Stichpunktartige Zusammenfassung der Vorlesung "Einführung in die französische Kulturwissenschaft und Landeskunde" an der Uni Gießen im Wintersemester 2010/2011
Vorlesung 1: Allgemeine Begriffe der Kulturwissenschaft
Stereotypen: relative starre, konstante, überindividuelle Vorstellungsbilder
-Vereinfachungen, Verallgemeinerung
-Werturteile
- Autostereotype: Selbstbilder
- Heterostereotype: Fremdbilder
-Stereotype stabilisieren Außengrenze kultureller Identität durch Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern
-Stereotype stellen Orientierungswissen bereit, das komplexe Umwelt verständlich und überschaubar macht
-Pauschalisierung, die Individualität unterdrückt!
Stereotypenforschung: Ziel ist nicht Wahrheit von Stereotypen zu ergründen, sondern Funktion und Wirkung von Stereotypen, in Prozessen kollektiver Identitätsbildung.
Frankreichbilder (aus Deutschland, traditionell)
- Gelassenheit, liebenswert, lebenslustig, Freude am Genießen
Frankreich aus eigener Sicht
- Rettermythen wie Jeanne d’Arc (traditionell)
-Geburtsstunde Frankreichs als Grande Nation
- 1789: Selbstbefreiung des Volkes um der Welt Freiheit zu bringen
- Land des technischen Fortschritts (TGV)
- Heterogenität der frz. Gesellschaft
Was ist Kultur?
- kein einfaches Phänomen neben Staat, Religion, Politik (nicht nur Musik, Literatur, Kunst)
3 Dimensionen von Kultur
- Mentale Dimension = Mentalitäten
- Soziale Dimension = Gesellschaft und Institutionen
- Materielle Dimension = künstlerische Artefakte
-Dimensionen sind wechselseitig voneinander abhängig und dynamisch (wandelbar)
-Kultur wird vom Menschen produziert, ist deshalb veränderbar
-Kultur dient als Identifikation von Individuum mit einem Kollektiv
Was leistet Kulturwissenschaft?
- Wie verbinden sich Individuen zu einer Gemeinschaft?
- Was verbindet diese?
-Phänomene zur Kollektivbildung
- Zusammenhänge für „Wir-Gefühl“
- Kulturanalyse: Strukturen von Kultur freilegen, „dekonstruieren“ anhand indirekter Faktoren (z. B. Literatur)
Kulturelle Identität
- gemeinsame Regeln, Normen und Werte eines Kollektives
- gemeinsame Erinnerungen
Landeskunde
- Verbindung diverser Disziplinen
- untersucht Texte als konkrete Quellen für Aussage über Bindungen u. Entwicklung v. Texten u. Kulturen
- Hintergrundwissen und Kontextwissen über fremdes Land
-messbares, deklaratives Wissen (Faktenwissen)
Kulturwissenschaft
- Programme von Kulturen
- Funktion von Gegenständen innerhalb kultureller Denkweise (Texte…)
- keine neue Universalwissenschaft
- Vernetzung verschiedener Bereiche; unterschiedliche Diskurse, welche klar machen, dass Kultur stets multiperspektiv gebunden ist
-Erschließen von Unbeobachtbarem anhand von Beobachtbarem
Vorlesung 2: Deutsch-frz. Beziehungen
Französische Deutschlandbilder
- Deutsche als Barbaren à „Die Entdeckung des Boches“ (Dickschädel)
- Deutsche erdrückend, kriegerisch à Soldat erdrückt Marianne, Marianne entreißt Germania Maske, hinter der sich hässlicher, deutscher Soldat verbirgt
Deutsche Frankreichbilder
- Frankreich habgierig: nach 1. WK Frankreich will Deutschland Ruhrgebiet entreißen
- nach 2. WK erste zaghafte Annäherung
- 1950er allmähliche Aussöhnung
- ab 1963 „Hochzeit“ à Partnerschaft beider Länder
Geschichte dt.-frz. Beziehungen
1. Vorgeschichte
- gemeinsamer Ursprung: Reich Karl des Großen
- 843 Teilung in 3 Reiche: Frankreich, Lothringen und Germania
-bis dato: keinerlei Nationen, FR zentralistisch; DE föderativ
-Dynastien verschiedener Herrschaftsgebiete
- ab 16./17. Jahrhundert erste Nationalbestrebungen
- Frankreich umzingelt von Habsburgern
-Konfliktpotenzial, aber überdeckt von Vormachtstellung frz. Kultur
- Rhein erst im 17. Jh. Grenzfluss wegen Eroberung Louis XIV.
-Herauskristallisieren von Rivalitätsbeziehung
2. Befreiungskriege Napoleons: Entstehung Erbfeindschaft
- Bild des Erbfeindes: hält 150 Jahre an, kombiniert mit 4 Kriegen
- 1806: Zerschlagung dt. Fürstentümer durch Napoleon
- von dt. Seite: Franzosen als Feine deklassiert, Deutsche überlegen, kriegsbereit
-Entwicklung von Nationalcharakteren
-Gegensatz DE/FR: Deutschland männlich, stark; FR weiblich, schwach
3. Deutsch-frz. Krieg
- Einigungsprozess Deutschlands à Frankreich fürchtet deutsche Konkurrenz
- Niederlage Frankreichs: radikale Veränderung der Beziehungen
- Krönung Wilhelms I. in Versailles
-Demütigung Frankreichs, Bismarck Ikone der Reichsgründung
- Angst Frankreichs vor Übermacht Deutschlands, Revanchegedanken
- Elsass bis 1918 an Deutschland, Elsass 1940 durch Nazis erneut annektiert, ab 1945 wieder frz.
4. Zwei Weltkriege: Die Deutschen werden zu Barbaren
- rassische Stereotypen: Deutsche als Barbaren
- Kaiser ist Tyrann, „Défendre la civilisation (la France) contre la barbarie“
- Feindbilder zur Legitimation von Krieg
-Erbfeindschaft als folgenreiches Konstrukt
- später: Kollaboration Frankreichs mit Nazideutschland als Trauma
5. Gegenwärtige Entwicklung der Beziehungen
- 3 Phasen: Annäherung, Aussöhnung, Partnerschaft
- Institutionalisierung der Partnerschaft
-Überwindung alter Rivalität
- dt.-frz. Vertrag
-Austausch beider Länder; gegenseitiges Kennenlernen
- polit. Interesse: Position Deutschlands/Frankreichs stärken als Gegengewicht zu USA/GB
- bis heute: DE männlich, FR weiblich dargestellt
- nach Wiedervereinigung 1989: Frankreich fürchtet Wiedererstarken Deutschlands
-Übermacht Deutschlands
-Bevölkerung jedoch positiv gestimmt
- bis heute wichtigste Handelspartner; enge, wechselseitige Interdependenz
Vorlesung 3: Die Entstehung Frankreichs
Das hexagone Frankreich: Grundfragen und räumliche Strukturen
1. Wie ist heutiges Frankreich entstanden?
- früher: natürlich Grenzen, die FR begrenzen
-so musste FR entstehen
- FR: Rhein ist Grenze, DE: Vogesen sind Grenze à ideologische Aufladung
a) Überblick geograf. Raum
- keine Nation so früh geografisch herausgebildet (bereits 1604)
-starke mentale Identifikation mit Einheit Frankreichs
-geschlossene, nationale Einheit
-jedoch: Zentralmassiv bildet keine Einheit
- Lucien Febvre: Grenzen nicht natürlich, sondern durch historische Entwicklung bedingt; Nation definiert sich durch „gemeinsame Gewohnheiten“
-Nation als Grundlage des frz. Selbstverständnisses, jeder, der sich zu gemeinsame Werten bekennt ist Franzose
-jedoch: natürliche Grenzen als Herrschaftslegitimation
b) Durchgangsräume
2 Achsen (Nord-Süd/Ost-West) mit Schnittpunkt Paris
-gehen auf Völkerwanderungszeit zurück
- bis heute: Norden besser erschlossen, wirtschaftlich bedeutender als Süden
-Konzentration aller Macht in Paris, Übermacht
2. Phasen der Herausbildung des Staatsgebietes
a) 843: Nach der Reichsteilung (Vertrag von Verdun)
-ab dann: getrennte Weger beider Staaten
- westfränk. Reich: Vulgärlatein à später Frz.
- ostfränk. Reich: Deutsch als Volkssprache
- bis 1000 Zusammenschrumpfen des königl. Einflusses, Herausbildung einzelner Fürstentümer
-danach: Karpetinger erobern einzelne Gebiete
b) Hundertjähriger Krieg mit England
- Zäsur
- Jeanne d’Arc beendet Krieg 1429 in Orléans à England verzichtet auf Thronanspruch
c) Frz. Provinzen im 17./18. Jh.
- Eroberung verschiedener Provinzen, die aus langer Feudalherrschaft entstanden sind
- Raum Frankreichs bis heute
- Einfluss d. Absolutismus: Beamte des Königs in jeder Provinz
-Nationalstaatliches Denken, Vorläufer des Nationalstaats
d) Frz. Revolution 1789
- heutige Verwaltungsgliederung in 95 Departements
- Republik: FR weiterhin als Nationalstaat
-Einteilung nach „égalité-Prinzip“; jede Provinz in etwa gleich groß; gleiche Lebensbedingungen der Bevölkerung
- 1 Tagesritt muss Präfektur (Hauptstadt des Departements) erreicht werden
- Lyon/Paris kleiner, um Einfluss zu limitieren
-Verwaltungsstruktur bis heute evident
- dann: Jakobiner verstärken Pariser Einfluss durch Präfekte
-Etappenweise Formierung des Raumes FR
-uneinheitlicher historischer Prozess, jedoch Vereinheitlichung sehr schnell
- dennoch: Paris als Zentralmacht erhalten
Vorlesung 4: Die Revolution von 1789 als Ereignis und Erinnerungsort.
1. Die Revolution und die Grundlagen des französischen Nationalbewusstseins - Grundstrukturen und Probleme
- Umbruch als Tragweite: wichigstes Ereignis der Moderne
- Revolution als «lieu de mémoire»
- Selbstverständnis frz. Geschichte ist Revolution à 1. Republik
- Kontinuitätsbewusstsein Frankreichs im Blick auf eigene Geschichte à siehe 5. Republik
- Symbole der Republik: Ursprung in frz. Revolution
- Nationalbewusstsein = Nation
-Revolution = Republik = Nation
-frz. Revolution = Anfang des modernen Frankreich
-Frankreich entwickelt Missionsverständnis; Fortschritt/Modernität nach Europa/in die Welt
3 Probleme der Konstruktion
- Vorgeschichte FR
- Besatzungszeit Frankreichs
- Erinnerungskonkurrenz als mögliche Geburtsstunde Frankreichs
1. Taufe Chlodwigs (Christianisierung)
2. 987 Wechsel der Dynastien
3. 1429 Ende des 100jährigen Kriegs durch Jeanne d’Arc
- folglich: Revolution als Einheit; 1789 am engsten mit Revolution verbunden
2. Zentrale Ereignisse und symbolische Inszenierungen des Neuen: Vier zeitgenössische Gemälde
Ausgangslage 1789:
- Feudalgesellschaft
-95 % der Bevölkerung 3. Stand
-Boden mit Abgaben belastet
-Adel (Beamte)/Klerus privilegiert; keine Abgaben
-Absolutismus: König als absolute Autorität; kein Gegengewicht
1789 alte Ordnung in Krise
1, Schwächung des Steuersystems à Ungerechtigkeitsgefühl
2. Soziale Krise à Hunger = Kritik an Gesellschaft, Auklärung
3. Finanzkrise à Überschuldung der Kröne (siehe amerik. Unabhängigkeitskrieg)
Revolution beginnt:
- Einberufung der Generalstände
-1./2. Stand fürchten um Privilegien
- Streit um Abstimmungsmodus führt zur Räumung des Sitzungssaals durch König
- Ausweichen der Abgeordneten des 3. Standes in Ballsporthalle (Ballhaus)
-Erklärung zur Nationalversammlung als Vertretung der Nation
-Ziel: Verfassung für Frankreich
-siehe: zeitgenössisches Gemälde zum Ballhausschwur
Sturm auf die Bastille am 14.07.1789
- Bruch mit alter Ordnung
- keine militärische Organisation, sondern spontaner Volksaufstand
Erklärung der Menschenrechte (Bild)
- Anlehung an religiöse Gesetzestafeln
-Licht der Aufklärung/Gottes Auge
-Trikolore = Farben der drei Stände, Kettenbruch: Bruch mit alter, unvernünftiger Ordnung
-Marianne als Frau löst König als Vater der Nation ab
- neue Ordnung ist gottgewollt, naturgegeben und vernünftig
- sakrale Dimension der neuen Ordnung als Legitimation
- Erklärung bis heute in Verfassung erhalten
- Bruch = Zäsur, Neuanfang
- Symbole: Traditionslinie (Marianne, Trikolore, Marseillaise)
[...]
- Quote paper
- Tobias Molsberger (Author), 2010, Einführung in die französische Kulturwissenschaft und Landeskunde, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278103
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