Die Entscheidungspraxis der Kommission in Kartellsachen verstößt – insbesondere im Hinblick auf das Bußgeldverfahren gemäß Art. 23 VO 1/2003 – gegen elementare Rechtsstaatsgarantien. Der nachfolgende Beitrag zeigt, inwieweit einzelne rechtsstaatliche Grundsätze zu Gunsten wettbewerbspolitischer Erwägungen bewusst aufgeweicht werden.
I. Einleitung
Kartellrechtliche Sachverhalte sind für den Rechtsanwender häufig deshalb interessant, weil sie Fragestellungen des Zivil,- Straf- und des öffentlichen Rechts, oftmals sogar kumulativ, beinhalten. So ist z.B. die Untersagungsverfügung der Kommission (Art. 7 VO 1/2003), die ein Verhalten für die Zukunft untersagt und für nichtig erklärt, ein klassischer Verwaltungsakt und damit dem (Kartell-) Verwaltungsrecht zuzuordnen. Hat die Kommission darüber hinaus ein Bußgeld verhängt (Art. 23 VO 1/2003), besitzt dies, zumindest auf den ersten Blick, einen eher strafrechtlichen bzw. strafrechtsähnlichen Charakter (str.). Nach mitgliedstaatlichen Regelungen (bspw. § 33 GWB) kann ein Dritter darüber hinaus vor den Zivilgerichten auf Unterlassung des kartellrechtswidrigen Verhaltens klagen oder Schadensersatz verlangen. Während die Zuordnung der erst- und letztgenannten Rechtsfolgen grundsätzlich geklärt ist, ist bis heute in Rechtsprechung und Literatur umstritten, welchen Charakter das Bußgeld im Kartellverfahren besitzt. Dies ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen, weil nach vorherrschender Ansicht[1] die Union keine Kompetenz zur umfassenden Rechtssetzung im Bereich des Kriminalstrafrechts (Strafrecht im engeren Sinne) besitzt. Zum anderen, weil für den Fall, dass die Geldbuße und damit die Bußgeldentscheidung einen straf- oder zumindest strafrechtsähnlichen Charakter aufweisen sollte, dem Kartellanten, anders als im Verwaltungsverfahren, neben den allgemeinen rechtsstaatlichen auch die besonderen strafprozessualen Verfahrensgarantien zur Seite stünden.
II. Rechtsnatur der Geldbuße
1. Auffassung des EuGH
Der EuGH hat sich zur Rechtsnatur der Geldbuße noch nicht explizit geäußert. Er lässt diese Entscheidung in der Rechtssache Lafarge ausdrücklich offen.[2] Dennoch gibt es Indizien, dass der EuGH die Geldbuße in erster Linie dem Verwaltungsrecht zuordnet. So bezeichnet er das Bußgeldverfahren in den Rechtssachen Internationales Chininkartell und Consten/Grundig explizit als Verwaltungsverfahren[3] und stellt in der Rechtssache Käserei Champignon klar, dass das Bußgeld der wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts und der Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Verwaltung diene.[4]
2. Auffassungen in der Literatur
In der Literatur wird ein weites Spektrum für die Einordnung der Geldbuße vertreten. Insbesondere die italienische und niederländische Literatur vertritt die Auffassung, dass es sich bei Geldbußen um Kriminalstrafen handelt.[5] In der französischen und belgischen Literatur hingegen werden die Sanktionen des Kartellrechts teils als „sanction administrative“, d.h. als bloße Verwaltungssanktion angesehen.[6] Die Sanktion werde von einer Verwaltungsbehörde zur Ahndung von Verstößen gegen Verwaltungsvorschriften durch Verwaltungsakt verhängt. Strafrechtliche und strafprozessuale Regeln wären daher, anders als bei Kriminalstrafen, nur eingeschränkt anwendbar.[7] Eine dritte Auffassung ordnet die Geldbußen des Kartellverfahrens als Sanktionen „sui generis“ ein.[8] Hiernach werden die existierenden Kategorien als ungeeignet für eine Zuordnung erachtet. Die Grundsätze des Straf- und Strafprozessrechts sollen nach dieser Auffassung insoweit angewendet werden als diese mit „dem Gemeinschaftsrecht in seiner ganzen Struktur und Ausrichtung konform sind“.[9] Eine vierte Ansicht ordnet die Geldbuße als strafähnliche bzw. strafrechtliche Sanktion im weiteren Sinne ein[10], die mit den Geldbußen des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts zu vergleichen sind.[11] Dieser Auffassung folgend sind dann auch die besonderen strafrechtlichen Verfahrensgarantien anwendbar, die nach allgemeiner Auffassung auch für strafähnlich wirkende, repressive Maßnahmen gelten.[12]
3. Stellungnahme
Die Auffassung, dass die Geldbuße im Kartellrecht einen rein verwaltungsrechtlichen Charakter besitze, d.h. die Unternehmen allein zu einem verwaltungskonformen Handeln anhalten soll, ist abzulehnen. Nach Aussage des EuGH wohnen der Geldbuße, neben dem Ziel der auf Restitution gerichteten Gewinnabschöpfung sowohl präventive als und repressive Zwecke inne.[13] Auch der EuGH stellt also den punitiven Charakter des Bußgeldes nicht in Abrede. Dabei gilt im Grundsatz, dass Maßnahmen mit rein restitutiver Wirkung, da sie nicht die für die Strafe typischen abschreckenden Folgen entfalten, richtigerweise nicht dem strafrechtlichen Bereich zuzuordnen sind.[14] Verfolgen sie dagegen – wie das Bußgeld im Kartellverfahren – sowohl repressive Zwecke (Ahndung von Zuwiderhandlungen) als auch präventive Zwecke (Abschreckung), so sind sie als Strafe einzuordnen.[15] Dies gilt umso mehr, wenn sich die Geldbuße in einer bestimmten Größenordnung bewegt[16] (Bildröhrenkartell (2012), Bußgeld insgesamt: 1,47 Milliarden Euro!).
Einer Kriminalstrafe hingegen kommt die Geldbuße nicht gleich. Zwar enthält diese ein Unrechtsurteil hinsichtlich des Wettbewerbsverstoßes, jedoch fehlt ihr nach herrschender Ansicht der Ausdruck der – einer Kriminalstrafe immanenten[17] – sittlich ethischen Missbilligung.[18] Letzteres resultiert aus Bedenken dagegen, dass der Kommission andernfalls als Verwaltungsbehörde zugleich die Verhängung von Kriminalstrafen überlassen wird.[19] Dahingehend ist auch Art. 23 V VO 1/2003 zu interpretieren, der klarstellt[20], dass Entscheidungen, die nach den Absätzen I und II getroffen werden, keinen strafrechtlichen Charakter aufweisen. Gemeint ist hier „kriminalstrafrechtlichen“ Charakter. Denn kompetenzrechtlich ist der Unionsgesetzgeber de lege lata grundsätzlich nicht zum Erlass von strafrechtlichen Normen ermächtigt. Die Union verfügt insofern über keine unmittelbare Strafgewalt.
Die Einordnung der Geldbuße als Maßnahme „sui generis“ bringt hingegen für die Abgrenzung und die Frage der Anwendbarkeit besonderer straf- und strafprozessualer Grundsätze keinen Mehrwert. Dass strafrechtliche Grundsätze nur insoweit zu übernehmen sind, wie dies mit der Struktur und der Ausrichtung des Unionsrechts konform ist, stellt keine Erkenntnis dar, die weiter hilft. Denn dies gilt ohnehin bei der Übertragung allgemeiner Rechtsgrundsätze in das Unionsrecht.[21] Die Schaffung einer „Maßnahme eigener Art“ löst das Problem letztlich insofern nicht auf, als dass wiederum die Nähe der Maßnahme zum Strafrecht für eine Anwendung der besonderen straf- und strafprozessualen Garantien hinterfragt werden müsste.
Es bleibt damit festzustellen, dass es sich bei den Kartellbußgeldern um Strafen mit (lediglich) strafrechtsähnlichem Charakter bzw. strafrechtliche Maßnahmen im weiteren Sinne handelt, bei denen den Kartellanten auch die besonderen straf- bzw. strafverfahrensrechtlichen Garantien zur Seite stehen[22].
[...]
* Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Europäisches Wirtschaftsrecht von Prof. Dr. Brömmelmeyer an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
[1] Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 328 m.w.N.
[2] EuGH, Slg. 2010, I-5361, Rdnr. 77 – Lafarge.
[3] EuGH, Slg. 1970, Rdnr. 24/27 ff. – Internationales Chininkartell; EuGH, Slg. 1966, S. 385 – Consten/Grundig.
[4] EuGH, Slg. 2002, I-6453, Rdnr. 35 ff. – Käserei Champignon.
[5] Capotorti, RDI 1963, 176 ff.; Legros, CDE 1980, 220 (225); Hermanns, in: Festschr. 50 Jahre FIW: 1960-2010, S. 193 (205 ff.); ebenso Schroth, wistra 1984, 164 (165); ders., Economic Offences in EEC Law with special reference to English and German Law, 1983, S. 87.
[6] Hierzu Heinemann, JURA 2003, 721 (727); Tiedemann, ZStW 116 (2004), 945 (947 f.) m.w.N.; wohl auch Frenz, EWS 2012, 359 (360).
[7] Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 332.
[8] Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (1983), S. 564, Rdnr. 938 f.; ders., in: Festschr. f. Jescheck, 1985, S. 1408.
[9] Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (1983), S. 564, Rdnr. 938 f.
[10] U.a. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 334; Wils, CDE, 1996, 329 (333); ders., The EU-Network of Cometition Authorities, the European Convention on Human Rights and the Charta of Fundamental Rights in the EU, RSC Working Paper, 2002, S. 18 ff.; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 7 Rdnr. 19; Eisele, JA 2000, 896 (897 f.); Schwarze, WuW 2009, 6 (8).
[11] U.a. Dannecker, ZStW, 111 (1999), 256 (257 f.); Schubert, Legal privilege und nemo tenetur im reformierten europäischen Kartellermittlungsverfahren der VO 1/2003, 2009, S. 91; Schwarze/Bechtold/Bosch, Defizite im Kartellrecht der EG, 2008, S. 24 f.; Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1982, S. 57; ders. NJW 1993, 23 (27 f.); Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1971, S. 84 f.; Zuleeg, JZ 1992, 761 (763).
[12] Tiedemann, ZStW 102, (1990), 102; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 334.
[13] EuGH, Slg. 1070, 66, Rdnr. 172/176 – ACF Chemiefarma/Kommission; EuGH, Slg. 1979, 769, Rdnr. 53 – Boehringer/Kommission.
[14] EuGH, Slg. 1987, 4587, Rdnr. 13 – Maizena/BALM; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 7, Rdnr. 9.
[15] Ausführlich hierzu Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 7, Rdnr. 9, mit Hinweis auf die im Schrifttum vorherrschende Vereinigungstheorie; Schwarze, EuZW 2003, 261 (265 ff.).
[16] So auch Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, 2004, § 7, Rdnr. 17 f., 37; Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, 2. Aufl. (2009), Art. 23, Rdnr. 5.
[17] Lorenzmeier, ZIS 2008, 20 (22) m.w.N.
[18] Siehe Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 337 m.w.N.
[19] Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 337 m.w.N.
[20] Engelsing/Schneider, in MünchKomm-EuWettbR, 2007, Band 1, Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 12.
[21] Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. (2012), Band 1. EU/Teil 2, Art. 23, Rdnr. 333 m.w.N.
[22] Hierzu eingehend die Dissertation von Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipen des Gemeinschaftsrechts, 2010.
- Arbeit zitieren
- André Morgenstern (Autor:in), 2014, Rechtsstaatsgarantien im europäischen Kartellrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278886
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