Der Blick in die Vergangenheit ist oftmals wage, lückenhaft und von Zerrbildern durchzogen. Wie oft hören wir im Alltag Sätze wie „Dies habe ich aber anders in Erinnerung!“ oder „Da spielte mir meine Erinnerung einen Streich“ - unser Gedächtnisvermögen ist keine Datenfestplatte mit der wir vergangene Ereignisse wieder eins zu eins abrufen können, sondern eine nebulöse Wolke, in der sich Wahrheitsfindung und Fiktion oftmals kreuzen. Wenn wir Namen durcheinander bringen oder uns ein bekanntes Gesicht begegnet, das wir aus der Situation heraus schlichtweg nirgendwo einordnen können, so ist dies jedoch nicht nur auf eine „Fehlleistung“ unseres eigenen subjektiven Gedächtnisses zurückzuführen. Unser subjektives Empfinden konstituiert sich vielmehr aus einem Kollektiv an Fakten und Erzählungen, die sich durch unsere gesellschaftliche und soziale Gebundenheit nun mal ergeben. Es kann dabei auch durchaus vorkommen, dass wir Erinnerungen, die nicht von uns selbst stammen, in unseren eigenen Gedächtnisbestand als eigene Erinnerung aufnehmen. Ein Phänomen, das auf den Namen „false memory“1 hört und an späterer Stelle dieser Arbeit nochmals aufgegriffen wird. Diese Fremderinnerungen können jedoch nicht nur aus Berichterstattungen anderer, realer Personen resultieren, sondern auch aus fiktionalen Quellen wie Bücher, Erzählungen und – eben auch – Filme, in unser Gedächtnis übertragen werden.
Das Medium Film nimmt dabei eine Sonderstellung ein. Denn zwischen der Art und Weise wie unser Erinnerungsvermögen funktioniert und dem szenischen Handlungsablauf eines Spielfilms scheint ein besonders enges Verhältnis zu bestehen. Ebenso wie ein Film oft keiner lückenloser zeitlichen Stringenz folgt und uns stattdessen nur eine spezifische Auswahl an Szenen zeigt, um seine Geschichte zu erzählen, so erinnern auch wir uns in aller Regel nicht an komplette Geschehnisse der Vergangenheit, sondern an spezifischen Ereignissen daraus, die für uns wichtig erscheinen und sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben. Der Film scheint in Hinblick auf die Form des Erinnerns deswegen in doppelter Weise interessant: Zum einen in der Art und Weise wie sich Charaktere im Film selbst zurückerinnern und wir als Zuschauer dies in Form von Rückblenden filmisch aufgearbeitet bekommen,
und zum anderen in der Rückwirkung, die die filmische Erzählung wiederum selbst für unser Gedächtnis besitzt...
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- EIN BLICK AUF DIE HANDLUNG
- ÄSTHETISCHER UND INHALTLICHER VERGLEICH DER BEIDEN STUMMFILME
- «DER SICHTBARE MENSCH» VON BÉLA BALÅZS
- STUMMFILM-BILDER
- INHALTLICHE BEZÜGE
- EVALUATION
- FUNKTION UND BEDEUTUNG DER ERINNERUNGSSEQUENZ
- THEORIEN ZU ERINNERUNG UND GEDÄCHTNIS
- DAS SUBJEKTIVE UND KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS
- DIE DECKERINNERUNG BEI FREUD
- EINE DREIFACHE RE-INTERPRETATION VON EREIGNISSEN
- THEORIEN ZU ERINNERUNG UND GEDÄCHTNIS
- FAZIT UND AUSBLICK: KONSTITUIERT FILM UNSERE ERINNERUNG?
- LITERATURVERZEICHNIS
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Hausarbeit analysiert den Film "Tabu" von Miguel Gomes im Hinblick auf die Beziehung zwischen Film und Erinnerung. Die Arbeit untersucht, inwiefern die Stummfilm-Sequenz im Film als eine dreifache Re-Interpretation der Vergangenheit fungiert, die sowohl von der Erzählung des Protagonisten Ventura, der Erinnerung der Hauptdarstellerin Pilar als auch von filmhistorischen Einflüssen geprägt ist. Darüber hinaus werden Theorien zur Erinnerung und zum Gedächtnis herangezogen, um die Funktion und Bedeutung der Erinnerungssequenz im Gesamtkontext des Films zu beleuchten.
- Die Rolle des Films als Medium der Erinnerung
- Die Bedeutung des subjektiven und kollektiven Gedächtnisses
- Die ästhetischen und inhaltlichen Parallelen zwischen Gomes' "Tabu" und Murnaus Stummfilm "Tabu"
- Die Funktion der Stummfilm-Sequenz als Deckerinnerung
- Die Frage, inwiefern Film unsere Erinnerung mitkonstituieren kann
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Hausarbeit ein, indem sie die besondere Beziehung zwischen Film und Erinnerung beleuchtet. Der Blick in die Vergangenheit wird als wage und lückenhaft beschrieben, und es wird betont, dass unser Gedächtnis keine Datenfestplatte ist, sondern eine nebulöse Wolke, in der sich Wahrheit und Fiktion kreuzen. Das Medium Film nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da zwischen der Art und Weise wie unser Erinnerungsvermögen funktioniert und dem szenischen Handlungsablauf eines Spielfilms ein enges Verhältnis zu bestehen scheint.
Das zweite Kapitel bietet eine Zusammenfassung der Handlung von "Tabu". Der Film erzählt in seiner ersten Hälfte die Geschichte der Protagonistin Pilar, einer älteren Frau, die in Lissabon lebt und sich um ihre Mitmenschen sorgt. Die Geschichte wird durch die Figur der Aurora, einer temperamentvollen, aber etwas verwirrten älteren Dame, bereichert, die von einem Traum erzählt, der sie dazu bewog, ihr Glück im Casino zu versuchen. Die erste Hälfte des Films spiegelt zugleich eine politische Realität Portugals wieder, indem sie Pilar an einer Demonstration gegen die UNO und einen Genozid in einem afrikanischen Land teilnehmen lässt. Die zweite Hälfte des Films, betitelt "Paradies", erzählt die Geschichte von Aurora und Ventura in Afrika, die ästhetisch an einen Stummfilm angelehnt ist.
Das dritte Kapitel widmet sich dem ästhetischen und inhaltlichen Vergleich zwischen Gomes' "Tabu" und Murnaus Stummfilm "Tabu". Es wird dabei die Filmtheorie "Der sichtbare Mensch" von Béla Balåzs herangezogen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Filmen in Bezug auf die Bildsprache und die Erzählweise zu analysieren. Es werden die ästhetischen Prinzipien des Stummfilms, wie die Großaufnahme, das Tempo und die Richtung der Bilder, die Bildhaftigkeit und der Simultaneismus, in den jeweiligen Filmen beleuchtet.
Im vierten Kapitel werden Theorien zur Erinnerung und zum Gedächtnis vorgestellt, um die Funktion und Bedeutung der Erinnerungssequenz in "Tabu" zu beleuchten. Es wird dabei die Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis thematisiert, sowie die Theorie der Deckerinnerung von Sigmund Freud. Es wird argumentiert, dass die Stummfilm-Sequenz in "Tabu" als eine dreifache Re-Interpretation der Vergangenheit fungiert: sie wird von der Erzählung Venturas, der Erinnerung Pilars und filmhistorischen Einflüssen geprägt.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Film, Erinnerung, Gedächtnis, "Tabu" von Miguel Gomes, "Tabu" von Friedrich Wilhelm Murnau, Stummfilm, Béla Balåzs, Deckerinnerung, subjektives Gedächtnis, kollektives Gedächtnis, kulturelles Gedächtnis, Re-Interpretation, ästhetische Analyse, filmische Erzählweise, politische Realität, Portugal, Afrika.
- Citation du texte
- B.A. Andrea Würth (Auteur), 2013, Erinnerung im Film - Film als Erinnerung. Gedächtnisräume in Miguel Gomes’ "Tabu", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272230
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