Es ist aus den verschiedenen Einkommensarten nicht ableitbar, wie das Sozialprodukt konstituiert wird. Die Differenzierung von Wertentstehung, Einkommensarten und Einkommensverteilung wird dadurch aufgelöst. Letztendlich blendet die Konzentration auf den Einkommenskreislauf zwischen Haushalten und Unternehmen die Frage aus, wie die sachlichen Produktionsvoraussetzungen erneuert werden. Der Saldo der quantitativen Änderungen des Kapitalstocks (Sachinvestitionen minus Abschreibungen) wird nicht weiter berücksichtigt. Es wird unterstellt, dass das Einkommen durch das Wertäquivalent der produzierten Waren berechnet werden kann, ohne das dabei das Kapital insgesamt angegriffen wird (Sandleben 2002, 3).
Wie diese Ausführung zeigt, können Gegenpositionen zur heutigen Ausprägung des Mainstreams, der einen klassisch adäquationstheoretischen5 Standpunkt vertritt, selbst bei grundlegenden wirtschaftlichen Zusammenhängen leicht formuliert werden. Neben der Frage nach den „richtigen" Modellen sowie nach dem angemessen „Realitätsbezug" ist ebenso die soziale Praxis der Wirtschaftswissenschaften zu hinterfragen. Das erkenntnistheoretische Grundverständnis der Mainstream-Ökonomie entspricht dem kritischen Rationalismus nach Popper. Als der sich daraus ergebenden weitreichenden Konsequenz verstehen sich ÖkonomInnen vorrangig als „Describer" der Realität, ohne wahrzunehmen, dass sie mit ihren Ideen, Modellen und Paradigmen die Gesellschaft mitformen (Hirte und Thieme 2013, 44).
Ökonomie als „die Wirtschaft“ verstanden, war ursprünglich in umfassende Theorien der Gesellschaft eingebettet. Fragen um die Stabilität einer Gesellschaft waren beispielsweise eng mit Fragen der Gerechtigkeit oder Wohlfahrt verknüpft. Erst später wurde ökonomisches Handeln, im Sinne der Verfolgung von Gewinninteresse als primärem Ziel, Gegenstand der Überlegungen. Im Vordergrund der Analysen stand dabei die Frage, welche Auswirkungen die am eigenen Einkommen orientierten Handlungen auf das gesamtgesellschaftliche oder gesamtwirtschaftliche Resultat haben (Rosner 2012, 30). Diese Analysemethode betraf zunächst nur Handlungen auf Geldmärkten, später auch die Produktion von Gütern. Noch später wurde die Orientierung der Analyse vom ausschliesslich materiellen Reichtum zunehmend zugunsten einer Orientierung an Nutzen und Wohlfahrt verlagert. Die Kontinuität dieser Entwicklung ist vom grundlegenden Tenor geprägt, dass stets nach dem gesamtgesellschaftlichen Resultat gefragt wurde, also nach dem Ergebnis, wenn alle Personen ihre Handlungen an der für sie maximalen Wohlfahrt orientieren. Die moderne Ökonomie durchbricht dieses Prinzip:
Am eigenen Nutzen orientiertes Handeln betrifft nicht mehr nur die 'Wirtschaft'. Vielmehr werden mit den Methoden und den Konzepten der Wirtschaftstheorie alles menschliche Handeln und dessen Konsequenzen auf der Ebene eines Aggregates analysiert: das Eingehen und Auflösen von Ehen, die Größe der Familien, das Einhalten und Übertreten von Gesetzen, das Entstehen von Institutionen, die Teilnahme an der Politik und vieles mehr (Rosner 2012, 31).
Die Fokussierung der gegenwärtigen Nationalökonomie auf den Markt hat zur Folge, dass politische Prozesse immer stärken in den Hintergrund treten. Der gegen Ende des 19. Jahrhundert gebräuchliche Begriff der Politischen Ökonomie wurde durch den Begriff „Economics“ ersetzt:
Die konsequente Ablehnung des Begriffs [Anmerkung des Autors: der Politischen Ökonomie] und der dahinter liegenden Analyseperspektive der neoklassisch geprägten und beherrschten Wirtschaftswissenschaften ist bis in die Gegenwart programmatisch geblieben. Die meisten orthodoxen wirtschaftswissenschaftlichen Lexika, Hand- und Lehrbücher kommen heute ohne den Begriff der Politischen Ökonomie aus und nehmen die heterodox sich entwickelnde Politische Ökonomie kaum zur Kenntnis. Das enge Denken in Schulen und Disziplinen führt zur gegenseitigen Abschottung und selbstherrlichen Nabelschau statt zu gegenseitigen Lernen und transdisziplinären Forschungsperspektiven (Meier 2012, 218).
Somit ist das Anwendungs- und Handlungsspektrum der Begriffllichkeit von Wirtschaft und Ökonomie viel weiter zu fassen, als in der eingangs zitierten Brockhaus’schen Begriffsdefinition.
Unter Zugrundelegung eines derart differenzierten, bunten Bildes von Wirtschaft und Ökonomie wird im nächsten Kapitel die Bedeutung der verschiedenen ökonomischen Theorien in den jeweiligen historischen Epochen für die Konstruktion der Heterodoxen Ökonomie herausgearbeitet.
1.2. Wirtschaft im historischen Kontext
Ökonomische Theorien lassen sich nicht aus sich selbst erklären. Jede historische Epoche hat ihre „eigene" Ökonomie. Die real-historische Basis ökonomischer Denkansätze reflektiert die Entwicklung der zeitgenössischen Ideen, hat ihre philosophische Systemstruktur und baut auf der Beschäftigung mit konkreten gesellschaftlichen Problemen auf (Pierenkemper 2012, 32). Die Verkürzung, vergangene Bemühungen um die Gewinnung ökonomischer Erkenntnisse, ausschliesslich aus einer Sicht der „modernen" Ökonomik vorzunehmen, ist daher nicht zulässig (Pierenkemper 2013, 10). Vielmehr kann und soll die „moderne" Ökonomik aus dem reichen Reservoir der Erkenntnisgewinne vergangener Wirtschaftsepochen schöpfen, sodass sich ein breiter „Fluss des Wissens" im Bereich des ökonomischen Denkens rekonstruieren lässt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Der Fluß des Wissens6
Es ist die Vielfalt an Ansätzen, Denkschulen und Theorien, die ein wesentliches Merkmal der Wirtschaftswissenschaften (Plural!) darstellt und letztendlich die Grundlage für die Herausbildung einer orthodoxen (Mainstream-)Ökonomie und heterodoxer Ansätze der Ökonomie bildet.
Edgar Salin (1892-1974), Philosoph, Historiker, Wirtschaftsgelehrter, von „Der Zeit"7 als letzter großer Humanist gewürdigt, konnte 1929 mit seinem Werk "Die Geschichte der Volkswirtschaftslehre" einen Meilenstein der Nationalökonomie setzen. Er gliedert die Geschichte der Volkswirtschaftslehre in die drei Epochen der Vorgeschichte (Athen, Rom und das katholische Europa des Mittelalters), der Geschichte (Merkantilismus, Physiokratimus und Klassiker, Sozialismus und Historismus) und der Nachfahren und Vorläufer. Die einleitenden, ersten Worte in seinem Werks lauten:
Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft ist eine Erscheinung, die ausschließlich der europäischen-amerikanischen Moderne angehört. Ihre Geschichte beginnt mit dem Erwachen des individualistischen Geistes, mit der Entstehung nationaler Territorien und Reiche und mit dem Sieg des rationalen Kapitalismus über das traditionale Wirtschaftshandeln des Mittelalters. Ihre geistige und politische Bedeutung wird enden an dem Tag, da diese schon ermattenden Kräfte den Kampf aufgeben gegenüber neu-aufkommenden oder alt-erstarkenden Bindungen religiös-universaler Herkunft (Salin [1929] 2007, 1).
Wie Abbildung 2 zeigt, baut Pierenkemper (2012) weitgehend auf Salin‘schen Struktur der Unterteilung historischer Epochen auf und trifft dabei bewusst die Entscheidung, die moderne Ökonomik mit Adam Smith und seinen „Wealth of Nations“ (1776) beginnen zu lassen sowie sich auf die zahlreichen Denkschulen des ökonomischen Mainstream zu konzentrieren. Diese Einschränkung kann durchaus als sinnvoll erachtet werden, da sich das Wirtschaften der Menschen bis in das 16./17. Jahrhundert hinein noch nicht als ein ausdifferenzierter Bereich der Gesellschaft, sondern eher als integrierter Teil der gesellschaftlichen Existenz, als real bestehende Einheit von „Arbeit" und „Leben", begreifen lässt. Das Wort Ökonomie leitet sich von „oikos“ (griechisch „Haus“) ab und bezeichnet zunächst die engere Hauswirtschaft (Bauer und Matis 1988, 43).
In der alteuropäischen traditionalen Gesellschaft8 gehören Haus, Herrschaft und Ökonomie untrennbar zusammen. Das „Haus“ und die „Gemeinde“ sind die primären Sozialisationseinheiten und zentraler Bezugspunkt menschlichen Lebens. Wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit und Eigenversorgung (autarkeia) sind die ökonomischen Ziele des „Hauses“. Das ökonomische Denken der Vormoderne folgt einer anderen Logik, als der, die in modernen Marktgesellschaften vorherrschend ist und sich erst in der Neuzeit herausbilden konnte. Antike Autoren wie Xenophon (430-354 v. Chr.) oder Aristoteles (384-322 v. Chr.) beschäftigten sich vornehmlich mit dem „oikos", der Hauswirtschaft und nicht mit den wirtschaftlichen Fragen ihres Gemeinwesens insgesamt. Getrennt von der "Oikonomik", sozusagen der Managementlehre der Haushalte, ist die Chrematistik, die Kunst des Gelderwerbes und seiner Vermehrung, zu sehen. Aristoteles unterscheidet strikt zwischen den naturgerechten Formen des Erwerbs, die der angemessenen Haushaltsführung und der Gestaltung eines sittlich „guten" Lebens dienen, sowie widernatürlichen Formen des Erwerbs. Der homo oeconomicus im ist also genau das Gegenteil von dem, was Aristoteles unter einem guten Ökonomen verstanden hätte (Pierenkemper 2012, 35).
Im Mittelpunkt des vorklassischen ökonomischen Denkens steht die Annäherung an das Armutsproblem mittels einer moralisch begründeten distributiven Logik und den sich daraus ergebenden Verhaltensanweisungen für ein „gutes“ Leben. Diese distributive Logik wird in der Politischen Ökonomie der Klassik durch die Logik der Produktion abgelöst: Überlegungen zu Wachstum und Verteilung rücken in das Zentrum der ökonomischen Analyse. Zu den Hauptakteuren dieser wirtschaftlichen Epoche zählt Adam Smith (1723-1790), der in seinem 1776 erschienen Werk „An Inquiry into The Nature and Causes of the Wealth of Nations“ vornehmlich „die Eigentümlichkeiten und Ursachen des seinerzeit erstmalig umfassend zu beobachtenden Wohlstandes der Völker“ (Pierenkemper 2012, 153) untersucht. Thomas Robert Malthus (1766-1834) widmet sich den Ursachen der Armut der Unterschichten und versucht Lösungsansätze für das exponentielle Bevölkerungswachstum seiner Zeit zu geben (1798: „An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvements of Society“). Überlegungen zur Bedeutung der staatlichen Rahmenordnung bilden das Fundament der Thesen von John Stuart Mill (1806-1873). David Ricardo (1772-1823) beschäftigte sich mit Fragen der Einkommensverteilung zwischen den Gesellschaftsklassen sowie der Geldordnung und dem Außenwirtschaftsregime der Staaten (1817: „On the Principle of Political Economy and Taxation“). Gemeinsam bilden diese vier Autoren den Kernbestand eines in England entwickelten klassischen ökonomischen Paradigmas (Pierenkemper 2012, 154). Die sich in England durch die rasant fortschreitende Industrialisierung gegen Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts ergebenden Herausforderungen (Einkommens- und Verteilungsgerechtigkeit, Bevölkerungswachstum, Außenhandel, etc.) wurden durch die hier angeführten, aber auch durch andere Autoren aufgegriffen und zwecks Komplexitätsreduzierung erstmals mit der Methode isolierter Abstraktion, dem „Denken in Modellen“ abgehandelt. Wenngleich in den Fragenstellungen der Autoren Parallelen zu finden sind, zeigt sich im Paradigma der klassischen Ökonomie nicht die Herausbildung eines „Mainstreams“ - im Sinne einer axiomatisch vorgegebenen Systemumgebung mit klar definierten Randbedingungen - der bestimmte Lösungsansätze von vornherein ausschliesst. Die ökonomischen Theorien der Autoren sind eigenständige, zumeist in sich selbst geschlossene (Theorie-) Gebäude, zwischen denen keine Brücken bestehen. Dennoch soll damit nicht gesagt sein, dass die Autoren dieser Epoche nicht einen regen Gedankenaustausch untereinander pflegten. David Ricardo stand beispielsweise in engem freundschaftlichem Kontakt mit Thomas Robert Malthus und James Mill, dem Vater von John Stuart Mill.
Erst mit der expliziten Behandlung von Fragen des Wirtschaftslebens und der Akzeptanz, dass Gewinnstreben positive Auswirkungen haben kann oder sogar hat, kann von einer ökonomischen Theorie im eigentlichen Sinn des Wortes gesprochen werden (Rosner 2012, 32). Ökonomische Überlegungen sind bis zum Ende des 14. Jahrhunderts in politische und philosophische Fragestellungen eingebettet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Grosse Ökonomen und ihre Zeit (Geburt zwischen 1620 und 1820)9
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Grosse Ökonomen und ihre Zeit (Geburt nach 1820)10
Eine eigenständige ökonomische Theoriebildung gab es nicht. In den Anfängen der ökonomischen Literatur11 12, versuchen die Autoren immer wieder, wie bereits in dieser Arbeit beschrieben wurde, ein neues, eigenständiges Fundament für die gesamte Disziplin zu errichten. Erst ab 1870, mit der marginalistischen Revolution, beginnt die Geschichte der modernen ökonomischen Theorie der Neoklassik. Als ihre Väter sind William Stanley Jevons (1835-1882) in England, Leon Walras (1840-1921) in der Schweiz und Carl von Menger (1834-1910) in Österreich zu nennen.
Aus dem Blickwinkel der Heterodoxen Ökonomie macht es erst ab 1870, mit dem sich aus den neoklassischen Theorien konstruierenden Mainstream, Sinn, überhaupt erst von einer solchen zu sprechen. Das Heterodoxe braucht für die Kausalität seiner Existenz zwangsläufig das Orthodoxe. Dennoch sind es gerade in der Heterodoxen Ökonomie die ökonomischen Denkansätze, Thesen und Theorien der Klassiker und ihrer Vorläufer, die eine besondere Rolle spielen: Zum einen dienen sie als Ideenpool für eine „andere“, sozialere Ökonomie, da „das Soziale“ und die Einbettung der Ökonomie als ein Teilbereich gesellschaftlichen Denkens und Handelns als inhärentes Merkmal heterodoxer Überlegungen in einem viel höherem Ausmaß zu finden ist, als das in aktuellen neoklassischen (neoliberalen) Denkansätzen der Fall ist. Zum anderen ist die Geschichte der Ökonomie als Lernprozess zu verstehen, der eine weit vor die Zeit der marginalistischen Revolution reichende Kontinuität der Fragestellung aufweist. Zur Entwicklung ökonomischer Theorien ist festzustellen:
Um die Entwicklung eines Objektes über die Zeit hinweg erzählen zu können, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens, dieses Objekt muss eine Identität in der Zeit haben; zweitens, es muss eine Entwicklung haben. Anders gesagt, es muss im Zeitablauf eine Kontinuität der Existenz vorhanden sein und doch einige Veränderungen zeigen. Man stelle sich etwa eine Insel vor, die alle paar Jahre von einem anderen Volk besiedelt wird. Zwischen zwei Besiedlungen vergeht immer einige Zeit. Die Abfolge dieser Besiedlungen kann wohl nicht als Entwicklung dieser Insel gesehen werden. Eher ist jede der Besiedlungen ein Abschnitt in der Entwicklung eines der dort kurzfristig lebenden Völker. Würde hingegen auf dieser Insel immer ein und dasselbe Volk leben, wobei die Lebensform immer gleich geblieben wäre, höchstens die Namen der Könige […] hätten sich geändert, es hätte ebenfalls keine Entwicklung gegeben (Rosner 2009, 19).
Österreich im Jahr 2000 hat in vielen Aspekten die gleiche Entität wie Österreich im Jahr 1920, wenngleich sich sehr viel zwischen diesen beiden Eckdaten geändert hat. Für das heutige Staatsterritorium Österreichs im Vergleich zum Jahr 1400 ist das nur in geringerem Maße der Fall. Es ist jedoch eine Kette von Ereignissen zwischen 1400 und 2000 zu sehen, die es erlaubt, von der Entwicklung „Österreichs“ zu sprechen. Gäbe es bei den späteren Ereignissen keine Beeinflussung durch die früheren, wie bei der wechselnden Besiedlung einer Insel, so läge lediglich eine Abfolge von Geschehnissen vor (Rosner 2009, 19).
Die Konstruktion des Orthodoxen und vice versa des Heterodoxen im zeitweiligen ökonomischen Kontext wird erst durch die Aneinanderfügung der einzelnen Glieder (Theorien) zu einer Kette von Ereignissen ermöglicht. Die theoriegeschichtliche Betrachtung schärft den Sinn für das Verständnis von geschichtlichen Situationen und Entwicklungen, vor allem im ideengeschichtlichen Bereich. In diesem Zusammenhang können aufschlussreiche Fragen gestellt werden:
Wieso gibt es Zeitperioden, in denen eine Theorie dominiert, und Zeitperioden, in denen Theorienvielfalt besteht? Wieso wird ein lange dominierender theoretischer Ansatz (Keynesianismus in 1950er- und 1960er-Jahren) durch einen anderen abgelöst (Neoklassik und Monetarismus ab den frühen 1970er-Jahren bis jetzt)? Damit im Zusammenhang steht die Dominanz von bestimmten Problemen in der einen Zeitepoche, die abgelöst werden von anderen. So dominierte das Problem der Beschäftigung die merkantilistische Epoche, ungefähr 1550 bis 1750. Das Beschäftigungsproblem verschwindet seit Adam Smith (1776) von der Agenda, um mit Keynes (1936) wieder aufzutauchen; in der klassischen und neoklassischen Ära, vor allem im 19. Jahrhundert und weitgehend auch im 20. Jahrhundert dominiert die Theorie der Wettbewerbsmärkte, die eine Tendenz zu Vollbeschäftigung implizieren (Bortis 2012, 12).
Das Studium der grossen Autoren ist Triebfeder für die Kreativität der Heterodoxen Ökonomie, in der es u.a. darum geht, in einer Zeit der Spezialisierung das Ganze zu sehen13. In einem gewissen Sinn sind der Mensch und die Gesellschaft strukturierte Ganzheiten. Die Verkürzung, den Menschen und die Gesellschaft in Stücke zu schneiden und dann diese im Rahmen von speziellen Sozialwissenschaften (Ökonomie, Recht, Politikwissenschaft, Soziologie) zu analysieren, ist aus einer ganzheitlichen Sicht nicht zulässig (Bortis 2012, 11). In diesem Bewußtsein beschäftigen sich die Ansätze der Heterodoxen Ökonomie daher durchgängig nicht mit weitgehend autonomen Bereichen, sondern mit integrierten Aspekten (Dimensionen, Teilen) der Gesamtgesellschaft.
Kerngeschäft der Heterodoxen Ökonomie ist die kritische Auseinandersetzung mit der Ökonomik als Wissenschaft. Es gilt Denkprozesse anzuregen, die dazu beitragen sollen, die wissenschaftlichen Standards eines verkrusteten theoretischen und methodischen Monismus aufzuweichen und eine Debatte für mehr Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften, inklusive eines kritischen Diskurses für mehr wissenschaftliche Redlichkeit und einen Ethik-Kodex in der Ökonomik anzuregen.
So wie in vergangenen Epochen ergibt sich die Notwendigkeit einer solchen Forderung über den Zustand der vorherrschenden Ökonomik zu reflektieren nicht aus einem altruistisch aufzufassenden „Gutenmenschentum“, sondern vielmehr aus dem Zustand der in der Öffentlichkeit als „Sinnkrise“ wahrgenommenen ökonomischen Krisenphänomene.
Auf welchen Ebenen eine solche Reflexion stattzufinden hat, hängt sehr stark mit dem Komplexitätsgrad eines Wirtschaftsystems zusammen. In einfachen strukturierten Gesellschaftssystemen weist wirtschaftliches Handeln die Systemstruktur einer linealen Kette auf. Der Begriff der „Linealität“14 beschreibt dabei die wie an einem Lineal geradlinig ausgerichtete Weitergabe von Ursachen und Wirkungen. Die Bewegungsabläufe im wirtschaftlichen System beschränken sich auf die Wiederholung eines klar vorgegebenen Verhaltensprogramms. Die im System-Umwelt-Verhältnis fehlenden Rückkopplungsschleifen führen dazu, dass in einem solchen klassisch-mechanischen Weltverständnis weder auf interne Zustandsänderungen noch auf externe Rahmenbedingungen reagiert werden kann. In diesem Sinne besitzen diese Systeme keine definierte Schnittstelle zu ihrer Umwelt und sind daher Veränderungen in der Umwelt hilflos ausgesetzt. Da sich die Ursachen niemals verbrauchen und jeweils aufgrund des Prinzips der Linealität nur an Wirkungen weitergereicht werden, die ihrerseits zu Ursachen für weitere Wirkungen werden, ergibt sich die Zukunft gesetzmäßig zwingen aus den Bedingungen der Gegenwart.
Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft sind miteinander kausal gekoppelt, sodass eine Vorhersage der Zukunft und eine Ermittlung der Vergangenheit nur ein Problem der Verfügbarkeit der nötigen Informationen, nicht jedoch ein prinzipielles Problem bereitet, wie es sich ergeben würde, wenn tatsächlich Neues entstünde oder wenn auf eine Ursache mehrere verschiedene Wirkungen folgen könnten. Damit erscheinen das Universum und alles in ihm als großes Räderwerk, das sich ewig drehen wird. Die konsequente Anwendung des klassisch-mechanischen Weltbildes auf alle Naturvorgänge führt zu unendlichen Ursache-Wirkungsketten, aus denen logisch der Laplace’sche Dämon folgen muss, der, wenn es ihn gäbe, Zukunft und Vergangenheit des Universums kennte (Schiepek und Strunk 2006, 19).
In einem mechanischen System fehlt es grundsätzlich an der Möglichkeit, Neues, Kreativität oder den freien Willen zu erklären. Die bestehende Ordnung wird als gottgegeben angenommen und gilt als unveränderbar. Die alteuropäische traditionale Gesellschaft entspricht diesem klassisch-mechanischen Weltverständnis, in dem sich die Zukunft gesetzmäßig zwingend aus den Bedingungen der Gegenwart ergibt (siehe Seite 14). Die Wirtschaft in einem solchen System dient der Bedarfsdeckung, Fortschritt und (Wirtschafts-)Wachstum sind systemimmanent nicht möglich.
Die Neuzeit durchbricht die Mechanismen des Determinismus und der Kausalität. Mit den zunehmenden Freiheitsgraden wirtschaftlicher Entwicklung nimmt auch die damit verbundene Komplexität wirtschaftlichen Denkens und Handelns stetig zu. Welche Herausforderungen für die Wirtschaftswissenschaften mit einem zunehmenden Komplexitätsgrad verbunden sind und inwieweit ein solcher zur Herausbildung orthodoxer und heterodoxer Wirtschaftstheorien beiträgt, wird folgenden Unterkapitel 1.3. dargestellt.
1.3. Wirtschaft und komplexe Rahmenbedingungen
Wirtschaftliche Krisenzustände werden zunehmend auch als Krise der monokulturellen, mainstreamdominierten Wirtschaftswissenschaften interpretiert. Warum wurde die Krise 2008 nicht von den ÖkonomInnen vorhergesehen? Sind die in der Ökonomik angenommenen Modelle und Methoden "richtig", besteht ein angemessener Realitätsbezug? Oder ist die Krise selbst gar Ergebnis einer jahrzehntelang kultivierten ökonomischen Monokultur, die Pluralität und den fairen Umgang mit anderen Strömungen ins Hintertreffen geraten ließ?
Die räumliche und die zeitliche Dimension ökonomischen Handelns unterliegen einer rationalen Kontinuität (vgl. Unterkapitel 1.1 und 1.2). Der Weg der Expansion wirtschaftlicher Räume kann beginnend mit der Entdeckung Amerikas (1492), über die Phase der europäischen Dominanz im Freihandel und Imperialismus (1857-1930) bis hin zur gegenwärtigen neoliberalen Globalisierung gezeichnet werden. Mit der „Verdichtung“ des europäischen Weltsystems seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ausgelöst durch die voranschreitende Industrialisierung der Ökonomien des Nordens und durch die eingeläutete wirtschaftliche, politische aber auch kulturelle Bindung der Länder des Südens (Rohstofflieferanten, Absatzmärkte) an den Norden, wurden einst wirtschaftlich autarke Regionen und Räume verstärkt vernetzt und von den Effizienzkriterien der Ökonomik durchdrungen (Wendt 2007, 253).
Grundlegend waren die revolutionären Veränderungen im Transport- und Kommunikationswesen. Sie intensivierten die Nutzung der Welt als Pflanzgarten für Cash Crops, die für den Konsum in der nördlichen Hemisphäre bestimmt waren, und sie verstärkten globale Migrationsströme. Symbolisch zweigt sich die weltweite Dominanz des Nordens in der Verallgemeinerung seiner Normen, etwa in der Zeitmessung. Die ‚Greenwich mean time‘ wurde 1884 zum Bezugspunkt aller Uhren der Welt. Sie orientiert sich an einem Nullmeridian, der durch Greenwich verläuft, den Sitz des Königlich-Britischen Observatoriums (Wendt 2007, 266).
Mit der Vernetzung der Welt ist zwangsläufig die Zunahme der Komplexität wirtschaftlicher Abläufe und Handlungen verbunden. Letztendlich war es die enge ökonomische Verflechtung der Welt, die am 24.10.1929 an der New Yorker Börse („schwarzer Freitag“) zur zehn Jahre lang andauernden Weltwirtschaftskrise führte. Als einschneidende Zäsur erfasste eine Art Kettenreaktion alle Kontinente und krisenhafte Entwicklungen wurden weltweit ausgelöst. Unmittelbar dekolonisierend wirkten die Ereignisse jedoch nicht (Wendt 2007, 320).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Warenexporte zu konstanten Preisen von 1990 (in Mio. USD) 15
Im Zeitraum von 1870 bis zur ersten Weltwirtschaftskrise 1929 hat sich das Welt-Handelsvolumen in etwa verfünffacht. Im Zeitraum von 1929 bis 1998 ist ein Anwachsen auf den 42-fachen Wert zu verzeichnen, in der Betrachtung des Gesamtzeitraumes von 1870 (Beginn der neoklassischen Revolution) bis 1998 wird nahezu das 200-Fache des Ausgangswerts erreicht. Diese wirtschaftliche Entwicklung, die mit ihr einhergehende Vernetzung heterogener Wirtschaftsräume sowie die exponentielle Zunahme der unterschiedlichen Interessen im Beziehungsgeflecht der teilnehmenden (Handels-)Agenten bildet letztendlich die Komplexität der Welt ab, in der wir heute in den (post-)industrialisierten Ländern mit den internationalen Handelsverflechtungen des Realkapitalismus und dem immer mehr um sich greifenden, neoliberal geprägten Finanzkapitalismus leben.
Die Nationalökonomie - in der Realität längst eine Internationalökonomie - ist im Wesentlichen eine Erfahrungswissenschaft. Die ökonomischen Ideen sind immer auch Ergebnisse ihrer Zeit und ihres Umfelds. Adam Smith sammelte seine Erkenntnisse zu Beginn der industriellen Revolution. Das Kapital von Karl Marx wäre ohne das soziale Elend und ohne den ungezügelten Kapitalismus seiner Zeit kaum denkbar, und John Maynard Keynes hat seine bahnbrechenden Theorien nach bzw. in der großen Weltwirtschaftskrise entwickelt (Herz 2000, V).
Wohingegen die klassischen Ökonomen durchaus erfolgreich in ihren Werken versuchten, die zu ihrer Zeit bestehenden komplizierten wirtschaftlichen Lebenswelten durch in sich geschlossenen Gesamttheorien zu erforschen („zu erfahren“) und abzubilden16, ist im komplexen 17 Zeitalter der Neoklassik ab 1870 die pragmatische Beschränkung auf die Darstellung von Partialmodellen feststellbar.
So darf es mit nüchterner Logik betrachtet nicht verwundern, dass eben genau diese sich herausbildende Komplexität der ökonomischen Rahmenbedingungen zur Etablierung des neoklassischen Paradigmas als Mainstream-Ökonomie beigetragen hat. Ein zunehmender Komplexitätsgrad in Wirtschaftssystemen verlangt geradezu nach den komplexitätsreduzierenden Antworten der Neoklassik, die sich selbstreferenziell durch axiomatisch definierte Kernelemente konstituiert: Knappheit, Präferenzen und Nutzenfunktionen, Technologie und Produktionsfunktionen, Rationalität, Gleichgewicht, ontologischer und methodologischer Individualismus. Immunisiert durch die ceteris-paribus-Methode werden Märkte als unveränderliche Kernmetapher zu effizient arbeitenden „Maschinen“. Die Reduzierung von Ökonomie auf Modelle, die nach formal-mathematischen Kriterien erstellt werden, mündet in einem durch mangelnde Kommunikationsfähigkeit zum Ausdruck kommenden Dogmatismus und in einer Immunisierung gegenüber anderen ökonomischen Denkansätzen und Theorien. „Rahmenbedingungen“, wie etwa das Soziale, die nicht ins Abbildungsschema der Modelle passen oder nicht den formal-mathematischen Methoden gehorchen, werden unreflektiert vernachlässigt.
Zum Begriff der Komplexität schreibt Niklas Luhmann:
Wenn wir den Begriff der Komplexität auf den Begriff einer Unterscheidung oder einer Form bringen wollen, können wir nicht deswegen auch sagen, dass das Komplexitätsproblem das Problem der Schwelle ist, von der ab nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden kann. Einfache Komplexität, wenn man so paradox formulieren darf, ist die, die es noch erlaubt, alles mit allem zu verknüpfen. Komplexe Komplexität ist der Fall, in dem Selektionsmuster nötig sind und progressiv anforderungsreicher, also selektiver, kontingenter und informationsreicher werden, also fordern, dass dies und nicht etwas anderes realisiert werden muss. Diese Art der Formulierung zeigt schon an, dass wir nicht mehr mit der Unterscheidung von einfach und komplex arbeiten können. Es gibt keinen Begriff des Einfachen in dieser Theorie [Anm. des Autors: der Systemtheorie], sondern allenfalls einen Begriff für Komplexität, die es noch erlaubt, alles mit allem zu verbinden, und einen Begriff für Komplexität einer höheren Stufe, die das nicht mehr erlaubt (Luhmann 2008, 174).
Die neoklassischen Ansätze tragen durch die vorgenommene Komplexitätsreduktion der in der Realwirtschaft tatsächlich vorhandenen komplexen Komplexität nicht Rechnung: Sie sind formal exakt, d.h. in einer mathematischen Sprache mit Symbolen formuliert, können aber definitiv nichts erklären (Brodbeck 2013, 102). John Maynard Keynes, übrigens selbst studierter Mathematiker, hält zu den Mathematisierungsversuchen fest: „Die neue mathematische Ökonomie ist nur ein Gebräu, ebenso unpräzise wie die anfänglichen Voraussetzungen, auf denen sie basiert und die dem (jeweiligen) Autor erlauben, den Blick für die Komplexität und Interpendenz der realen Welt in einer Masse überheblicher und wertloser Symbole zu verstecken“ (Keynes 1936, 298).
Die von der Heterodoxen Ökonomie an der orthodoxen Mainstream-Ökonomie ausgeübte Kritik bezieht sich nicht nur auf die Frage der „richtigen“ Modelle und Methoden die einen angemessenen, dem in der modernen Wirtschaft vorliegenden Komplexitätsgrad gerecht werdenden Umgang ermöglichen, sondern umfasst ebenso die Mechanismen und Techniken die zu einem methodischen Monismus führen. Hier sind nicht nur die bereits angeführten Vorwürfe einer starken Vereinseitigung und Formalisierung (auch: Mathematisierung) der Ökonomik gemeint, sondern auch die Betonung bibliometrischer Kriterien (Journal-Rankings) bei der Besetzung von Positionen im universitären Bereich sowie der Beurteilung bei der Zuteilung von Forschungsgeldern (Hirte und Thieme 2013, 2).
Inwieweit das komplexe Umfeld für ökonomisches und wirtschaftspolitisches Handeln auf theoretisch-methodologischer Ebene Berücksichtigung findet, ist sehr stark von der jeweiligen „Schule“ und den getroffenen Annahmen und Axiomen abhängig.
Im den nächsten beiden Kapiteln werden die wichtigsten Denkschulen der den Mainstream konstruierenden Orthodoxen Ökonomie sowie der Heterodoxen Ökonomie, die gegenwärtig hauptsächlich als Gegenposition zur Mainstream-Ökonomie verstanden werden kann, dargestellt.
2. Orthodoxe Ökonomie (Mainstream-Ökonomie)
2.1. Begriff und Abgrenzungskriterien zur Heterodoxen Ökonomie
Der Begriff „Mainstream-Ökonomie“ bezeichnet jene Ideen, Ansätze und Theorien in den Wirtschaftswissenschaften die von der universitären Lehre und den Lehrbüchern präferiert werden, deren Forschung bevorzugt gefördert wird und die vorrangig in den Top-Fachzeitschriften zitiert werden (Colander, Holt und Rosser 2003, 5). Dobusch und Kapeller (2009, 1) reduzieren den Mainstream kurzum auf „habits of thought“ die das wirtschaftliche Denken und Handeln dominieren. Freilich unterliegt auch der Mainstream einer dogmenhistorischen Entwicklung, die zusammenfassend wie folgt dargestellt werden kann:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Die Entwicklung des Mainstream18
Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts gleicht die Mainstream-Ökonomie einem Monopol der neoklassischen Modellökonomik, das weniger die ökonomische Realität als vielmehr die Wunschvorstellungen der Ökonomen abbildet.
Der Begriff des Mainstream zeigt sich als soziologische Kategorie; davon zu unterscheiden sind die Begriffe der „Orthodoxie“ und der „Heterodoxie“, die als intellektuelle Kategorien aufzufassen sind (Dequech 2012, 214). Es gibt allerdings auch Autoren, bei denen sich die soziale und die intellektuelle Kategorie immer wieder überschneiden. Aufgrund des Umstandes, dass in der gängigen Literatur die Orthodoxe Ökonomie weitgehend mit dem Mainstream gleichgesetzt wird, schlagen manche Autoren vor, einzig in Mainstream und Nicht-Mainstream zu unterscheiden (Dequech 2012). Andere AutorInnen setzen die Orthodoxie mit der Neoklassik und/oder dem Mainstream gleich. Dort wo Orthodoxie und Heterodoxie unterschieden werden, ist man sich weitgehendst darin einig, dass sich die Orthodoxie und die Heterodoxie jeweils negativ voneinander abgrenzen (Hirte und Thieme 2013, 23). Diese duale Komplementarität widerstrebt jedoch einzelnen Autoren (z.B. Lee 2012 und Lavoie 2012): So wird betont, die heterodoxen Strömungen seien eigenständige Alternativen und als solche nicht auf die Orthodoxie angewiesen. Ein Verschwinden der Orthodoxie hätte nicht zwangsläufig das Ende der Existenz der Heterodoxie zu bedeuten.
Die Frage, ob nun ein Wissenschaftler der Orthodoxen oder der Heterodoxen Ökonomie zuzuordnen ist, ist fallweise nicht mit einem „Entweder-oder“, sondern vielmehr mit einem „Sowohl als auch“ zu beantworten. Dieser Umstand wird in der Literatur von Colander, Holt und Rosser (2003, 8) aufgegriffen, die diesbezüglich von „the edge of economics“ schreiben:
The edge of economics is that part of mainstream economics that is critical of orthodoxy, and that part of heterodox economics that is taken seriously by the elite of the profession.
Lavoie (2012, 323) spricht von orthodoxen Abweichlern (dissenters), also von ÖkonomInnen die sich noch innerhalb des ökonomischen Mainstreams bewegen, aber durchaus heterodoxe Kriterien in ihre Forschung aufgenommen haben. Die Kritik am Mainstream - ein immer wieder der Heterodoxen Ökonomie zurecht zugeschriebenes Merkmal - muss nicht immer heterodoxer Natur sein, sondern kann auch durchaus aus dem Graubereich der „dissenters“ orthodoxen Ursprungs sein. Einzelne, aus der orthodoxen Ökonomie des Mainstreams entstandene „kritische Ansätze“ (z.B. Verhalten-, Neuro- und Komplexitätsökonomie) wirken auf den ersten Blick erfrischend, wagen jedoch bei näherer Betrachtung keine Grundlagenkritik und unterwerfen sich den methodologischen Einschränkungen des Mainstreams.
Dobusch und Kapeller (2012) visualisieren die definierten Überschneidungsbereiche Mainstream, Orthodoxie und Heterodoxie in der untenstehenden Abbildung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Orthodoxie, Mainstream und „Dissenters“19
Die vielfältigen Definitionsversuche in der Literatur zeigen letztendlich, dass die Unterscheidung zwischen Mainstream, Orthodoxie und Heterodoxie aufgrund der unterschiedlich verstandenen Begrifflichkeiten, der phänomenologischen sowie der inhaltlichen und kategorialen Überlagerungen als auch aufgrund der Diskussion der mathematischen Formalisierung als dem Merkmal des Mainstreams, schwierig und strittig ist (Hirte und Thieme 2013, 16).
[...]
1 https://wu-wien.brockhaus-wissensservice.com/brockhaus/wirtschaft (Abfrage 15.07.2013 )
2 Gesamt-Angebot und Gesamt-Nachfrage einer Volkswirtschaft (Makroökonomie) werden seit der „marginalistischen Revolution“ jeweils durch Akkumulation der mikroökonomische Angebots- bzw. Nachfragewerte konstruiert. Als Rechtfertigung für die Mikrofundierung der Makroökonomie dient das Say‘sche Gesetz, welches einen automatischen Ausgleich von Gesamtangebot und Gesamtnachfrage postuliert, also makroökonomische Ungleichgewichte ausschließt (Söllner 2012, 152).
3 Das von Erich Gutenberg (1897-1938) formulierte Wirtschaftlichkeitsprinzip beschreibt optimales wirtschaftliches Handeln entweder mit gegebenen Mitteln (wirtschaftlichen Gütern, Produktionsfaktoren) den größtmöglichen Erfolg (Nutzen, Gewinn) zu erzielen (= Maximalprinzip) oder ein vorweg definiertes Ziel (z.B. eine bestimmte Gewinnhöhe) mit dem geringst möglichen Aufwand zu erreichen (= Minimalprinzip). Das Wirtschaftlichkeitsprinzip ist auf die bestmögliche Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen ausgerichtet.
4 Edling 2008, 9
5 Die Adäquationstheorie der Wahrheit geht von der Überstimmung gedanklicher Vorstellungen mit der Wirklichkeit aus. Das zugrundeliegende Adjektiv "wahr" kann sich aber auch auf die Echtheit, Richtigkeit, Reinheit oder Authentizität einer Sache, einer Handlung oder einer Person, gemessen an einem bestimmten Begriff, beziehen (vgl. de.cyclopaedia.net/wiki/Adaequationstheorie. Abfrage: 11.11.2013).
6 Pierenkemper 2012, 33
7 A. Föllmi, in: "Die Zeit“ (09.04.1993), „Der letzte Humanist“, http://www.zeit.de/1993/15/der-letzte-humanist (Abfrage: 15.07.2013)
8 „Die traditionale Gesellschaft ist im Vergleich zur neuzeitlich-kapitalistischen eine statische, in sich ruhende Gesellschaft. Ihre Ordnung wird als eine von Gott gewollte, nicht als eine von Menschen geschaffene Realität begriffen.“ (Bauer und Matis 1988, 15)
9 Datenbasis vgl. http://www.oekonomie-klassiker.de/geschichte/index.html (Abfrage 27.10.2013)
10 Datenbasis vgl. http://www.oekonomie-klassiker.de/geschichte/index.html (Abfrage: 27.10.2013)
11 William Petty (1623-1687) wird von Karl Marx als „Vater der politischen Ökonomie“ bezeichnet. In seinen beiden Hauptwerken „Politische Anatomie“ und „Politische Arithmetik“ wird das Fundament für eine moderne Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die um den Begriff des Nettosozialprodukts kreist, gelegt. Mit Petty steigt die Bedeutung von Arbeit und Produktion für die Reichtumsbildung (anstelle von Raub, Eroberung und Handel). Pettys Kreislaufvorstellung von Wirtschaft wird von Richard Cantillon weiterentwickelt und führt bei François Quesnay zur ersten Darstellung des Produktions-, Verteilungs- und Verwendungsprozesses des gesellschaftlichen Reichtums einer Nation in Gestalt des Tableau Économique (Kurz 2008, 45).
12 „Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den innern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt.“ (Marx,[1967] 1967, 95, Fn 32 in: Kurz 2008, 44)
13 „Ganze Sachen sind immer einfach, wie die Wahrheit selbst. Nur die halben Sachen sind kompliziert“, Heimito von Doderer.
14 Der Begriff der Linealität wird häufig mit dem in der Mathematik gebräuchlichem Begriff der Linearität verwechselt. Während in der Mathematik der Begriff die Art der Weitergabe von einzelnen Ursachen an bestimmte Wirkungen kennzeichnet (z.B. y ergibt sich aus dem Zweifachen von x), bezieht sich der Begriff der Linealität auf die Struktur des Systems, die für klassisch-mechanische Systeme als eine endlose vorwärts gerichtete Kette ohne Rückkoppelungsschleifen definiert werden kann (Schiepek und Strunk 2006, 18).
15 OECD 2004, 390. Mengenmäßige Entwicklung in den großen Einwanderungsländern und Japan aus A. Maddison, Dynamic Forces in Capitalist Development, OUP, 1991, Anhang F, aktualisiert nach OECD, Economic Outlook, Dezember 1999. Spanien 1826-1980 aus A. Carreras (Hrsg.), Estadisticas Historicas de España: Siglos XIX-XX, Fundacion Banco Exterior, Madrid, 1989, S. 346-347. UdSSR, Lateinamerika und Asien aus Quellen in A. Maddison, The World Economy in the Twentieth Century, OECD-Entwicklungszentrum, 1989, S. 140,aktualisiert anhand mengenmäßiger Entwicklung laut IWF, International Financial Statistics, mehrere Ausgaben. Brasilien 1870-1913 aus R.W. Goldsmith, Brasil 1850-1984: Desenvolvimento Financeiro Sob um Secolo de Inflacâo, Harper & Row, Sao Paulo, 1986, S. 54-55 und 110-111: Peru 1870-1950 aus S.J. Hunt, “Price and Quantum Estimates of Peruvian Exports, 1830-1962”, Discussion Paper 33, Research Program in Economic Development, Princeton University, Januar 1973, (1929 gewichteter Durchschnitt aus 1900-1950, 1900 gewichteter Durchschnitt aus 1870-1900): Venezuela 1913-1929 aus A. Baptista, Bases Cuantitativas de la Economia Venezolana 1830-1989, C. Corporativas, Caracas, 1991, und 1929-1992 aus ECLAC-Quellen. 1990-1998 Entwicklung gemäß ADB, OECD, ECLAC, IWF.
16 Die im Jahr 1890 von Alfred Marshall publizieren „Principles of Economics“ versuchen als letztes großes Gesamtwerk den Anspruch auf eine All-Theorie zu stellen. Allerdings ist bei dem ursprünglich aus zwei Bänden konzipiertem Werk nur der erste Band, der heute als Mikroökonomie bezeichnete Teil der Volkswirtschaftslehre, geschrieben worden. Der zweite Band, der unter dem Stichwort Makroökonomie behandelten Fragen, wurde von Marshall nicht mehr fertiggestellt. Seine makroökonomischen Überlegungen waren dennoch für die Entwicklung der makroökonomischen Theorie in Cambridge von großer Bedeutung (Rosner 2012, 342).
17 Komplizierte Systeme bewahren im Unterschied zu komplexen Systemen betreffend ihrer Bestandteile einen gewissen Grad an Unabhängigkeit. Bei komplizierten Systemen ist es möglich, einen Bestandteil zu entfernen, sodass das System weniger kompliziert wird, funktionell aber im Großen und Ganzen dasselbe System bleibt. Bei komplexen Systemen hingegen führt die Entfernung eines Bestandteils weit über die Aspekte rund um den entfernten Teil hinaus. Entfernt man in einem Auto beispielsweise einen Sitz, so wird es weniger kompliziert, entfernt man den Keilriemen, so wird es fahruntüchtig. Die Tragweite für die neuzeitliche Ökonomie als komplexem System und die modellhafte Reduktion dieser Komplexität im neoklassischen Paradigma ergibt sich nach dieser Begriffsdefinition, wonach nur komplizierte Systeme reduzierbar sind, nicht aber komplexe. Miller und Page (2007), in: Füllsack (2011), 8.
18 Dürmeier 2002, 9
19 Dobusch und Kapeller 2012
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