[...] Die Diskussion um die
Definition dieser Kategorien und die Definition der Autobiografie selber, hat mich am
meisten interessiert. Deswegen habe ich für meine Hausarbeit zwei Aufsätze ausgesucht, die
versuchen, die Autobiografie zu definieren und die mit ihr auftauchenden Probleme
aufzuzeigen. Einer der Aufsätze ist von dem Franzosen Georges Gusdorf und trägt den Titel
„Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie.“2 Der andere Aufsatz, „Der
autobiographische Pakt“3, ist von Philippe Lejeune, ebenfalls ein Franzose. In den fünfziger
Jahren setzte eine neue Phase der Autobiografie-Forschung ein, bei der Frankreich und die
angelsächsischen Länder für längere Zeit die Führung übernahmen, vor allem in der
gattungstheoretischen Diskussion. Die Formgesetzte der Gattung traten hier erstmals in das
Blickfeld. Es wurde versucht, die Gattung der Autobiografie von anderen Selbsterzeugnissen
und von der Biografie, wie auch ihre verschiedenen Typen untereinander, formal zu
unterscheiden. Der Begriff „Kunstwerk“ tauchte im Zusammenhang mit der Autobiografie
zum ersten Mal 1956 bei Georges Gusdorf auf. Philippe Lejeune stellte in seinem Aufsatz
heraus, dass die Beziehung des Autobiografen zum Leser eine sehr wichtige Rolle spielt.
„Der autobiographische Pakt“ erschien fast zwanzig Jahre nach dem Aufsatz von Gusdorf
(nämlich 1974). In dieser Zeitspanne hat sich die Diskussion um die Autobiografie stark
weiterentwickelt und somit sind Lejeune´s Überlegungen und Gedankengänge natürlich
ausgereifter. Im ersten Kapitel meiner Hausarbeit werde ich den Aufsatz von Georges
Gusdorf mit eigenen Worten zusammenfassen und erklären und im zweiten Kapitel den von
Philippe Lejeune. Im Schlussteil werde ich dann auf Verknüpfungspunkte der beiden
Aufsätze eingehen und meine eigene Meinung darstellen.
2 Gusdorf, Georges: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“ (zuerst 1956), in: Günter
Niggl (Hg.): „Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung“,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1989, S. 121-147
Diese Quelle wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle >GG< und Angabe der Seitenzahl
zitiert.
3 Lejeune, Philippe: „Der autobiographische Pakt“, in: Philippe Lejeune: „Der autobiographische
Pakt“ (zuerst 1975), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1994, S. 13-51
Diese Quelle wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle >PL< und Angabe der Seitenzahl zitiert.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Selbsterkenntnis eines Menschen als Kunstwerk
2. Eine vertragliche Gattung
Schlussteil
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Begriff „Autobiografie“ wird im Duden umschrieben als eine „literarische Darstellung des eigenen Leben.“[1] In dem Proseminar „Weder Literatur-oder-Leben noch Mann-oder-Frau, sondern...“ im Wintersemester 2001/2002 haben wir die Autobiografie anhand von theoretischen, literarischen und autobiografischen Texten untersucht. Dabei standen vor allem die Geschlechterdifferenz, die Gattungsdiskussion und die Opposition von Literatur und Leben im Mittelpunkt. Wir haben festgestellt, dass die Autobiografie ein Bereich ist, an dem Kategorien wie Autor, Werk und Gattung zusammentreten. Die Diskussion um die Definition dieser Kategorien und die Definition der Autobiografie selber, hat mich am meisten interessiert. Deswegen habe ich für meine Hausarbeit zwei Aufsätze ausgesucht, die versuchen, die Autobiografie zu definieren und die mit ihr auftauchenden Probleme aufzuzeigen. Einer der Aufsätze ist von dem Franzosen Georges Gusdorf und trägt den Titel „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie.“[2] Der andere Aufsatz, „Der autobiographische Pakt“[3], ist von Philippe Lejeune, ebenfalls ein Franzose. In den fünfziger Jahren setzte eine neue Phase der Autobiografie-Forschung ein, bei der Frankreich und die angelsächsischen Länder für längere Zeit die Führung übernahmen, vor allem in der gattungstheoretischen Diskussion. Die Formgesetzte der Gattung traten hier erstmals in das Blickfeld. Es wurde versucht, die Gattung der Autobiografie von anderen Selbsterzeugnissen und von der Biografie, wie auch ihre verschiedenen Typen untereinander, formal zu unterscheiden. Der Begriff „Kunstwerk“ tauchte im Zusammenhang mit der Autobiografie zum ersten Mal 1956 bei Georges Gusdorf auf. Philippe Lejeune stellte in seinem Aufsatz heraus, dass die Beziehung des Autobiografen zum Leser eine sehr wichtige Rolle spielt. „Der autobiographische Pakt“ erschien fast zwanzig Jahre nach dem Aufsatz von Gusdorf (nämlich 1974). In dieser Zeitspanne hat sich die Diskussion um die Autobiografie stark weiterentwickelt und somit sind Lejeune´s Überlegungen und Gedankengänge natürlich ausgereifter. Im ersten Kapitel meiner Hausarbeit werde ich den Aufsatz von Georges Gusdorf mit eigenen Worten zusammenfassen und erklären und im zweiten Kapitel den von Philippe Lejeune. Im Schlussteil werde ich dann auf Verknüpfungspunkte der beiden Aufsätze eingehen und meine eigene Meinung darstellen.
1. Selbsterkenntnis eines Menschen als Kunstwerk
In seinem Aufsatz „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“ bezeichnet Georges Gusdorf die Autobiografie als eine fest etablierte Gattung, an deren Existenz für ihn kein Zweifel besteht. Er definiert Autobiografie als eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung eines gesamten Lebens, die von demjenigen, um dessen Leben es sich handelt, selber geschrieben wird. Sie ist für Gusdorf ein Dokument über ein Leben, ein Zeugnis eines Menschen über sich selbst. Doch in allererster Linie ist die Autobiografie für ihn ein Kunstwerk, das verborgene Stellen des persönlichen Wesens zutage bringt und uns damit den inneren Menschen zeigt. Er sagt, die Autobiografie habe etwas Schöpferisches an sich. Sie bewirke eine Erschaffung des eigenen Ichs durch den Autor selber und sei somit Mittel der Selbsterkenntnis. Gusdorf bezeichnet sie als Spiegel, in dem der Mensch sein eigenes Bild wiedergibt. Er ist der Meinung, ein Autor will mit einer Autobiografie sein Leben zur Vollendung bringen, ihm einen Sinn geben. Bevor ich jedoch näher auf Gusdorf´s Verständnis von Autobiografie eingehe, möchte ich zunächst zusammenfassen, wie er die historische Entstehung begreift und beschreibt. Er sagt, dass die Gattung der Autobiografie räumlich und zeitlich begrenzt auftritt. Das Anliegen, das eigene Leben zusammenzufassen, zeige sich nur auf einem kleinen Teil der Weltkarte und erst seit einigen Jahrhunderten. Gusdorf behauptet, die Autobiografie drückt ein spezielles Anliegen des abendländischen Menschen aus. Jemand, der eine Autobiografie schreibt, findet seine eigene Existenz bedeutend. Individualität und das Sichbewusstwerden von der Einmaligkeit jedes einzelnen Lebens spielen hier eine große Rolle. Früher habe es keine Autobiografie gegeben, da sie in einer Kultur, in der das Bewusstsein seiner selbst nicht existiert, nicht möglich sei, so Gusdorf. Bevor es sie gab, waren die Einzelexistenzen vielmehr ineinander verflochten. Was zählte war die Gemeinschaft, nicht das isolierte Wesen. Gusdorf meint, die Menschheit musste erst von den mythischen Vorstellungen der traditionellen Lehren befreit werden, damit die Autobiografie möglich wurde. Doch bevor dies der Fall war, entstand zunächst einmal die Biografie als literarische Gattung, die eine äußere Darstellung eines Lebensweges bietet. Besonders historische Personen, wie zum Beispiel Politiker, hatten (und haben auch heute noch) den Wunsch, im Gedächtnis der Menschen weiterzuleben. Dafür war und ist die Biografie neben Inschriften und Denkmälern eine gelungene Ausdrucksform. Den Historiker und die bedeutende Persönlichkeit, über die er eine Biografie schreibt, trennen aber meist ein zeitlicher und sozialer Abstand. Bei der Autobiografie hingegen wählt sich der Historiker sozusagen selbst zum Gegenstand. Das ist der große Unterschied. Den Abstand kann es nicht geben, da Künstler und Modell dieselbe Person sind. Gusdorf sagt, dies sei eine geistige Revolution, da die Rangordnung umgekehrt wird. Der mehr oder weniger bekannte Autobiograf hält sich des Andenkens der Menschen für würdig. Das Interesse über die Geschichte der Öffentlichkeit hat sich auf die Geschichte des Privaten verlagert. Diese Umkehrung des Bewusstseins war ein langer Prozess. Vor dieser Umkehrung herrschte „eine Auffassung von der in Zucht gehaltenen Einzelperson, die ihr Heil in der Anerkennung eines allgemeingültigen und höheren Gesetzes ... hatte.“[4] Das Äußere, das „Welttheater“ wie Gusdorf es nennt, war gut zu durchschauen. Das Innenleben der Menschen spielte dagegen keine Rolle. Durch das Christentum bekam jedoch eine neue Anthropologie Vorrang. Das einzelne Leben wurde mehr von Interesse. Die entscheidende Rolle hierbei spielt die Beichte. Sie wird als ein Dialog zwischen der Seele und Gott gesehen, bei dem der Mensch einen Spiegel vorgehalten bekommt, was er falsch gemacht hat. Dieses Spiegelbild wurde von der Kirche jedoch zu ihren Gunsten verzerrt. Erst mit dem Zerfall der mittelalterlichen römischen Kirche und durch die Renaissance und Reformation begann der Mensch, ein Interesse dafür zu entwickeln, sich so zu sehen, wie er wirklich ist. Diese Entdeckung des Selbst ist für den Menschen beängstigend. Gusdorf vergleicht dies mit der Entdeckung des Spiegels, welche die menschliche Erfahrung zunächst durcheinander brachte. Ein Mensch aus der Wildnis hat auch heute noch Angst vor seinem Spiegelbild, während der Mensch aus einer zivilisierten Gesellschaft darin wesentliche Aspekte seiner Identität entdeckt. Er trennt das Äußere vom Inneren, sieht sich als Individuum unter anderen. Und doch empfindet auch der zivilisierte Mensch eine Beunruhigung bei dieser Begegnung mit sich selbst. Gusdorf ist der Meinung, der Verfasser einer Autobiografie würde sich dieser Beunruhigung beugen und ihr somit Herr werden. Er will das Geheimnis seiner Persönlichkeit ergründen. Seit der Umkehrung der Blickrichtungen -Gusdorf gibt dafür übrigens keinen genau datierten Zeitpunkt an- wird die Tugend der Individualität praktiziert. Der Autobiograf macht es sich zur Aufgabe, die verborgensten Stellen seines persönlichen Wesens an´s Licht zu bringen. Die Autobiografie ist also auch wie ein Spiegel, in dem der Mensch sein eigenes Bild wiedergibt. Und Gusdorf sagt, der Mensch hält es für nützlich, sein eigenes Bild festzuhalten, da das Zeugnis jedes einzelnen über sich selbst eine Bereicherung für das gemeinsame kulturelle Erbe ist.
Nachdem Gusdorf die Entstehung der Autobiografie beschrieben hat, geht er näher auf die Definition von Autobiografie ein, auf ihre „Absichten ... und ... Erfolgsaussichten.“[5] Er nennt den Vergleich mit einem Maler, der, wenn er ein Selbstporträt malt, nur einen Moment seiner äußeren Erscheinung festhält. Das Gemälde stellt die Gegenwart dar, während es dem Autobiograf darum geht, die verstreuten Teile seines Lebens zu sammeln und zusammenhängend darzustellen. Es werden nicht einfach nur Momentaufnahmen aneinandergereiht, sondern die Entwicklung eines Menschen innerhalb einer Zeitspanne wird nachgezeichnet. Dies erfordert, dass der Mensch zu sich selber auf Distanz geht. Nur so kann er sich in seiner Identität und einheitlich im Verlauf der Zeit wiederherstellen. Die Autobiografie erzählt uns die Geschichte einer Seele, meint Gusdorf. Dies sei auch der wesentliche Unterschied zur Biografie. Der Autobiograf ist selber der Betroffene und weiß somit am Besten, was er gedacht, geglaubt und gewollt hat. Der Biograf schildert die äußere Person und bleibt über deren Absichten meist im Ungewissen, da es sich oft um eine ferne und nicht mehr lebende Person handelt. Gusdorf schreibt, eine Biografie habe immer etwas von einem Kriminalroman an sich, da sie das „Entziffern von Zeichen“[6] ist. Und gerade das sei mit eine Absicht, warum der Autobiograf seine Geschichte selbst darstellt. So kann er eventuelle Missverständnisse ausräumen oder eine entstellte Wahrheit richtig stellen.
Innerhalb der Gattung Autobiografie macht Gusdorf jedoch auch noch eine Unterscheidung. Auf der einen Seite gäbe es die Autobiografie, die sich auf den öffentlichen Sektor des Lebens beschränkt. Diese widmet sich der Verteidigung und Erläuterung eines Menschen, einer Karriere oder Politik. Ein solcher Autobiograf schreibt, um sein Lebenswerk zu feiern. Es ist ein dem eigenen Interesse dienendes Zeugnis. Solche Memoiren, meist von Männern der Öffentlichkeit geschrieben, sind oft sehr selbstverherrlichend und sie geben lediglich das äußere Leben wieder. Sie sind immer ein Stück Rache an der Geschichte und der Historiker weiß genau, dass er dem Erzähler nicht alles blindlings glauben darf. Bei dieser Art von Autobiografie haben also die äußeren Aspekte Vorrang. Auf der anderen Seite gibt es nach Gusdorf die Art von Autobiografie, bei der die private Seite des Lebens größere Bedeutung hat. Chronologische Anhaltspunkte, wie soziologische und theologische Aspekte, sind dabei von geringer Bedeutung. Hier geht es nicht um die Wahrheit der öffentlichen Fakten, sondern um die Wahrheit, die sich vom Innern des persönlichen Lebens her ausdrückt. Hier betreibt der Autobiograf die Rückbesinnung in erster Linie für sich selber, das heißt, um sich seiner selbst und seiner Geschichte bewusst zu werden. Gusdorf ist der Ansicht, er will die verlorene Zeit wieder einfangen, um sie für immer festzuhalten.
Die Autobiografie beabsichtigt, die Einheit eines Lebens durch die Zeitabläufe hindurch wiederherzustellen. Gusdorf meint mit „Einheit“ erlebte Verhaltensweisen und Haltungen. Er sagt, diese Einheit bekäme man nicht durch äußere Ereignisse. Diese üben zwar auch ihren Einfluss auf uns aus, doch das Wesentliche ist das, was unsere Persönlichkeit ausmacht. Diese inneren Elemente prägen die äußeren Fakten. Man selber ist die treibende Kraft für das Entstehen von Situationen. Das heißt: Mein Handeln bestimmt die Struktur meines Erlebnisfeldes. Nach Gusdorf tritt somit die eigentliche Absicht der Autobiografie hervor: Da sie ein gesamtes Leben rekonstruiert, ist sie ein Mittel der Selbsterkenntnis. Der Autobiograf ist gezwungen, den Menschen, der er ist, in die Perspektive dessen zu versetzen, der er einmal war. Problematisch dabei ist, dass so die Bedeutung eines Erlebnisses verändert werden kann, da der Mensch, der sich an seine Vergangenheit erinnert, schon lange nicht mehr derjenige ist, der diese Vergangenheit erlebt hat. So kann das bereits ferne und unvollständige Bild vor dem geistigen Auge entstellt werden. Andererseits gibt die Erinnerung dem Autobiografen Abstand und somit die Möglichkeit, ein Ereignis in seiner Gesamtheit zu überblicken. Gusdorf bezeichnet die Autobiografie als zweite Lesung des Erlebens. Man wird sich über Dinge bewusst, die man im Augenblick eines Ereignisses nicht erfassen konnte, die aber wichtige Entscheidungen von einem bestimmt haben. Die Vergangenheit, die man durch die Erinnerung zurückruft, hat ihre körperliche Konsistenz zwar verloren, aber dafür eine neue, engere Zugehörigkeit zum persönlichen Leben bekommen. Indem ein Mensch sein Leben erzählt, erforscht er sich selber auf dem Hintergrund seiner Geschichte. Gusdorf beschreibt die Autobiografie als ein „Werk persönlicher Rechtfertigung“[7], als Ausdruck von „alternden Menschen“[8], die sich fragen, ob ihr Leben nicht vergebens gelebt wurde. Er schreibt: „Der reife oder bereits betagte Mensch, der sein Leben in Form eines Berichtes ausbreitet, will auf diese Art beweisen, dass er nicht umsonst gelebt hat; er entscheidet sich nicht für die Auflehnung, sondern für die Versöhnung...“.[9] Wenn man sein Leben für verfehlt hält, ist die Autobiografie das letzte Mittel es doch noch zur Vollendung zu bringen. So gesehen dient die Autobiografie in erster Linie dem persönlichen Heil. Einerseits hat die Autobiografie also einfach die Absicht, die Geschichte eines Lebens nachzuzeichnen. Andererseits hat die Autobiografie die tiefere Absicht, das persönliche Wesen zu verteidigen. Zwischen diesen beiden Absichten liegt laut Gusdorf ein „beträchtlicher Abstand“[10], was wahrscheinlich bedeuten soll, dass dies zwei sehr unterschiedliche Absichten sind. Dieser Abstand lässt die lässt die Wiedersprüche und Hilflosigkeiten dieser Gattung besser verstehen. Ein anderer Abstand, den Gusdorf anspricht, ist der, der zwischen einem Leben und seiner Beschreibung liegt. Das gelebte Leben entwickelt sich in der Gegenwart von einem Tag zum andern. Es herrscht eine dauernde Spannung an Unbekanntem und Ungewissheit, die in der Autobiografie nicht erhalten bleiben kann. Der Bericht eines Lebens kann nicht einfach eine Bildkopie dieses Lebens sein. Denn dieser Bericht wird nachträglich geschrieben und zwar von jemandem, der das Ende schon kennt. Im Moment des Erlebens wusste der Autobiograf nicht, was im nächsten Augenblick passiert. Im Nachhinein, beim Aufschreiben seiner Autobiografie, weiß er jedoch, was im nächsten Moment geschah. Das heißt, er kennt immer das Ende der Geschichte. Eine weitere Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, ist, dass der Autobiograf einem bestimmten Erlebnis einen Sinn verleiht, das zu dem Zeitpunkt, als es stattfand, vielleicht mehrere oder gar keinen hatte und der sich erst im Nachhinein herausstellt. Daraus, welchen Sinn der Autobiograf einem Erlebnis verleiht, ergibt sich, welche Fakten und Details festgehalten werden. Es ist somit eine bewusste Entscheidung des Schriftstellers, welche Züge seines persönlichen Wesens er hervorhebt. Dadurch können natürlich viele Fakten unter den Tisch fallen und in einer Autobiografie kann es von Ungenauigkeiten nur so wimmeln. Doch Gusdorf ist der Überzeugung, eine Autobiografie könne trotz alledem ein Meisterwerk sein. Sie könne kein schlichtes und einfaches Lebensprotokoll sein, ähnlich einem Abrechnungsbuch: „ Selbst wenn ein solcher Bericht noch so genau sein sollte, wäre er nur eine Karikatur des wirklichen Lebens; die strenge Genauigkeit käme der ausgeklügelsten Schwindelei gleich.“[11] Seiner Ansicht nach ist die Wahrheit des Menschen für die Autobiografie von größerer Bedeutung als die Wahrheit der Fakten. Denn in einer Autobiografie geht es in erster Linie um den Menschen. Der Mensch setzt sich mit seinem Leben auseinander und ist auf der Suche nach seiner innersten Wahrheit, wobei er Zwiesprache mit sich selber hält. Die Autobiografie will den Sinn des geschilderten Lebens hervorheben. Zugleich ist sie aber auch selber ein Moment und somit ein Sinn dieses Lebens. Gusdorf findet, die Autobiografie ist das Werk und das Drama eines Menschen. Er sagt, man muss ihre Bedeutung jenseits von falsch und richtig suchen. Ohne Zweifel sei die Autobiografie ein Dokument über ein Leben, dessen Aussagen ein Historiker überprüfen kann. Aber für Gusdorf ist sie hauptsächlich ein Kunstwerk. Und bei Kunstwerken spielt es keine Rolle, ob der größte Teil erfunden ist, ob sie voller Unwahrheiten und Lücken sind. Von Bedeutung ist die Schönheit der Bilder und der Stil. Man solle aufhören, ein Werk mit einer Art von Wissenschaftlichkeit zu untersuchen und nach der Genauigkeit von Details zu beurteilen. Für Gusdorf hat die literarische und künstlerische Funktion eine größere Bedeutung als die historische und objektive Funktion. Er sagt, es gäbe eine Wahrheit des Menschen jenseits der Schwindeleien über Fakten, nämlich die Vorstellungen und Träume, die er von sich und der Welt hat und die er in der Nichtwirklichkeit verwirklicht. Diese Wahrheit hat realen künstlerischen Wert. Über der künstlerisch-literarischen Funktion der Autobiografie steht jedoch Gusdorf´s Meinung nach noch die anthropologische Bedeutung. Die Autobiografie sei wie jedes andere Kunstwerk eine Projektion des Innenlebens in die Außenwelt. Dadurch, dass es Form annimmt, wird es sich seiner selbst bewusst. Er schreibt: „ Wenn ein Mensch sein Leben beschreibt, dann macht er sich auf, um sich selbst zu entdecken...“[12]. Es gibt also drei Wege, eine Autobiografie zu betrachten: Man kann sie auf objektive Richtigkeit überprüfen, den künstlerischen Wert suchen und darstellen oder sich darum bemühen, ihre innerliche und persönliche Bedeutung herauszuarbeiten.
[...]
[1] „Der grosse Duden“, Band 5, Fremdwörterbuch, 3.Auflage, Bibliographisches Institut Mannheim, Dudenverlag, 1974
[2] Gusdorf, Georges: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“ (zuerst 1956), in: Günter Niggl (Hg.): „Die Autobiographie – Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1989, S. 121-147 Diese Quelle wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle >GG< und Angabe der Seitenzahl zitiert.
[3] Lejeune, Philippe: „Der autobiographische Pakt“, in: Philippe Lejeune: „Der autobiographische Pakt“ (zuerst 1975), Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1994, S. 13-51 Diese Quelle wird im Folgenden unter Verwendung der Sigle >PL< und Angabe der Seitenzahl zitiert.
[4] >GG<, S. 128 Zeile 2-6
[5] >GG<, S. 129 Zeile 33
[6] >GG<, S. 130 Zeile 35, S. 131 Zeile 1
[7] >GG<, S. 135 Zeile 11
[8] >GG<, S. 135 Zeile 12 und 13
[9] >GG<, S. 135 Zeile 37, S. 136 Zeile 1-3
[10] >GG<, S. 136 Zeile 9
[11] >GG<, S. 140 Zeile 9-12
[12] >GG<, S. 141 Zeile 36 und 37
- Arbeit zitieren
- Verena Roelvink (Autor:in), 2002, Die Autobiografie - Eine Gegenüberstellung der Theorien von Georges Gusdorf und Philippe Lejeune, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27524
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.