Heutzutage siedeln wir phantastische Wesen und unheimliche Kreaturen - sei
es in schriftlicher oder bildlicher Form - auf anderen Planeten in fernen Galaxien an.
Im mittelalterlichen Abendland dagegen gab es noch reichlich unentdecktes Land auf
dem eigenen Planeten, so dass man ‘Unerhörtes’ dort ansiedeln konnte. Im
ethnozentristisch-religiösen Weltbild, in dem die bekannten Erdteile zentral um
Jerusalem angeordnet lagen, befand sich der ferne Osten am geheimnisvollen Rand
dieser Welt. Neben politischer und religiöser Motivation gab ebenso die curiositas1,
die Reiselust, Anlass zum Aufbruch in den Orient, zur Entdeckung der Wunder
Gottes.2 Die Reiseberichte dieser Zeit befinden sich fast durchgängig im
Spannungsfeld zwischen Realität und Mythos.3 Das mag einerseits in der damaligen
Denkweise, einer Mischform aus wissenschaftlichem und mythisch-religiösem
Denken begründet liegen. Für uns und unsere wissenschaftlich orientierte Sichtweise
(als wahr gelten die Aussagen, die verifizierbar sind) ist sie nicht mehr
nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite erwarteten die damaligen Zeitgenossen
nicht nur die reine Information über Unbekanntes, sondern gerade der
Unterhaltungswert der Erfahrungsberichte machte ihre Beliebtheit aus.4
Kommerzielle Interessen, das Renommierbedürfnis der Autoren und nicht zuletzt die
Schwierigkeit, für Unbeschreibliches Worte zu finden, formten den Stil des
Reiseberichtes und trugen ihm zudem den Ruf der Lügengeschichte ein.5 [...] 1 Der Begriff ‘curiositas’ war im Mittelalter verbreitet und hatte in verschiedenen Beziehungen vielerlei Bedeutungen; er konnte sowohl Sorgfalt und Mühe als auch Wissbegierde und Neugierde bezeichnen. 2 Karl Zaenker, Wirklichkeit und Fiktion in der spätmittelalterlichen Reiseliteratur, in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus Herbers, Tübingen 1988, S.125 (weiterhin zitiert: Zaenker-Reiseliteratur) 3 Peter Wunderli (Hg.), Reisen in reale und mythische Ferne. Reiseliteratur in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1993, S.1/2 4 Zaenker-Reiseliteratur, S.123/124 5 Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989, S.14 (weiterhin zitiert: Brenner-Reisebericht)
Gliederung
1. Einleitung - Der Reisebericht als mentalitätsgeschichtliche Quelle
2. Drei Vorbemerkungen
2.1. China und Europa im Mittelalter
2.2. Philosophische Anthropologie
2.3. Das christliche Weltbild im Mittelalter
3. Odorichs Beschreibungen des Fremden
3.1. Der distanzierte Blick
3.2. Die Gegenüberstellung
3.3. Das Fremde als Bereicherung
3.4. Unverständnis und Ablehnung
3.5. Anerkennung?
4. Schluss
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung – Der Reisebericht als mentalitätsgeschichtliche Quelle
Heutzutage siedeln wir phantastische Wesen und unheimliche Kreaturen - sei es in schriftlicher oder bildlicher Form - auf anderen Planeten in fernen Galaxien an. Im mittelalterlichen Abendland dagegen gab es noch reichlich unentdecktes Land auf dem eigenen Planeten, so dass man ‘Unerhörtes’ dort ansiedeln konnte. Im ethnozentristisch-religiösen Weltbild, in dem die bekannten Erdteile zentral um Jerusalem angeordnet lagen, befand sich der ferne Osten am geheimnisvollen Rand dieser Welt. Neben politischer und religiöser Motivation gab ebenso die curiositas[1], die Reiselust, Anlass zum Aufbruch in den Orient, zur Entdeckung der Wunder Gottes.[2]
Die Reiseberichte dieser Zeit befinden sich fast durchgängig im Spannungsfeld zwischen Realität und Mythos.[3] Das mag einerseits in der damaligen Denkweise, einer Mischform aus wissenschaftlichem und mythisch-religiösem Denken begründet liegen. Für uns und unsere wissenschaftlich orientierte Sichtweise (als wahr gelten die Aussagen, die verifizierbar sind) ist sie nicht mehr nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite erwarteten die damaligen Zeitgenossen nicht nur die reine Information über Unbekanntes, sondern gerade der Unterhaltungswert der Erfahrungsberichte machte ihre Beliebtheit aus.[4]
Kommerzielle Interessen, das Renommierbedürfnis der Autoren und nicht zuletzt die Schwierigkeit, für Unbeschreibliches Worte zu finden, formten den Stil des Reiseberichtes und trugen ihm zudem den Ruf der Lügengeschichte ein.[5]
Bei der historischen Auswertung können Reiseberichte deswegen nicht als authentische Beschreibungen einer fremden Kultur gelesen werden, da sie zu sehr durch subjektive Übertreibungen, Hinzudichtungen und Fehlinterpretationen oder nur durch umständliche Ausdruckswege verzerrt sind. Doch liegt in dieser Verzerrtheit ein anderes Zeugnis: das der Denkweise und Mentalität des Verfassers. Michael Harbsmeier bezeichnet den Reisebericht - gegen den Strich gelesen - als unfreiwillige kulturelle Selbstdarstellung im Spiegel der anderen Kultur.[6]
Die Erfahrung fremder Wirklichkeit konnte nur in den gewohnten, kulturell determinierten Denkmustern verarbeitet werden. Die Aufnahme neuer Eindrücke unterlag zeit- und kulturspezifischen, aber auch individuellen Voraussetzungen.[7] Nochmals reflektiert floss in die Beschreibung des Fremden das Raster ein, mit dem die Erfahrungen gemacht worden sind und später erinnert wurden. Eine Analyse des Berichtes lässt diese Wahrnehmungsmuster erkennen.[8] Abgesehen davon haben die Reiseberichte von Marco Polo & Co auch noch für den Leser von heute großen Unterhaltungswert.
2. Drei Vorbemerkungen
2.1. China und Europa im Mittelalter
Seit dem 13. Jahrhundert war China Teil des riesigen Mongolenreiches, das sich damals vom fernen Osten bis nach Russland erstreckte.
Nach der Eroberung hatten sich die Herrscher tolerant verhalten; zwar besetzten sie leitende Positionen im Staatswesen, ließen jedoch Chinas technologisch und zivilisatorisch hochentwickelte Kultur weiterbestehen. Kublai Khan, Großkhan und ein Enkel des Eroberers Dschingis Khan verlegte sogar die Kaiserresidenz nach Peking (lat. Cambaluc[9]). Religionen, wie der Buddhismus, Taoismus und Lamaismus wurden nicht verboten, genausowenig die vorderasiatischen Weltreligionen. Geistliche lebten sogar steuerfrei, und so strömten mit der Fremdherrschaft auch Christen, Muslime und Juden ins Land, die viele ethnische und religiöse Minderheiten innerhalb der chinesischen Kultur bildeten. Diese war relativ selbstgenügsam. Es sind - neben wenigen astronomisch-mathematischen Traktaten - keine Übersetzungen europäischer Schriften ins Chinesische bekannt. Auch weiß man von keinem ‘chinesischen Marco Polo’; bei allem wirtschaftlichen Reichtum schien Europa auch auf geistiger Ebene nicht von großem Interesse zu sein. Europäer wurden undifferenziert Fu-lang (Franke) genannt. Im 14. Jahrhundert erreichten Handel und europäische Missionsanstrengungen in China ihren Höhepunkt.[10] Indien stand zu dieser Zeit unter islamischer Herrschaft, die zentralasiatische Turkvölker aus dem Umland errungen hatten. Das Sultanat von Delhi leistete militärischen Widerstand, als Mongolen im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts im Nordwesten des Landes einfielen. Der Süden konnte somit von den alten Eroberern vor den neuen Eroberern verteidigt werden.[11]
[...]
[1] Der Begriff ‘curiositas’ war im Mittelalter verbreitet und hatte in verschiedenen Beziehungen vielerlei Bedeutungen; er konnte sowohl Sorgfalt und Mühe als auch Wissbegierde und Neugierde bezeichnen.
[2] Karl Zaenker, Wirklichkeit und Fiktion in der spätmittelalterlichen Reiseliteratur, in: Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, hg. von Klaus Herbers, Tübingen 1988, S.125 (weiterhin zitiert: Zaenker-Reiseliteratur)
[3] Peter Wunderli (Hg.), Reisen in reale und mythische Ferne. Reiseliteratur in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1993, S.1/2
[4] Zaenker-Reiseliteratur, S.123/124
[5] Peter J. Brenner, Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989, S.14 (weiterhin zitiert: Brenner-Reisebericht)
[6] Michael Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätgeschichtliche Quellen, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, hg. von A. Maczak und H.J. Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S.2
[7] Hierbei kann man von einer anthropologischen Konstante sprechen, denn wir sind heute natürlich keineswegs frei von dieser Art Voreingenommenheit.
[8] Einen aufschlussreichen Beitrag leistete Arnold Esch, der die Bedeutung des Vergleichs in spätmittelalterlichen Reiseberichten herausgearbeitet hat. Da Begriffe noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren musste Fremdes sehr häufig durch den Vergleich mit Vertrautem erklärt werden. Wir erfahren daraus beispielsweise welche Konventionen den Autor mit seiner Leserschaft verbanden. (Arnold Esch, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253, 1991, S.281-312)
[9] Abgeleitet vom türkischen Chan-Balyq (Herrscherstadt), die Mongolen nannten es Ta-tu, Odorich sagt Cambalec und übersetzt ‘Himmelsstadt’, siehe auch: Paul Pelliot, Notes on Marco Polo I, Paris 1959, S.140-43
[10] Fischer Weltgeschichte. Das chinesische Kaiserreich, hg. und verfasst von Herbert Franke und Rolf Trauzettel, Band 19, Neuaufl., Frankfurt a.M. 1992
[11] Fischer Weltgeschichte, Indien. Geschichte des Subkontinents von der Induskultur bis zum Beginn der englischen Herrschaft, hg. und verfasst von Ainslie T. Embree und Friedrich Wilhelm, Band 17, Neuaufl., Frankfurt a.M. 1992
- Citation du texte
- Verena Lehmbrock (Auteur), 2001, Reisen im Mittelalter. Die Wahrnehmung des Fremden in den 'unerhörten' Erlebnissen des Franziskanermönches Odorich auf seiner Reise nach China und Indien (14. Jh.), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27793
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