Robert Gernhardts "Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer, / Das Hässliche erfreut durch Dauer." wird als Anlass genommen, die Unvereinbarkeit bewusster Schönheit und ausgeprägten Intellekts aufzuzeigen, da der Mensch sich nach Sartre durch den selbst gewählten Zweck definiert und die menschliche Energie stets begrenzt ist. Hierzu wird der Begriff der Schönheit aus einer neuen philosophischen Perspektive definiert, indem insbesondere auf soziologische Einflüsse Bezug genommen wird. Auch die Zeit wird hier im Kontext mit Vergänglichkeit betrachtet. Anthropologische Ansätze werden insofern verfolgt, als dass der Mensch als Inbegriff des Geistigen betrachtet wird, woraus auch die latente Selbstglorifikation des Autors im Erbe Nietzsches resultiert.
Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer, Das Hässliche erfreut durch Dauer.
Robert Gernhardt verfasste - oftmals entsprechend seiner Lebenssituation - sowohl komische als auch sentimental-schmerzhafte Gedichte. Das Gedicht „Nachdem er durch Metzingen gegangen war“, das mit dem obigen Zitat endet, erfährt allgemein eine Rezeption als Teil Gernhardts komischer Lyrik. Für mich ist diese offensichtliche Kritik der Schönheit, die im Kontext mit der Zeit mit Vergänglichkeit assoziiert wird, jedoch insbesondere bei Loslösung vom Titel vielmehr eine tiefsinnige Kritik des menschlichen Wesens und seiner Gesellschaft. Das durch seine Prägnanz bestechende Zitat deutet ein überaus tiefsinniges Verständnis des Menschen und seiner Umwelt an und kann sicherlich auch allein als Aphorismus unabhängig vom Gedicht stehen - so wie es in diesem Wettbewerb der Fall ist. Ich möchte mich nunmehr interrogativ zweifelnd, vielleicht lakonisch und latent zynisch[1], der Frage nach der Schönheit und auch ihrem Verhältnis zur Zeit widmen, auf die sich wohl keine zufriedenstellende, geschweige denn „richtige“ Antwort finden lässt.
Schönheit bedarf menschlichen Bewusstseins. Ein akzidentell „schöner“ Mensch ist nicht schön, nur weil er äußerlich der aktuellen gesellschaftlichen Definition von Schönheit entspricht. Dieser Mensch hat es nicht verdient, schändlich als „schön“ bezeichnet zu werden. Doch da es Menschen gibt, denen Schönheit (leider) etwas bedeutet, die nach ihr bewusst streben, stellt sich unvermeidlich eine zentrale Frage, an die sich etliche anschließen:
Was ist denn schön? Wer maßt sich denn schon an, mir zu sagen, was schön ist? Ist Schönheit nicht eigentlich nur Oberflächlichkeit? Ist Schönheit nicht nur ein abstraktes Ideal, ein beunruhigender Ausfluss einer Gesellschaft, eines Kollektivs, das den „sechsten Sinn“ für das wahrhaft Schöne, also das Sinnliche, das alltägliche Grenzen Überschreitende verloren hat? Bringt mich der Begriff der Schönheit nicht dazu, selbstständiges und selbstkritisches Denken hinter mir zu lassen und mich ganz und gar den größten Übeln, den Individualismus verpönenden Wahnvorstellungen hinzugeben?
Man nehme an, man sage, ich sei schön. Bedeutet dies zugleich dann auch, dass ich schön bin ? Stelle ich mir diese Frage, weil es mir wirklich wichtig ist, ob ich schön bin oder nicht oder vielmehr weil ich schön sein will, dann zeigt mir dies auf, wie sehr ich mich von meiner Umwelt doch erniedrigen lassen habe. Andere Menschen lasse ich mich bewerten, obschon Schönheit doch nur eine Anmaßung ist. Wer erhebt sich denn, über mich, mich reines, hehres, geistiges Wesen zu urteilen? Stelle ich mir diese Frage, weil ich mir bewusst bin, welchen Unwert Schönheit doch bedeutet, dann bin ich wirklich ich. Dann zeige ich mich als das Wesen, das durch herausragende menschliche Stärke, also geistige Stärke der Herr seines Selbst ist. Wer Herr über mich ist, ist freilich Herr über die Menschheit. So bin ich. Doch die Menschheit weiß noch nichts davon, sie ist zu sehr von oberflächlichen und geistig wertlosen Idealen geblendet, als dass sie meine Exzellenz, meine wahre Schönheit zu erkennen oder gar zu begreifen vermag.
Meine Geisteskraft ist nicht nur unbegrenzt, nein, sie ist zugleich auch beständig. Bedeutet Schönheit dagegen nicht Vergänglichkeit? Nicht nur, dass alles Schöne meist recht nur kurz besteht, vielleicht mag ihre (vermeintliche) Schönheit und Kostbarkeit gerade eben in ihrer Kurzweiligkeit liegen - gesellschaftliche Ansichten ändern sich noch viel schneller.
Wer hat denn schon den Mut, etwas Hässliches zu mögen, zu lieben, zu vergöttern? Wer wagt es denn schon, durch Abweichung von allseits Be- und Anerkanntem, Normativem abzuweichen und vielleicht etwas tiefer zu schauen? Gar das Oberflächliche, Körperliche gänzlich zu missachten? Aus purer „Ignoranz“ sich der Gesellschaft durch Abweichung von sozialen Regelmäßigkeiten, angeblich von an Werten orientierten Normen geleitet, bewusst zu distanzieren? Ist dieser Rebell, wird dieser Rebell dadurch denn nicht selbst hässlich? Nun dann will ich hässlich sein, muss ich hässlich sein, um ich selbst sein zu können. Ich glaube nicht an Moral, nicht an Gleichheit, die doch die Freiheit zu sehr beschränken, ja geradezu vernichten. Die Maxime menschlichen Handelns und - noch wichtiger - Denkens muss das Eintauchen in die Geisteswelt aus reinem, herrlichem Egoismus, also die Distanzierung von Verfall, von der Gesellschaft sein. Ein so handelnder und denkender Mensch ist ein wahrhafter, wertvoller Mensch. Denn der Mensch definiert sich über den Zweck, den er sich selbst gibt[2]. Ein nach Schönheit strebender Mensch wird somit zum bloßen Betrachtungsgegenstand ohne geistiges Profil. Dieses Streben, das niemals auch nur eine Annäherung an Schönheit sein kann, bedeutet somit Entwertung, Entfremdung, Entmenschlichung.
Dem Hässlichen ist als Begrifflichkeit keine besondere Bedeutung beizumessen. Es ist nicht mehr als eine Negation der Schönheit - sie muss nicht einmal ihr Gegensatz sein - und somit eine Bedingung für das wahrhaft Kostbare, Wertvolle, Geistige, Menschliche. Nur der hässliche Mensch kann ein Mensch sein. Wäre er schön, hätte er keine geistige Tiefe mehr, wäre er kein Mensch mehr. Doch freilich kann er zugleich schön - also oberflächlich - und geistlos sein. Und nun soll das Schöne „Grund zur Trauer“ sein und das Hässliche „durch Dauer“ erfreuen?
Da alles Körperliche vergänglich ist, muss auch Schönheit vergänglich sein. Bei Gernhardt wird in den vorherigen Versen des Gedichts und in der Antithese des letzten Verses zu den vorherigen in Bezug auf die Zeit deutlich, dass die Vergänglichkeit der Schönheit der Grund zur Trauer sein soll. Aber worum sollte man denn trauern? Wenn Schönheit doch so etwas klar Negatives ist, dann muss die Erwartung ihres Scheidens doch von Erleichterung und Freude gekennzeichnet sein. Als boshaftes, widerwärtiges Instrument der Gesellschaft bedroht das Ideal der Schönheit das menschliche Geistige (welche Redundanz - ist das Menschliche doch nichts anderes als das Geistige) und somit die Menschheit in ihrer Ganzheit. Die Menschheit wächst quantitativ, erlebt durch die Gesellschaft jedoch qualitative Minderungen, sodass die wahrhafte Menschheit erschreckend klein ist.
Nach Gernhardt erinnert Schönheit durch ihre Vergänglichkeit an Zeit. Nicht die Vergänglichkeit der Schönheit ist der Grund zur Trauer, sondern die Zeit. Zwar ist das Geistig-Menschliche beständig, jedoch nur innerhalb eines menschlichen Lebens, denn es ist stets personal, „gehört“ nur Einem. Das Geistige des Menschen, also der Mensch, stirbt, wenn der Körper stirbt, auch wenn eigentlich nur der Geist der Mensch ist und nicht der Körper, da der Körper ein notwendiges Instrument zur Lebenserhaltung ist, welches sich jedoch bedauerlicherweise durch Be- und Einschränkung sowie Endlichkeit kennzeichnet. Die Erinnerung an das Fortschreiten der Zeit führt dem Denkenden nochmal vor Augen, dass der Status Quo - das sich erneuernde und immer wahnsinniger, wahnwitziger und anmaßendere Schönheitsideal - sich auch durch die Zukunft ziehen wird oder gar noch schlimmere Zeiten auf den Intellektuellen, auf den wahrhaften Menschen, auf mich warten. Das personale Geistige wird nicht in der Lage sein, entsprechend seiner Anlagen noch geistiger, noch tiefsinniger zu werden, weil es von dem be- und einschränkenden Band der krampfhaft und unstetig an diesem ziehenden Gesellschaft aufgehalten wird.
Doch erfreut denn das Hässliche durch Dauer?
Ebenso wie man nur um das Verschwinden etwas Guten trauert oder trauern sollte, so erfreut man sich an dem Fortbestand an etwas ebenso Gutem. Daher müsste das Hässliche also das Gute sein. Hässlichkeit kann jedoch ohne geistige Tiefe existieren, denn als Negation der Schönheit unterliegt sie ebenso dem hastigen, permanenten und gänzlich irrationalen Wandel gesellschaftlicher Ansichten. Etwas vor sehr Kurzem Schönes mag nun hässlich sein; dies bedeutet freilich nicht, dass sich so das personale Geistige weiterentwickelt hat bzw. überhaupt erst merklich entstanden ist. Das Hässliche als solches zu erkennen, zeigt die Oberflächlichkeit und Blindheit des Heute auf.
Nichtsdestominder ist Hässlichkeit ein Indiz für Kostbarkeit, für Menschlichkeit, für Verbundenheit und Ähnlichkeit mit meiner Person. Das Hässliche erfreut vor allem dann, wenn es lange auf die gleiche Art und Weise und aus den gleichen Gründen hässlich bleibt. Dann ist es unabhängig vom gesellschaftlichen Wandel, hat sein Streben nach Schönheit aufgegeben und vielleicht sogar ihren Unwert erkannt. Mich erfreut die Hässlichkeit demnach nicht durch Dauer, mich erfreut vielmehr das Hässliche der Dauer, also das beständig Hässliche.
Insgesamt bedeutet Schönheit also Entfremdung des menschlichen Wesens als Inbegriff der Hässlichkeit unter der Annahme des Menschen als Leids-, also Gesellschaftswesen, das jeglicher Sozialität entbehrt und sich immer mehr von egoistisch-geistigen Strebungen entfernt. Der Irrglaube an eine mögliche Koexistenz von geistiger Tiefe und dem Streben nach gesellschaftlich definierter Schönheit ist Ausdruck intellektuellen Verfalls, also Entwertung und Entmenschlichung. Die Zeit bedeutet sowohl für Schönheit als auch für Hässlichkeit im Sinne sozialer Unabhängigkeit und menschlicher Reinheit eine Beschränkung, die das vergängliche Oberflächliche, also das Schöne, allerdings stärker angreift als das Geistige, das seine zeitliche Begrenzung in seiner Personalität begründet findet. Somit dient auch die Zeit als Orientierung in der kontemporären geistig-körperlichen Verworrenheit.
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[1] auch als Selbstglorifikation im Erbe Nietzsches
[2] vgl. Jean-Paul Sartre
- Citar trabajo
- Julian Schönauer (Autor), 2014, Zur Schönheit als geistig-intellektueller Verfall und Entmenschlichung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276219