Platons Dialog Protagoras in seiner Gesamtheit zu überblicken, ist selbst für erfahrene Platon-Interpreten eine mühevolle Angelegenheit. Einem solchen Vorhaben steht einerseits der stark fragmentierte Aufbau des Werkes entgegen, andererseits die schiere Menge an behandelten Themen – so besteht nicht einmal Konsens darüber, was man als Hauptthema des Dialogs ansehen kann. Dazu gesellt sich das für die Platon-Interpretation fundamentale Problem, ob die in den Dialogen von Sokrates vertretenen Positionen tatsächlich mit der Position von Sokrates und/oder Platon identisch sind.
In dieser Arbeit soll ein wichtiges (jedoch nicht das einzige) Thema, das im Protagoras behandelt wird, besprochen werden. Es ist die Frage nach der Einheit der Tugend bzw. (nach der hier verwendeten Übersetzung von Bernd Manuwald) des Gut-Seins (aretē). Konkret soll hier eine inhaltlich zentrale Stelle ausführlich kommentiert werden, nämlich Prot. 328d-330b. An dieser Stelle wird die Frage nach der Einheit des Gut-Seins erstmals explizit gestellt. Im Anschluss wird aufgezeigt, wie sich das Problem durch den ganzen restlichen Dialog zieht. Zuvor soll jedoch noch ein kurzer Abriss des Geschehens bis zu der kommentierten Stelle gegeben werden.
Platons Dialog Protagoras in seiner Gesamtheit zu überblicken, ist selbst für erfahrene Platon-Interpreten eine mühevolle Angelegenheit. Einem solchen Vorhaben steht einerseits der stark fragmentierte Aufbau des Werkes entgegen, andererseits die schiere Menge an behandelten Themen – so besteht nicht einmal Konsens darüber, was man als Hauptthema des Dialogs ansehen kann1. Dazu gesellt sich das für die Platon-Interpretation fundamentale Problem, ob die in den Dialogen von Sokrates vertretenen Positionen tatsächlich mit der Position von Sokrates und/oder Platon identisch sind.
In dieser Arbeit soll ein wichtiges (jedoch nicht das einzige) Thema, das im Protagoras behandelt wird, besprochen werden. Es ist die Frage nach der Einheit der Tugend bzw. (nach der hier verwendeten Übersetzung von Bernd Manuwald) des Gut-Seins (aret ē). Konkret soll hier eine inhaltlich zentrale Stelle ausführlich kommentiert werden, nämlich Prot. 328d-330b. An dieser Stelle wird die Frage nach der Einheit des Gut-Seins erstmals explizit gestellt. Im Anschluss wird aufgezeigt, wie sich das Problem durch den ganzen restlichen Dialog zieht. Zuvor soll jedoch noch ein kurzer Abriss des Geschehens bis zu der kommentierten Stelle gegeben werden.
Sokrates sucht am Anfang mit seinem Begleiter Hippokrates den Sophisten Protagoras auf, da Hippokrates den Wunsch hat, bei ihm Schüler zu werden2. Auf die Frage des Sokrates, was er denn überhaupt lehre, werden von Protagoras einige Kompetenzen aufgezählt3, die sich unter dem Begriff der „politik ē techn ē“ (Prot. 319a) zusammenfassen lassen. Den Anstoß zur eigentlichen Diskussion gibt Sokrates, indem er die Meinung äußert, er wäre „nicht der Auffassung, Protagoras, dass das lehrbar sei.“ (ebd.). Interessanterweise geht Sokrates, als er einige Gründe für seine Ansicht nennt, von dem ursprünglichen Problem, der politik ē techn ē, weg, und verwendet stattdessen den viel umfassenderen Begriff „aret ē“ (Prot. 319e)4. Durch diese Ausweitung, die von Protagoras nicht kommentiert wird, werden die folgenden Themen, die sich vornehmlich um die aret ē drehen, vorweggenommen.
Protagoras löst das Problem der Lehrbarkeit seines eigentlichen Fachgebiets durch einen großen Monolog, der sich aus einem Mythos und einem Logos zusammensetzt. Entscheidend ist hier, dass sich auch Protagoras von dem Begriff der politikē technē weit entfernt. Er geht in seiner Argumentation auf einmal auf eine ganze Reihe an Tugenden ein, so etwa auf die „Fähigkeit, in Gemeinschaft zu leben“ (Prot. 322b)5, auf „Selbstbescheidung“ (Prot. 323a) und auf „gerechtes Verhalten“ (Prot. 323b). Angesichts dessen ist es verständlich, dass Bernd Manuwald feststellt, in Protagoras' Rede wäre „[d]er für den Argumentationsgang des Dialogs entscheidende Punkt […]: das Verständnis von Gut-Sein hinsichtlich seiner Einheit“ (Manuwald 2006, 91) schon implizit vorhanden. Das leitet unmittelbar über zu der im Folgenden kommentierten Stelle, wo das Problem von Sokrates „explizit“ (ebd.) gemacht wird.
Die betrachtete Stelle beginnt mit dem Ende der Rede von Protagoras. Platon stellt Sokrates dar, als sei er so „bezaubert“ (Prot. 328d) von der Rede des Protagoras, dass er zunächst keine Worte finde. Dieses übertriebene, komödiantische Mittel ist höchstwahrscheinlich „ironisch“ (Manuwald 2006, 113) zu verstehen, genauso wie Sokrates' kurz darauf geäußertes Zugeständnis, er wäre nach dieser Rede völlig von den Ansichten des Sophisten überzeugt6. Diese Idealisierung von Protagoras spielt von Anfang an eine Rolle7. Sie kontrastiert stark zum tatsächlichen Argumentationsverlauf, bei dem Protagoras gegen Sokrates eindeutig argumentativ unterliegt.
Dass die Reaktionen von Sokrates auf Protagoras' Rede für die kurz darauf folgende Frage nach der Einheit des Gut-Seins relevant sind, liegt daran, dass Sokrates' Frage, wie oben bereits erwähnt, direkt an implizite Prämissen der Rede anknüpft. Das wird dadurch unterstrichen, dass Sokrates zum völligen Verständnis der Rede noch „eine Kleinigkeit […] im Wege steht“ (Prot. 328e).
Bevor Sokrates den Inhalt seines Problems explizit macht, fügt er einen kurzen Exkurs ein, der sich um einen Mangel der meisten Redner dreht: Zwar könnten sie ähnlich lange Reden wie Protagoras halten, auf Fragen könnten sie jedoch nicht in angemessenen Umfang antworten, weswegen sie zum gegenseitigen Dialog – der von Sokrates bevorzugten Gesprächsform – unfähig seien. Sokrates zeigt sich jedoch überzeugt, dass Protagoras eben diese Fähigkeit aufweise8. Dass seine Erwartung im folgenden Dialogverlauf nicht erfüllt wird, zeigt wiederum, dass Sokrates' Lob nur ironisch zu verstehen ist.
Nun kommt Sokrates zur Erörterung der „Kleinigkeit“, die noch offen ist. Er bemerkt, dass Protagoras zwar von verschiedenen Tugenden gesprochen hat, aber zugleich erwähnte, dass diese Tugenden, wie „Gerechtigkeit, Selbstbescheidung, Frömmigkeit“ (Prot. 329c), zusammen das Gut-Sein bildeten. Natürlich liegt hier kein offensichtlicher Widerspruch in Protagoras' Ausführungen vor, und so ist Sokrates' „Kleinigkeit“ auch nicht zu verstehen. Vielmehr macht er lediglich darauf aufmerksam, dass Protagoras das Verhältnis zwischen dem Gut-Sein und den einzelnen Tugenden bisher nicht explizit behandelt hat. Eben das solle er nun nachholen.
Was nun folgt, ist als zentraler Teil der betrachteten Stelle anzusehen. Sokrates stellt nacheinander sechs Fragen9, die jeweils von Protagoras knapp beantwortet werden. Diese sechs Fragen werden nun besprochen.
[...]
1 vgl. Gagarin 1969, 133.
2 vgl. Prot. 310d f.
3 vgl. Prot. 318e f.
4 vgl. Manuwald 2006, 84; Havlíček 2003, 100.
5 Zur Ausweitung des Begriffs der politikē technē in Protagoras´ Rede vgl. Manuwald 2006, 94f.
- Arbeit zitieren
- Dennis Hogger (Autor:in), 2014, Die Einheit des Gut-Seins, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272143
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