Ethikkodizes sind in der heutigen Sozialforschung nicht mehr wegzudenken. Allein die American Sociological Association (ASA) hat mit ihrem ‚Code of Ethics‘ großen Einfluss auf die moderne experimentelle Forschung. Darin heißt es unter anderem: “Sociologists do not use deceptive techniques (1) unless their use will not be harmful to research participants” und weiter “Sociologists never deceive research participants about significant aspects of the research that would affect their willingness to participate, such as physical risks, discomfort, or unpleasant emotional experiences“(ASA, Code of Ethics). Doch werden in modernen, neuen Experimenten diese Codes tatsächlich eingehalten und wenn ja, führt dies zu einem Verlust und einer zu großen Einschränkung der potentiellen wissenschaftlichen Erkenntnis?
Essay – Forschungsethik in der modernen experimentellen Sozialforschung
„Wir bezahlen 500 Männer aus New Haven, die uns bei der Erstellung einer wissenschaftlichen Untersuchung über Gedächtnisleistung und Lernvermögen helfen“ (Scheider 2004, S.163). So lautete die Ausschreibung für ein in Wirklichkeit sozialwissenschaftliches Experiment von Stanley Milgram 1961, das später zu einem der umstrittensten Experimente der Sozialwissenschaften werden sollte. Unter der Ankündigung, es ginge darum die Auswirkungen von Strafen auf den Lernerfolg zu messen, brachte Milgram die Probanden dazu, schmerzhafte Stromstöße auf vermeintliche Versuchsteilnehmer auszuüben. Tatsächlich aber handelte es sich um ein Experiment um herauszufinden, wie weit die Probanden bereit waren auch dann noch den Anweisungen des Versuchsleiters zu gehorchen, wenn ihr Gegenüber offensichtlich starke Schmerzen empfand. Was die Teilnehmer nicht wussten: Bei den anderen Versuchsteilnehmern handelte es sich um eingeweihte Schauspieler, die nicht wirklich Stromstöße bekamen, sondern diese lediglich simulierten. Obwohl Milgrams Experiment große Berühmtheit erlangt hat und Aufschluss über menschliches Verhalten gibt, ist es höchst umstritten und darf in dieser Form auch nicht mehr durchgeführt werden. „Die Aufregung um Milgrams Versuch hatte zur Folge, dass an allen Universitäten ethische Richtlinien über die Zulassung von Experimenten aufgestellt wurden“ (Schneider 2004, S.170).
Ethikkodizes sind in der heutigen Sozialforschung nicht mehr wegzudenken. Allein die American Sociological Association (ASA) hat mit ihrem ‚Code of Ethics‘ großen Einfluss auf die moderne experimentelle Forschung. Darin heißt es unter anderem: “Sociologists do not use deceptive techniques (1) unless their use will not be harmful to research participants” und weiter “Sociologists never deceive research participants about significant aspects of the research that would affect their willingness to participate, such as physical risks, discomfort, or unpleasant emotional experiences“(ASA, Code of Ethics).
Das Milgram-Experiment zum Gehorsam widerspricht diesem Kodex deutlich. Doch werden in modernen, neuen Experimenten diese Codes tatsächlich eingehalten und wenn ja, führt dies zu einem Verlust und einer zu großen Einschränkung der potentiellen wissenschaftlichen Erkenntnis?
Auch heute ist vor allem die Täuschung ein wichtiger Bestandteil der experimentellen Sozialforschung. Diktator- und Ultimatum-Spiele werden oft unter der Annahme gespielt, die eigene Entscheidung tangiere echte Gegenspieler, wo in Wahrheit gar keine sind. Auch nicht-reaktive Experimente setzen bewusst Täuschungen ein um so ein Umfeld zu schaffen, dass näher an der Realität ist und somit aussagekräftigere Daten liefert. Die Lost-Letter-Technique ist nur eins der Beispiele, das man hier nennen könnte. Auch falsch zugestellte Briefe mit monetärem Inhalt fallen unter Täuschung des Teilnehmers, der nicht weiß, dass ein Versuchsleiter überprüft, ob der Brief von ihm zurückgeschickt wird oder nicht. Täuschung ist unter Umständen unabdingbar, um unter natürlichen, unverfälschten Bedingungen menschliches Verhalten überprüfen zu können. Allerdings ist der Umgang mit Täuschung heute deutlich mehr an ethische Standards angepasst. Versuche können nicht mehr einfach unter Missachtung bestimmter Richtlinien durchgeführt werden oder unter Umständen, durch die der Proband (ohne sein ausdrückliches Einverständnis) psychisch oder physisch in Mitleidenschaft gezogen wird. Selbst wenn diese Standards nicht absolut verpflichtend sind, setzt sich der Forscher bei Nichtbeachtung ethischer Richtlinien enormen öffentlichem Druck aus und gefährdet seine Reputation innerhalb des wissenschaftlichen Feldes. Insofern hat der Paragraph der ASA durchaus seine Berechtigung, in dem es heißt: „Sociologists do not use deceptive techniques […] unless it is justified by the study’s prospective scientific, educational, or applied value“(ASA, Code of Ethics).
Ethische Standards sind notwendig – genauso wie Täuschung in sozialwissenschaftlichen Experimenten seit Jahrzehnten gebräuchlich ist. Es geht also letztlich darum, sinnvoll abzuwägen, was einem Probanden unter Berücksichtigung dieser festgelegten ethischen Codes zuzumuten ist um brauchbare wissenschaftliche Ergebnisse zu erzielen, ohne dass die Teilnehmer in irgendeiner Weise einen Schaden davontragen. Auch wenn Experimente wie das von Stanley Milgram in dieser Form nicht mehr durchführbar sind, gibt es Wege dennoch zu aussagekräftigen wissenschaftlichen Ergebnissen zu gelangen.
So wurde Stanleys Experiment im Jahre 2009 vom Sozialpsychologen Jerry M. Burger wiederholt – allerdings unter Berücksichtigung ethischer Standards:
„First, I used a two-step screening process for potential participants to exclude any individual who might have a negative reaction to the experience. Second, participants were told at least three times (twice in writing) that they could withdraw from the study at any time and still receive their $50 for participation […] Of course, the procedures also were approved by the Santa Clara University institutional review board”(Burger 2009, S.2).
Des Weiteren ließ Burger zwischen Beendigung des Experiments und der Aufklärung der Teilnehmer über die wahren Bedingungen des Experiments keine Zeit verstreichen. Der Versuchsleiter war zudem ein klinischer Psychologe, der angewiesen wurde, das Experiment sofort zu beenden, sollte er Zeichen von ausgeprägtem Stress des Probanden wahrnehmen. In seinem Experiment erzielte Burger nur wenig niedrigere Gehorsamkeits-Raten als Milgram in dessen Experiment unter unethischen Bedingungen von 1961.
Wie ich finde, zeigt dies deutlich, dass eine Einschränkung der Experimente durch Ethikkodizes eine Bereicherung und fortschrittliche Weiterentwicklung darstellt, die in der modernen experimentellen Sozialforschung auch weitgehend Beachtung findet. Täuschung ist dennoch ein wichtiger Bestandteil der Sozialforschung und sollte keinesfalls gänzlich verboten werden – solange diese eben stets begrenzt und unter ethischen Gesichtspunkten angewandt wird.
Literatur
American Sociological Association (ASA): Code of Ethics and Policies and Procedures of the ASA Committee on Professional Ethics; 1999 (Reprinted 2008)
Jerry M. Burger: Replicating Milgram. Would People Still Obey Today? January 2009; American Psychologist; Vol.64, No. 1, 1-11
Reto U. Schneider: Das Buch der verrückten Experimente; 1.Auflage 2004; C. Bertelsmann Verlag, München
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- Arbeit zitieren
- Judith Kronschnabl (Autor:in), 2014, Forschungsethik in der modernen experimentellen Sozialforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/281119
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