Der Begriff Identität ist eines der zentralen Wörter der Moderne und besonders des 20. Jahrhunderts. Ein Grund dafür liegt vor allem in der interdiskursiven Verwendung dieses Themas, wodurch sich verschiedene Definitionsansätze ergeben. Je nach wissenschaftlicher Disziplin eröffnen sich diverse Anwendungsbereiche des Identitätsbegriffs, mit dem Probleme und wissenschaftliche Fragestellungen geklärt werden sollen und können. Auch für die Literatur bietet der Identitätsbegriff eine Fülle an Auseinandersetzungsmöglichkeiten, die es ermöglichen, gesellschaftliche, kulturelle und politische Herausforderungen im 20. Jahrhundert zu thematisieren. Identität wird gerade deshalb zu einem geflügelten Wort der Moderne, weil es die Konstellation von Bezügen eines bestimmten Subjekts zu seiner Außenwelt erfasst. Dabei sind Subjekt und Außenwelt variable Elemente, die sich mit dem Begriff der Identität erfassen lassen.
Parallel mit dem Begriff der Identität beschreibt die Identitätskrise einen dysfunktionalen Ich-Weltbezug. Diese Störung, in der ein Individuum nicht mehr fähig ist, ein funktionierendes Bezugssystem zu seiner Lebensumwelt zu schaffen, wird in zahlreichen literarischen Werken um 1900 aufgegriffen und zum Gegenstand einer differenzierten Betrachtung. Die Zeit des "Fin de Siècle", welche grob die Jahrhundertwende von "1885 bis ca. 1910" umfasst, bietet dabei einen besonders breiten Fundus an literarischen Werken, die das Thema der Identitätskrise aufgreifen. Dabei basieren die Krisen, die von den literarischen Figuren durchlebt werden, auf verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Subsystemen, welche die diskursive Vielfalt dieser "Epoche" widerspiegeln.
Um sich der Identitätskrise als charakteristisches Thema für die Zeit um 1900 zu nähern, werden in dieser Arbeit die drei Hauptprotagonisten der Erzählungen "Tod in Venedig" von Thomas Mann, "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von Rainer Maria Rilke und "Sterben" von Arthur Schnitzler hinsichtlich der Krise analysiert, welche die Charaktere Gustav Aschenbach, Malte Laurids Brigge und Felix durchleben. Ziel ist es, die Prozesse nachvollziehbar darzustellen, die eine Identitätskrise bewirken, aber auch ihren Verlauf aufzuzeigen. Hierzu ist es notwendig, die jeweilige Krise in ihrem kulturellen Bezugssystem zu betrachten, welches eng mit dem Verlauf und dem Ausgang der Identitätskrise verknüpft ist. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ich-Auflösung in Thomas Manns "Tod in Venedig"
2.1 Aschenbachs Identitätskrise im Rahmen eines Übergangs vom apollinischen zum dionysischen Weltbild
2.2 Die Identitätsthematik im Rahmen von Décadence-Symbolen
3. Die Identitätskrise im Urbanisierungsprozess des frühen 20. Jahrhunderts in Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"
3.1 Die Großstadt und das Ich
3.2 Identitätskrise und die Rolle des Erzählers
4. Autonomieverlust als Identitätskrise bei Arthur Schnitzlers „Sterben“?
4.1 Krankheit als Identitäts- oder Ich- Krise?
4.2 Krankheit und Tod
4.3 "Sterben" als Identitätswechsel im Vergleich zu Mann und Rilke
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
- Citation du texte
- Ina Schumacher (Auteur), 2012, Identitätskrisen literarischer Figuren um 1900, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275249
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