Keineswegs kann ich weiterleben. Denn solange ich lebe, würden die Leute höhnen, und niemand sähe die Wahrheit ein. Die Wahrheit aber ist, daß meine Frau mir treu war – ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, und ich besiegle es durch meinen Tod.
So beginnt Arthur Schnitzlers Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“: Der Ich-Erzähler erklärt seine Absicht, sich umzubringen, damit die Leute einsehen, dass seine Frau ihm treu war. Bereits diese Aussage ist in sich unlogisch: Warum sollten andere glauben, dass seine Frau ihm treu war, wenn er sich umbringt? Folglich wird gleich zu Beginn der Erzählung die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt, da die Frage nach dem wahren Grund für die Selbstmordabsicht aufgeworfen wird. In der folgenden Erzählung stellt sich heraus, dass die Frau des Ich-Erzählers zwei Wochen zuvor ein Kind mit schwarzer Hautfarbe geboren hat. In seinem Abschiedsbrief versucht Thameyer, dieses ungewöhnliche Ereignis auf natürliche Weise zu erklären. Da es sich bei Andreas Thameyer um einen intradiegetischen Erzähler handelt, also um einen Bewohner der erzählten Welt, ist er prädestiniert dafür, unzuverlässig zu erzählen und seine Glaubwürdigkeit ist von vornherein eingeschränkt. In diesem Essay soll anhand von drei Textauszügen gezeigt werden, dass es sich bei Andreas Thameyer um einen unzuverlässigen Erzähler handelt.
Essay II: Arthur Schnitzler: Andreas Thameyers letzter Brief
Diskutieren Sie die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers anhand einer Analyse von 3 Abschnitten des Textes.
Keineswegs kann ich weiterleben. Denn solange ich lebe, würden die Leute höhnen, und niemand sähe die Wahrheit ein. Die Wahrheit aber ist, daß meine Frau mir treu war – ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, und ich besiegle es durch meinen Tod.
So beginnt Arthur Schnitzlers Erzählung „Andreas Thameyers letzter Brief“: Der Ich-Erzähler erklärt seine Absicht, sich umzubringen, damit die Leute einsehen, dass seine Frau ihm treu war. Bereits diese Aussage ist in sich unlogisch: Warum sollten andere glauben, dass seine Frau ihm treu war, wenn er sich umbringt? Folglich wird gleich zu Beginn der Erzählung die Zuverlässigkeit des Erzählers in Frage gestellt, da die Frage nach dem wahren Grund für die Selbstmordabsicht aufgeworfen wird. In der folgenden Erzählung stellt sich heraus, dass die Frau des Ich-Erzählers zwei Wochen zuvor ein Kind mit schwarzer Hautfarbe geboren hat. In seinem Abschiedsbrief versucht Thameyer, dieses ungewöhnliche Ereignis auf natürliche Weise zu erklären. Da es sich bei Andreas Thameyer um einen intradiegetischen Erzähler handelt, also um einen Bewohner der erzählten Welt, ist er prädestiniert dafür, unzuverlässig zu erzählen und seine Glaubwürdigkeit ist von vornherein eingeschränkt.[1] In diesem Essay soll anhand von drei Textauszügen gezeigt werden, dass es sich bei Andreas Thameyer um einen unzuverlässigen Erzähler handelt.
Nach den oben zitierten Anfangssätzen, setzt Thameyer seinen Brief fort, indem er auf verschiedene Beispiele von ungewöhnlichen Geburten verweist. So führt er unter anderem das Beispiel der Königin Persina an, die ihrem schwarzen Ehemann ein weißes Kind geboren haben soll. Diese ungewöhnliche Tatsache wird damit erklärt, dass Persina ihre entzückten Blicke auf weiße Marmorstatuen richtete, während sie die Umarmungen ihres Ehemanns empfing.[2] Da Thameyer diese fragwürdigen Fälle als Beispiele anführt, um die Treue seiner Ehefrau zu beweisen, wirkt er von Anfang an wie ein naiver Ich-Erzähler.[3]
Nachdem Thameyer auf diese und ähnliche ungewöhnliche Geburten verwiesen hat, fährt er folgendermaßen in seinem Brief fort:
Wirst du mir verzeihen, liebe Gattin, daß ich nun sterben gehe? Siehe, du musst es tun. Es ist ja nur aus Liebe zu dir, daß ich sterbe, denn ich kann es nicht ertragen, daß die Leute höhnen, daß sie dich verlachen und mich! Nun werden sie wohl aufhören zu lachen, nun werden sie es verstehen, wie ich es verstehe. Ihr, die ihr mich, die ihr diesen Brief finden werdet, wisset, daß sie, während ich dieses schreibe, in dem Zimmer nebenan schläft, ruhig schläft, wie man nur mit einem guten Gewissen schlafen kann; und ihr Kind – unser Kind, das nun vierzehn Tage alt ist, liegt in der Wiege neben dem Bett und schläft gleichfalls. Und bevor ich das Haus verlasse, werde ich hingehen und werde meine Frau und mein Kind auf die Stirn küssen, ohne sie aufzuwecken. Ich schreibe das alles so genau, damit man nicht etwa meint, ich sei wahnsinnig…nein, es ist wohlüberlegt, und ich bin vollkommen ruhig.[4]
[...]
[1] vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München² 2005. S. 101.
[2] vgl. Arthur Schnitzler: Andreas Thameyers letzter Brief. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Frankfurt a.M. 1961. S. 515.
[3] vgl. Monika Fludernik: Unreliability vs. Discordance. In: Fabienne Liptay/Ivonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005. S. 60.
[4] Arthur Schnitzler: Andreas Thameyers letzter Brief. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1961. S. 515-6.
- Citation du texte
- Patricia Schneider (Auteur), 2011, Unzuverlässiges Erzählen in Schnitzlers "Andreas Thameyers letzter Brief", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278155