Das Dilemma, in das sich die russischen Bolschewiki im Oktober 1917 gebracht hatten, ist oft beschrieben worden: Sie wollten die proletarische Revolution in einem agrarisch geprägten Staat. Rund 80 Prozent der Russen lebten damals auf dem Land. Auch dort fand eine Revolution statt. Die Unterschiede zur urbanen Lebenswelt aber waren so groß, dass man von „der” Oktoberrevolution schlichtweg nicht sprechen kann. Der sowjetische Marxist Lev Kritsman sah 1917 zwei ganz unterschiedliche Revolutionen: Die sozialistische der Städte und eine antifeudale, bourgeoise auf dem Land.
Die jahrhundertealte Trennung von Stadt und Land, die Idealisierung oder Dämonisierung der Bauern durch die Intelligenz, überdauerte zunächst die Zäsur von 1917. Obwohl viele der führenden Bolschewiki selbst aus dem Dorf stammten, führte ihre Revolution nicht zu einer Annäherung der beiden Welten. Ganz im Gegenteil lässt sich die Brutalität, mit der das Zentralkomitee ab den späten Zwanzigerjahren Kollektivierung und Dekulakisierung vorantrieb, teilweise gerade mit der Verachtung erklären, die diese Männer ihrer eigenen Herkunft entgegenbrachten.
Dass es sich tatsächlich um zwei Welten handelte, die in jenen Jahren aufeinanderstießen, wird immer wieder in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Ereignisse deutlich. Wenn es im folgenden um die Sicht von Bauern und Bolschewiki aufeinander geht, zeigt sich, dass beide Seiten die Kollektivierung in ganz verschiedene Deutungszusammenhänge stellten. Zugleich werden strukturelle Parallelen in den Weltbildern deutlich, die die Gewalttätigkeit in Wort und Tat verständlicher erscheinen lassen. Und mit den geschätzten vier bis sechs Millionen Toten, die allein die Hungersnot von 1932/33 forderte - von den Deportationen und Hinrichtungen ganz zu schweigen - war die Kollektivierung vor allem ein Akt von Gewalt und Terror.
Inhaltsverzeichnis
- Bauern und Bolschewiki
- Die Trennung von Stadt und Land
- Kollektivierung und Dekulakisierung
- Die Sicht von Bauern und Bolschewiki
- Die Hungersnot von 1932/33
- Wirtschaftliche Hintergründe
- Versorgung der Städte
- Industrialisierung
- Die „Neue Ökonomische Politik” (NEP)
- Die Wiederaufnahme der Getreiderequisitionen
- Der „Klassenkampf” auf dem Land
- Die Position der Bauern
- Der Kampf Stadt gegen Dorf
- Die „stille Krieg” der Bauern
- Die Abnahme von Land und Freiheit
- Die Kollektivierung
- Die NEP als „Ruhe vor dem Sturm”
- Die Requisitionstrupps
- Der Eingriff in die Privatsphäre der Bauern
- Die Umgestaltung des öffentlichen Raums
- Der Widerstand der Bauern
- Die verschiedenen Formen des Widerstands
- Der Wunsch nach „Land und Freiheit”
- Die Bolschewiki als „Reiter der Apokalypse”
- Aufstände von Frauen (babi bunti)
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Essay analysiert die komplizierte Beziehung zwischen Bauern und Bolschewiki in der frühen Sowjetunion. Im Fokus stehen die Auswirkungen der Kollektivierung und Dekulakisierung auf die bäuerliche Bevölkerung und die daraus resultierenden Konflikte, die bis zur Hungersnot von 1932/33 führten.
- Die Trennung von Stadt und Land in der frühen Sowjetunion
- Die Idealisierung und Dämonisierung der Bauern durch die Intelligenz
- Die Rolle von Gewalt und Terror in der Kollektivierung
- Die unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse durch Bauern und Bolschewiki
- Der Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung
Zusammenfassung der Kapitel
Der Essay beschreibt zunächst die historische Trennung von Stadt und Land und die unterschiedlichen Revolutionen, die sich in diesen beiden Welten abspielten. Anschließend wird die Brutalität der Kollektivierung und Dekulakisierung in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren beleuchtet. Dabei wird gezeigt, dass die Bolschewiki die Bauern als bloße Lieferanten von Nahrungsmitteln für die Städte betrachteten und deren Widerstand mit Gewalt zu brechen suchten. Der Essay beleuchtet die unterschiedlichen Perspektiven von Bauern und Bolschewiki auf die Kollektivierung und analysiert die strukturellen Parallelen in ihren Weltbildern, die die Gewalttätigkeit in Wort und Tat verständlicher machen. Er zeigt außerdem die verschiedenen Formen des Widerstands, die von den Bauern gegen die Eingriffe des Staates geleistet wurden, und wie diese in den Augen der Bauern als Angriff auf ihre Freiheit und Traditionen empfunden wurden.
Schlüsselwörter
Kollektivierung, Dekulakisierung, Bauern, Bolschewiki, Revolution, Gewalt, Terror, Hungersnot, Widerstand, Land und Freiheit, Tradition, Stadt und Land, NEP, Getreiderequisitionen, Klassenkampf.
- Quote paper
- Hans-Joachim Frölich (Author), 2003, Bauern und Bolschewiki, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27289