Einleitung
Der 1. Mai 2004 ist ohne Frage ein Datum, für welches keinerlei Verdacht besteht, das Adjektiv „historisch“ unterliege in diesem Zusammenhang einem inflationären Gebrauch. Zwar wird die Europäische Union an diesem Tage nicht zum ersten Mal erweitert, wohl aber ist die Dimension dieser Erweiterungsrunde einmalig. Mehr als 75 Mio Menschen werden dann zu neuen Bürgern der EU, deren Fläche sich um nahezu 20% vergrößert. Doch die Europäische Union empfängt nicht nur zehn neue Mitglieder. Sie erhält außerdem drei neue Nachbarn: Moldawien, die Ukraine und Weißrussland. Von diesen drei Ländern bedarf vor allem die Ukraine einer sorgfältigen Betrachtung, da diese sich als einziger neuer Nachbar mit diesem Status unzufrieden zeigt und wiederholt Entschlossenheit bekundet hat, selbst Vollmitglied der EU zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es äußerst interessant, den derzeitigen Zustand des politischen Systems der Ukraine hinsichtlich dessen Stabilität und möglicher Entwicklungstendenzen zu untersuchen, da daraus maßgebliche Rückschlüsse für eine Strategie bezüglich des künftigen Umgangs der EU mit dem neuen Nachbarn gezogen werden können. Hierbei wird der Begriff des politischen Systems funktional als konstituierendes Element eines übergeordneten, sich aus den einzelnen Subsystemen ergebenden Gesellschaftssystems verstanden, dessen Stabilität sich gemäß dem AGIL-Schema nach Talcott Parsons aus der spezifischen Funktionalität und der Kompatibilität seiner Bestandteile ergibt. Im Bewusstsein um die gesellschaftstragende Bedeutung des politischen Systems soll dieses nicht einzig bezüglich seiner Stabilität untersucht, sondern zugleich hinsichtlich seines eigenen normativen Anspruches auf eine demokratische Staatsform überprüft werden. Zu diesem Zwecke wird das politische System zunächst anhand der beiden grundlegenden Kategorien des zentralen politischen Entscheidungssystems und der Vermittlungsagenturen in seiner verfassungstheoretischen Konzeption dargestellt und daran anknüpfend bezüglich der Kohärenz der zugehörigen politischen Praxis durchleuchtet. Hierbei werden auch aktuelle Ereignisse der ukrainischen Politik berücksichtigt. Abschließend sollen aufgrund der gewonnen Erkenntnisse wahrscheinliche Entwicklungstendenzen beschrieben werden. Der Entwurf einer Strategie für den zukünftigen Umgang der EU mit der Ukraine ist nicht Ziel dieser systemtheoretischen Arbeit; allerdings in einem weiteren, hierauf gründenden Schritt durchaus denkbar.
GLIEDERUNG
I. Einleitung
II. Das politische Subsystem
1. Zentrales politisches Entscheidungssystem
a) Präsident
b) Ministerkabinett
c) Parlament
d) Interdependenzen
2. Vermittlungsagenturen
a) Parteien
b) Medien
c) Interessengruppen
III. Instabilitäten und Entwicklungsprobleme
1. Zentrales politisches Entscheidungssystem
2. Vermittlungsagenturen
a) Parteien
b) Medien
c) Interessengruppen
IV. Entwicklungstendenzen
LITERATURVERZEICHNIS
I. Einleitung
Der 1. Mai 2004 ist ohne Frage ein Datum, für welches keinerlei Verdacht besteht, das Adjektiv „historisch“ unterliege in diesem Zusammenhang einem inflationären Gebrauch. Zwar wird die Europäische Union an diesem Tage nicht zum ersten Mal erweitert, wohl aber ist die Dimension dieser Erweiterungsrunde einmalig. Mehr als 75 Millionen Menschen werden dann zu neuen Bürgern der EU, deren Fläche sich um nahezu 20 % vergrößert.[1] Doch die Europäische Union empfängt nicht nur zehn neue Mitglieder. Sie erhält außerdem drei neue Nachbarn[2]: Moldawien, die Ukraine und Weißrussland.
Von diesen drei Ländern bedarf vor allem die Ukraine einer sorgfältigen Betrachtung, da diese sich als einziger neuer Nachbar mit diesem Status unzufrieden zeigt und wiederholt Entschlossenheit bekundet hat, selbst Vollmitglied der EU zu werden.[3] Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es äußerst interessant, den derzeitigen Zustand des politischen Systems der Ukraine hinsichtlich dessen Stabilität und möglicher Entwicklungstendenzen zu untersuchen, da daraus maßgebliche Rückschlüsse für eine Strategie bezüglich des künftigen Umgangs der EU mit dem neuen Nachbarn gezogen werden können.
Hierbei wird der Begriff des politischen Systems funktional als konstituierendes Element eines übergeordneten, sich aus den einzelnen Subsystemen ergebenden Gesellschaftssystems verstanden, dessen Stabilität sich gemäß dem AGIL-Schema nach Talcott Parsons[4] aus der spezifischen Funktionalität und der Kompatibilität seiner Bestandteile ergibt.
Im Bewusstsein um die gesellschaftstragende Bedeutung des politischen Systems soll dieses nicht einzig bezüglich seiner Stabilität untersucht, sondern zugleich hinsichtlich seines eigenen normativen Anspruches auf eine demokratische Staatsform überprüft werden. Zu diesem Zwecke wird das politische System zunächst anhand der beiden grundlegenden Kategorien des zentralen politischen Entscheidungssystems und der Vermittlungsagenturen in seiner verfassungstheoretischen Konzeption dargestellt und daran anknüpfend bezüglich der Kohärenz der zugehörigen politischen Praxis durchleuchtet. Hierbei werden auch aktuelle Ereignisse der ukrainischen Politik berücksichtigt.
Abschließend sollen aufgrund der gewonnen Erkenntnisse wahrscheinliche Entwicklungstendenzen beschrieben werden. Der Entwurf einer Strategie für den zukünftigen Umgang der EU mit der Ukraine ist nicht Ziel dieser systemtheoretischen Arbeit; allerdings in einem weiteren, hierauf gründenden Schritt durchaus denkbar.
II. Das politische Subsystem
Rechtliche Grundlage des politischen Systems der Ukraine bildet die Verfassung vom 28.06.1996. Die ausführliche Auseinandersetzung des daraus hervorgehenden zentralen politischen Entscheidungssystems bildet den Schwerpunkt in diesem Teil der Arbeit, welcher durch eine wertfreie Darstellung der Verfassungstheorie eröffnet wird. Im Anschluss wird die Rolle der Intermediäre, der sogenannten Vermittlungsagenturen, im politischen System der Ukraine geschildert.
1. Zentrales politisches Entscheidungssystem
a) Präsident
Obwohl das Amt des Präsidenten erst in Kapitel V der Verfassung[5] und somit nach dem Parlament ausgestaltet wird, soll es hier, soviel sei vorweggenommen, seiner Bedeutung gemäß zuerst behandelt werden. Der Präsident ist nach Art. 102 I[6] das offizielle Staatsoberhaupt des Landes und handelt als solches in dessen Namen. Er vertritt den Staat nach außen, schließt internationale Verträge und führt die Außenpolitik des Landes (Art. 106 I Nr. 3). Diese weit reichende außenpolitische Zuständigkeit macht den Präsidenten zum wichtigsten Ansprechpartner für alle Akteure der internationalen Politik, welche mit der Ukraine in jedweder Form interagieren.
Neben diesen außenpolitischen Kompetenzen gewährt die Verfassung dem Präsidenten außerdem umfassende Befugnisse auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So ist der Präsident der Ukraine nicht nur Oberbefehlshaber der Streitkräfte, er besitzt darüber hinaus die Ministerialgewalt zu Fragen der nationalen Sicherheit und der Verteidigung gemäß Art. 106 I Nr. 17. Für diesen exekutiven Kernbereich verlangt die Verfassung zudem die Institutionalisierung eines nationalen Sicherheitsrates, dem der Präsident vorsteht und dessen Mitglieder er, mit Ausnahme eines festen Kerns, ernennt. Aufgabe des Rates ist die Überwachung und Koordination der auf diesem Gebiet tätigen Behörden (Art. 107).
Als weitere bedeutende Instrumente der präsidialen Machtausübung haben sich insbesondere das Recht auf Durchführung landesweiter Referenden für Verfassungsänderungen nach Art. 106 I Nr. 6 und die Möglichkeit des Erlasses von Dekreten gemäß Art. 103 III erwiesen. Diese Präsidentendekrete dürfen jedoch nicht mit lediglich verwaltungsintern wirkenden Rechtsverordnungen gleichgesetzt werden, da sie, ähnlich Gesetzen, auch unmittelbare Außenwirkung für den einzelnen Bürger entfalten. Allerdings ist diese weit reichende Kompetenz durch Art. 92 begrenzt, welcher ausdrücklich die einzig per Gesetz regelbaren Sachgebiete, beispielsweise die Grundrechte, die Prinzipien der Selbstverwaltung oder die Organisation der Gerichtsbarkeit, benennt. Diese beiden Befugnisse des Präsidenten sind jedoch bei weitem nicht die einzigen, die über den rein exekutiven Bereich hinausreichen.
So untersteht beispielsweise die Ernennung eines Drittels der Richter des Obersten Verfassungsgerichts gemäß Art. 106 I Nr. 22 seiner alleinigen Entscheidung. Getreu dem Prinzip der checks and balances bestehen darüber hinaus zwischen den getrennt dargestellten Verfassungsorganen wechselseitige Beziehungen, welche aus Gründen der Übersichtlichkeit in dem Abschnitt „Interdependenzen“ gesondert dargestellt werden.
Voraussetzung für die Wahl in das Präsidentenamt ist die Vollendung des 35. Lebensjahres, der Besitz des Wahlrechts, die Beherrschung der Staatssprache und der Aufenthalt in der Ukraine in den zehn Jahren vor der Wahl (Art. 103 II). Die Wahl zum Präsidenten findet alle fünf Jahre am letzten Sonntag im Oktober statt, wobei die mächtige Stellung des Präsidenten durch deren Unmittelbarkeit legitimiert wird (Art. 103 I). Die Amtsausübung ist gemäß Art. 103 III auf zwei Perioden begrenzt.
Erster Präsident der Ukraine nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit im August 1991 wurde Leonid Makarowitsch Krawtschuk. Mit der absoluten Mehrheit von 61,6 % der Stimmen gelang ihm bereits im ersten Wahlgang der Einzug in das höchste Staatsamt.[7] Als er 1993 die eigene Machtfülle durch Vereinigung seines Amtes mit dem des Ministerpräsidenten zu vergrößern trachtete, lehnte das Parlament das Gesuch des zum Rücktritt gedrängten Amtsinhabers, Leonid Danilowitsch Kutschma, zunächst ab.[8] Infolge weiterer politischer und wirtschaftlicher Verworrenheiten kam es im Juni 1994 zu vorgezogenen Neuwahlen, aus denen eben jener Leonid Kutschma im zweiten Wahlgang mit 52,1 % der Stimmen als Sieger hervorging.[9] Kutschma wurde seitdem ein weiteres Mal im Amt bestätigt. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 1999 siegte er erneut im zweiten Wahlgang, diesmal mit 57,7 % der abgegebenen Stimmen.[10]
[...]
[1] Datenquelle: ARD-Spezial, EU-Osterweiterung, http://www.mdr.de/eu
[2] Anm.: Die Balkanstaaten sind hierbei ausgeklammert.
[3] S. Archiv der Gegenwart 10 / 2003, 46556 oder FAZ, 01.06.2001, Nr. 126, S. 7
[4] Schreyer / Schwarzmeier, Grundkurs Politikwissenschaft, S. 38 f.
[5] S. Constitution of Ukraine (im Weiteren Verfassung der Ukraine)
[6] Alle nachfolgenden Artikel ohne Gesetzesangabe sind solche der Verfassung der Ukraine.
[7] S. http://www.president.gov.ua/eng/president/historypresid/ vom 10.03.2004
[8] Microsoft, Encarta, „Krawtschuk, Leonid Makarowitsch“
[9] S. http://www.president.gov.ua/eng/president/historypresid/ vom 10.03.2004
[10] CIA, The World Factbook, http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/up.html
- Quote paper
- Florian Jung (Author), 2004, Die Ukraine - der neue Nachbar der EU: Instabilitäten und Entwicklungsprobleme des politischen Systems, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28114
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