Die vorliegende Hausarbeit hat die Psychologisierung in Jean Anouilhs und Sophokles` „Antigone“ zum Gegenstand. Neben dem Vergleich der beiden Theaterstücke, soll die Besonderheit der Psychologisierung hervorgehoben und anhand ausgewählter Textstellen betrachtet werden. In diesem Zusammenhang wird zunächst ein Exkurs über Begriff und Thematik des Subjekts erfolgen. Um die eigene, literaturpsychologische Argumentation im textanalytischen Teil zu erhärten, bezieht sich die Verfasserin unter anderem auf Modelle bedeutender Psychologen des 20. Jahrhunderts, stets mit dem Ziel die Geschichte der Antigone aus einer für unsere Gegenwart relevanten Perspektive zu beleuchten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Charakterisierung der Studie
1.2 Von der Unentdecktheit des Subjekts
1.3 Das Subjekt als Objekt der Psychologie
2 Antigones Ohnmacht und Widerstand bei Sophokles und Anouilh
2.1 Antigone zwischen Kindheit und Rebellion
2.2 Der Machtkampf
3 Die Aufführung des Stückes und das Politische
3.1 „Résistanc e“ oder „Collaboration“
4 Bibliographie
1. Einleitung
1.1 Charakterisierung der Studie
Die vorliegende Hausarbeit hat sich die Psychologisierung in Jean Anouilhs und Sophokles` „Antigone“ zur Aufgabe gemacht. Dabei soll kein reiner Vergleich der beiden Theaterstücke erfolgen, sondern die Besonderheit der Psychologisierung hervorgehoben und anhand ausgewählter Textstellen erläutert werden. In diesem Zusammenhang wird zunächst ein Exkurs über Begriff und Thematik des Subjekts erfolgen. Um die eigene, literaturpsychologische Argumentation im textanalytischen Teil zu erhärten, bezieht sich die Verfasserin unter anderem auf Modelle bedeutender Psychologen des 20. Jahrhunderts, stets mit dem Ziel die Geschichte der Antigone aus einer für unsere Gegenwart relevanten Perspektive zu beleuchten.
1.2 Von der Unentdecktheit des Subjekts
Die Philosophie bietet verschiedene Definitionen des Subjektbegriffs und seiner Genese:
„Subjekt ist dem Wortsinn nach das Daruntergeworfene, Zugrundeliegende, daher sinnverwandt mit Substrat (das Daruntergebreitete) [...].“[1]
„Im spezifischeren Sinne, den es in der modernen Zeit angenommen hat, ist dieses S. [Subjekt][2] das menschliche Individuum (überwiegend dem Ich, dem reinen Bewusstsein) gleichgestellt, insofern es den Gedanken, dem Handeln, der Geschichte zugrunde liegen soll.“[3]
In der Antike scheint die Entdeckung dessen, was wir heute das Subjekt nennen weitgehend unmöglich, da zu dieser Zeit der Kollektivgedanke im Vordergrund stand.
Søren Kierkegaard bietet hierzu in seinem „Reflex des Tragischen“ eine Gegenüberstellung, welche die Unterschiede zwischen antikem und modernem Tragikverständnis deutlich macht und die Frage nach dem Subjekt in der Tragödie folgendermaßen beantwortet:
„Die Handlung ist nicht subjektiv reflektiert, wie wir es kennen, da die alte Welt die Subjektivität nicht in sich reflektiert hatte. Das Individuum konnte sich zwar frei regen, ruhte aber in substantiellen Bestimmungen in Staat, Familie und Schicksal.“[4]
Durch Aristoteles Poetik lässt sich annehmen, dass die Handlung der Tragödie dem Mimesisgedanken entspricht, dass antike Wirklichkeit und das Denken der Zeit „nachgeahmt“ bzw. in der Tragödie dargestellt wurden:
„Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit.“[5]
So ist es naheliegend durch die uns erhaltenen Tragödien Rückschlüsse auf die Lebensweise, Philosophie und Religion der Griechen zu ziehen. Demzufolge determinierten Polis, Mythen und Schicksalsglaube das Selbstverständnis der Menschen, worin eine Erklärung für die Unentdecktheit des Subjekts liegen könnte. Wenn nämlich der Glaube an das vorbestimmte Schicksal besteht, so impliziert dies die Unmöglichkeit diesem zu entrinnen und den Gedanken, dass der Mensch sein Leben nicht selbst lenken oder verändern kann.
Chor „Bitte um nichts mehr; denn aus dem bestimmten Schicksal gibt es für Sterbliche keine Befreiung.“[6]
Ohne das Wissen, aus einem Ich heraus für ein Ich zu handeln, kann sich kein bewusstes Subjekt entwickeln. Erst durch den Wegfall der Schicksalsidee wird der Mensch sich selbst und seiner Fähigkeiten bewusst. Das Erwachen des Subjekts geschieht im Grunde mit der Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Der Philosoph Hegel setzt an die Stelle der antiken Götterwelt, die Idee der Sittlichkeit.
„Dadurch eben sind jene Tragödien die unsterblichen Geisteswerke des sittlichen Verstehens und Begreifens, die ewigen Muster des sittlichen Begriffs. [...]
Das blinde Schicksal ist etwas Unbefriedigendes. In diesen Tragödien wird die Gerechtigkeit begriffen.“[7]
Hegel bemüht also keine übergeordneten, göttlichen Instanzen, sondern entwirft den Menschen als ein selbstverantwortliches Subjekt, das im Wechselspiel mit kollektiven Ansprüchen existiert. Mit dem Schwinden des verbindlichen Kollektivs, das einst im Zentrum stand, begann der Aufstieg des Subjekts. Seit der Aufklärung erfolgte eine wachsende Konzentration auf das Individuum, dessen Konflikt auch in der Kunst in den Mittelpunkt des Interesses rückte und bis in die heutige Zeit das Subjekt und seine Problematik im Zentrum erscheinen lässt. Statt des alles überschattenden Kollektivs und der Götterwelt gibt es nun die Selbstreflexion im Innern des Subjekts, das sich vor sich selbst verantworten und ohne verbindliche Vorgaben sein Leben meistern soll. Die zunehmende Subjektivierung, (welche sich ebenso in der Literatur niedergeschlagen und in der Form des „Bewusstseinsstroms“ wohl ihren Zenit erreicht hat), kann demnach als Kennzeichen der Neuzeit und der Moderne gelten.
1.2 Das Subjekt als Objekt der Psychologie
Für die Thematik der Hausarbeit stellt sich die Kernfrage, inwieweit Sophokles, der zur Zeit der Unentdecktheit des Subjekts gewirkt hat, mit Psychologisierung überhaupt in Zusammenhang gebracht werden kann, da die Psychologie (also auch die Technik des Psychologisierens wie sie ein moderner Autor anwendet) erst mit der Entdeckung des
Ich durch Siegmund Freud ihren Anfang nimmt. Ohne das Instanzen-Modell des psychischen Apparates, wäre die Psychoanalyse undenkbar und bestimmte Literatur nicht geschrieben oder analysiert worden. Ausgangspunkt aller psychoanalytischen Betrachtung und somit auch der Psychologisierung, ist das Ich, das menschliche Bewusstsein, also das Subjekt. Es geht darum (oft mit therapeutischer Absicht) die psychischen Mechanismen eines Individuums zu ergründen und seine Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften auf bestimmte Ursachen zurückzuführen.
So spielt auch Jean Anouilh in seinem Stück mit psychologischem Wissen. Diesen Gedanken verfolgt unter anderem Otto Eberhardt, wenn er den Konflikt zwischen Kreon und Antigone psychologisch als Machtkampf deutet:
„Wesentliche Bestandteile der Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon finden nun tatsächlich eine Parallele in einem elementaren Vorgang des menschlichen Zusammenlebens. [...] Der gemeinte Vorgang ist der „Machtkampf“ zwischen einzelnen Personen oder Gruppen im spezifischeren Sinne der Psychologie.“[8]
Indem er psychologisiert, konstruiert der Autor Erklärungen menschlichen Verhaltens anstelle des Mythos und nutzt deren ästhetische Wirkung auf die Psyche des Rezipienten. Dass diese nicht ausgeblieben ist, sei durch folgende Äußerung des Kritikers und Zeitzeugen Gabriel Marcel belegt:
„Das Werk von Anouilh ist außerordentlich bemerkenswert. Ich habe es mir ein zweites Mal angesehen und war vielleicht noch stärker ergriffen. Unmöglich, es ohne jenes Frösteln anzuhören, das sich einstellt, wenn etwas uns unmittelbar und bis zum Unerträglichen angeht.“[9]
Das uns “unmittelbar und bis zum Unerträglichen Angehende“ einer dargestellten Handlung gehört in jenen kaum formulierbaren, oft unbewussten Bereich der jeweils subjektiven, psychischen Wirkung von Kunst. Dass dem Theater schon seit der Antike eine den Rezipienten ergreifende Funktion zugesprochen wird, belegt Aristoteles` Katharsistheorie:
„Die Tragödie ist [...] – Nachahmung von Handelnden [...] die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“[10]
[...]
[1] Philosophisches Wörterbuch. Hrsg.: Walter Brugger. Freiburg 1990, S.383.
[2] Anm. d. Verfasserin.
[3] Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler in Zusammenarbeit mit d. Instituto Ital. Per gli Studi Filosofici, Napoli u. mit Arnim Regenbogen. Bd.4, Hamburg 1990, S.474.
[4] Kierkegaard, Søren: Entweder-Oder. Teil I und II. Hrsg.: Hermann Diem und Walter Rest. 6. Aufl., München 2000, S.167.
[5] Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1997, S. 21.
[6] Sophokles: Antigone. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Norbert Zink. Stuttgart 1992, S. 105.
[7] G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bd. (17) Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Frankfurt 1982, S. 132 f.
[8] Eberhardt, Otto: ,Antigone’ von Anouilh als Darstellung eines Machkampfes. Die Vermittlung der bisherigen Deutungsvielfalt in einer psychologischen Gesamtdeutung, Die neueren Sprachen 83/1984, Heft 2, S. 167.
[9] Schrank, Wolfgang: Jean Anouilh: Antigone. 6.Aufl., Frankfurt am Main 1986, S. 52.
[10] Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1997,S. 19.
- Citar trabajo
- Magistra artium Yvonne Rudolph (Autor), 2002, Die Psychologisierung in Sophokles und Jean Anouilhs "Antigone", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27532
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