Kindheit scheint sich in den letzten Jahren nachhaltig verändert zu haben. In vielen Medien und auch wissenschaftlichen Veröffentlichungen diverser pädagogischer, psychologischer und sportwissenschaftlicher Fachzeitschriften wird mit steter Regelmäßigkeit über Kinder im Vorschulalter berichtet, die unter mangelnder Körperbeherrschung, Herz-Kreislaufschwächen und Haltungsproblemen leiden, ja oft sogar nicht einmal mehr „richtig rückwärts laufen können“ (KRETSCHMER/GIEWALD 2001, S. 44). Auch die Zunahme von Verhaltensstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Wahrnehmungsstörungen und Bewegungsauffälligkeiten werden in diesem Zusammenhang angeführt. Ein weiteres Phänomen ist das vermehrte Auftreten von typischen Erwachsenenkrankheiten wie z.B. Diabetes, Übergewicht und Rückenleiden. Begründungen und Schuldzuweisungen sind meist schnell gefunden: Schadstoffe in der Umwelt und in Lebensmitteln nehmen stark zu, Eltern kümmern sich zu wenig um ihre Kinder, Erzieherinnen sind unqualifiziert oder überfordert, pädagogische Konzeptionen in Kindergärten und Schulen nicht mehr zeitgemäß, Spielflächen in Städten nehmen durch Bebauung immer mehr ab usw. Diese Liste ließe sich noch um ein Vielfaches ergänzen, ohne dass sich an der Situation der Kinder etwas ändern würde. Aber wie lässt sich Abhilfe schaffen? Und welche Folgen hat das für die aktuelle Pädagogik?
Für mich sind das sehr spannende Fragen, besonders, weil dieses Thema auch meine kleine Tochter zunehmend betrifft, da sie in Kürze ihren Weg durch die Sozialisationsinstanzen der Gesellschaft antreten wird. Und genau wie ich werden sich viele andere Menschen ebenso Gedanken machen, wie sie ihr Kind vor den o.g. Entwicklungsstörungen und -defiziten bewahren können. Aber der Reihe nach. Im Rahmen eines persönlichen Fachgespräches mit einer Hochschullehrerin im Fachbereich Sportwissenschaft wurden die Themen kindliche Entwicklungsförderung und Entwicklungsdefizite im Kleinkindalter angesprochen und in diesem Zusammenhang dann das Projekt „Bewegungskindergarten in Bremen“. Dies ist ein sehr junges und ehrgeiziges Vorhaben, welches in einigen anderen Bundesländern schon seit einiger Zeit in vergleichbarer Form läuft, in der Hansestadt aber erst Anfang diesen Jahres begonnen hat.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Darstellung der eigenen Motivation
1.2 Problemstellung
1.3 Vorgehensweise und Zielsetzung
2 Beschreibung einer sich verändernden Kindheit
2.1 Aspekte des Kindheitsbegriffs
2.2 Historische Entwicklung von Kindheit
2.3 Kindheit als gesellschaftliches Konstrukt
2.4 Zusammenfassung
2.5 Kindheit heute
2.5.1 Politische Aspekte
2.5.2 Wandel der Familienstrukturen
2.5.3 Eingeschränkte Bewegungswelt
2.5.3.1 Verhäuslichung
2.5.3.2 Verinselung
2.5.3.3 Durchstrukturierte Spielzeit
2.5.3.4 Einfluss von Medien
2.5.4 Veränderte Gesundheit
2.5.4.1 Psychische und motorische Auffälligkeiten
2.5.4.2 Körperliche Fitness und Gesundheit
2.5.4.3 Fitness und Unfallhäufigkeit
2.5.5 Folgen einer veränderten Kindheit
2.6 Zusammenfassung
3 Kindliche Bewegungsentwicklung
3.1 Bewegung und menschliche Entwicklung
3.1.1 Der Bewegungsbegriff im entwicklungspsychologischen Zusammen-
hang
3.1.2 Betrachtung des Bewegungsbegriffs nach LEONTJEW und
WEINBERG
3.2 Bedeutung von Bewegungserfahrungen für die kindliche Entwicklung
3.2.1 Bewegung und kognitive Entwicklung
3.2.2 Bewegung und Wahrnehmungsentwicklung
3.2.3 Bewegung und Entwicklung des Sozialverhaltens
3.2.4 Bewegung und Entwicklung der eigenen Identität
3.2.5 Bewegung und körperliche Entwicklung
3.2.6 Bewegung und Lernen
3.3 Bewegung als Instrument zum Lernen von Erfahrungen
3.4 Zusammenfassung
3.5 Folgerungen
4 Orte für eine kindgemäße Entwicklung – Bewegungskindergärten
4.1 Konsequenzen aus aktuellen Entwicklungen
4.2 Förderungsmöglichkeiten und Voraussetzungen
4.3 Bewegungskindergärten in Deutschland
4.3.1 Geschichte
4.3.2 Entwicklung
4.3.3 Anspruch
4.3.4 Pädagogisches Verständnis und Konzept
4.3.5 Menschenbild
4.3.6 Träger
4.3.7 Spiel- und Bewegungsräume
4.3.7.1 Gruppenräume
4.3.7.2 Bewegungs- und Mehrzweckraum
4.3.7.4 Eingangsbereich, Flure, Ecken und Winkel
4.3.8 Außengelände
4.3.9 Material und Geräteausstattung
4.3.10 Bewegungsangebote
4.3.11 Öffentlichkeitsarbeit
4.4 Bewegungskindergärten in Bremen
4.4.1 Träger und Kooperationen
4.4.2 Zertifizierung
4.4.3 Finanzierung
4.4.4 Elternarbeit
4.4.5 Personal
4.4.5.1 Qualifizierung
4.4.5.2 Fortbildung
4.5 Zusammenfassung und Folgerungen
5 Abschließende Betrachtung
6 Literaturverzeichnis
7 Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Darstellung der eigenen Motivation
Kindheit scheint sich in den letzten Jahren nachhaltig verändert zu haben. In vielen Medien und auch wissenschaftlichen Veröffentlichungen diverser pädagogischer, psychologischer und sportwissenschaftlicher Fachzeitschriften wird mit steter Regelmäßigkeit über Kinder im Vorschulalter berichtet, die unter mangelnder Körperbeherrschung, Herz-Kreislaufschwächen und Haltungsproblemen leiden, ja oft sogar nicht einmal mehr „richtig rückwärts laufen können“ (KRETSCHMER/ GIEWALD 2001, S. 44). Auch die Zunahme von Verhaltensstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Wahrnehmungsstörungen und Bewegungsauffälligkeiten werden in diesem Zusammenhang angeführt. Ein weiteres Phänomen ist das vermehrte Auftreten von typischen Erwachsenenkrankheiten wie z.B. Diabetes, Übergewicht und Rückenleiden.
Begründungen und Schuldzuweisungen sind meist schnell gefunden: Schadstoffe in der Umwelt und in Lebensmitteln nehmen stark zu, Eltern kümmern sich zu wenig um ihre Kinder, Erzieherinnen sind unqualifiziert oder überfordert, pädagogische Konzeptionen in Kindergärten und Schulen nicht mehr zeitgemäß, Spielflächen in Städten nehmen durch Bebauung immer mehr ab usw. Diese Liste ließe sich noch um ein Vielfaches ergänzen, ohne dass sich an der Situation der Kinder etwas ändern würde. Aber wie lässt sich Abhilfe schaffen? Und welche Folgen hat das für die aktuelle Pädagogik?
Für mich sind das sehr spannende Fragen, besonders, weil dieses Thema auch meine kleine Tochter zunehmend betrifft, da sie in Kürze ihren Weg durch die So- zialisationsinstanzen der Gesellschaft antreten wird. Und genau wie ich werden sich viele andere Menschen ebenso Gedanken machen, wie sie ihr Kind vor den o.g. Entwicklungsstörungen und -defiziten bewahren können.
Aber der Reihe nach. Im Rahmen eines persönlichen Fachgespräches mit einer Hochschullehrerin im Fachbereich Sportwissenschaft wurden die Themen kindliche Entwicklungsförderung und Entwicklungsdefizite im Kleinkindalter angesprochen und in diesem Zusammenhang dann das Projekt „Bewegungskindergarten in Bremen“. Dies ist ein sehr junges und ehrgeiziges Vorhaben, welches in einigen anderen Bundesländern schon seit einiger Zeit in vergleichbarer Form läuft, in der Hansestadt aber erst Anfang diesen Jahres begonnen hat.
Ziel dieses Projektes ist es, Kinder im Elementarbereich durch regelmäßige Be-wegungsförderung vor Entwicklungsstörungen und -defiziten zu bewahren bzw. sie da-gegen zu „immunisieren“ und ihre Entwicklung, schwerpunktmäßig mit kindgerechten Bewegungsangeboten, nachhaltig zu fördern.
Klingt doch wirklich gut. Bewegung vs. Krankheit. So einfach geht das? Jedenfalls soll Bewegung einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben. Mein Interesse war geweckt. Da gab es im Vorfeld diesbezüglich noch viele Unklarheiten genauer zu betrachten und einiges zu hinterfragen; so viel, dass ich beschloss, Bewegungskindergärten zum Thema meiner Examensarbeit zu machen und in diesem Zusammenhang die folgenden Problem- und Fragestellungen zu untersuchen.
1.2 Problemstellung
Kinder im Vorschulalter, besonders, wenn sie in urbanen Lebensräumen aufwachsen, leiden häufig an körperlichen oder kognitiven Defiziten, die in dieser Form anscheinend in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Die Fragestellung, der ich in dieser Arbeit nachgehen werde, ist, ob es tatsächlich eine Zunahme von kindlichen Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten gibt, oder ob es sich hier um eine populäre These handelt, der es möglicherweise an wissenschaftlicher Substanz mangelt.
Im Vordergrund stehen aber, und hier kommen die entsprechenden Theorien, Thesen und Untersuchungen zum Tragen, die notwendigen Entwicklungsbedingungen der Kinder, die geschaffen werden müssen, weil sie in urbanen Zusammenhängen heute nicht mehr von selbst gegeben sind.
Zu klären ist auch, was Kinder für eine gesunde Entwicklung in psychischer, physischer und sozialer Hinsicht wirklich brauchen. Als zentrales Element sehen ZIMMER (2002a und 2001) und ROLFF/ZIMMERMANN (1990) hierbei den Zugang zu einer kindgerechten Vielfalt von Bewegungsmöglichkeiten. Über Bewegung eignen sich Kinder nicht nur Fähigkeiten und Kenntnisse über sich selbst an; sie setzen sich auf diese Art und Weise auch mit ihrem sozialen und ökologischen Umfeld auseinander. Dies ist von nachhaltiger Bedeutung für ihre gesamte spätere Sozialisation und basiert auf den Theorien von PIAGET (1975, 1977, 1994) und LEONTJEW (1977, 1977a, 1985), dass soziale und psychische Entwicklungen zunächst primär über Bewegung initiiert werden.
Hierbei handelt es sich nicht nur um die erste Kommunikationsform des Menschen, sondern auch um den Ausgangspunkt für die Erschließung der Lebensumwelt und der Basis für die physische und psychische Entwicklung des Kindes. Durch den Verlust von Bewegungsräumen wird Kindern eine zentrale Grundlage ihrer Entwicklung genommen.
Es ist festzustellen, dass sich die kindliche Lebensumwelt, besonders in Städten, in hohem Tempo verändert: Öffentliche, frei zugängliche Räume bieten nur wenige, oft stark reglementierte Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten und sind häufig mit pädagogischem Aufsichtspersonal besetzt. Unbeaufsichtigte und frei gestaltbare Flächen wie Waldgrundstücke oder Bauruinen sind heute fast kaum noch zu finden. Statt dessen prägen zunehmend Computerspiele und Fernsehkonsum das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen – verbunden mit einer starken „Verhäuslichung“ des Freizeitverhaltens. Dies geschieht nach Ansicht von ZIMMER (2002a) in der Regel zu Lasten von aktiver körperlicher Freizeitgestaltung, einhergehend mit weitgehendem Verlust von körperlichen und sinnlichen Erfahrungen.
Ob Kinder dann auch mit den oben genannten Entwicklungsstörungen reagieren, oder auf eine noch zu erforschende Weise kompensieren, müsste geprüft werden, ist aber nicht Gegenstand dieser Arbeit.
Was aber kann nun gegen diese negativen Aspekte kindlichen Aufwachsens getan werden? Ein möglicher Ansatzpunkt, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, ist eine frühzeitige Förderung von Kindern, die Bewegung als übergeordnetes Prinzip der Pädagogik begreift. Der Kindergarten besitzt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung, da Kinder hier einen großen Teil ihrer verfügbaren Tageszeit verbringen. Trotzdem hat Bewegung bisher noch nicht den angemessenen Stellenwert in pädagogischen Konzeptionen und in der praktischen Arbeit der meisten Einrichtungen gefunden.
Als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen wurde von unterschiedlichen Trägern das Bremer Projekt „anerkannter Bewegungskindergarten“ gegründet. Hier soll die Entwicklung von Kindern nachhaltig durch Bewegungsangebote gefördert werden, die ihrem Alter entsprechend angepasst sind. Gleichzeitig ermöglicht eine entsprechende pädagogische Konzeption, dass besonders im Hinblick auf die Auswahl von vielfältigen Bewegungsangeboten, Freiräume für eigene Entscheidungen zur Verfügung stehen und Kinder ermuntert werden, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu erwerben.
Die oben benannte Problemstellung beinhaltet in diesem Zusammenhang folgende Fragestellungen, die ich in meiner Arbeit thematisch aufarbeiten werde:
- Was bedeutet Kindheit und in wie weit hat sie sich bis heute verändert?
- Was hat Bewegung mit kindlicher Entwicklung zu tun?
- Wie können Kinder gesund aufwachsen und welche Rahmenbedingungen benötigen sie dafür?
- Was sind Bewegungskindergärten genau und wie können sie eine ganzheitliche kindgerechte Entwicklung unterstützen?
Nach der Bearbeitung dieser Problem- und Fragestellungen werde ich in Anlehnung an mein Thema „Bewegungskindergärten - ein zeitgemäßes Konzept für ganzheitliche kindgemäße Entwicklungsförderung in urbanen Lebenswelten“, das Konzept und den theoretischen Hintergrund von Bewegungskindergärten vorstellen.
Durch eine differenzierte und Ausführliche Darstellung der Konzepte, werde ich die Bedingungen und Kriterien, an denen sich Bewegungskindergärten messen lassen, gemäß ihrer theoretischen Begründungen untersuchen. Am Schluss dieser Arbeit werden ich ausführen, ob Bewegungskindergärten tatsächlich in der Lage sein können, bessere Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen.
1.3 Vorgehensweise und Zielsetzung
Der oben ausgeführten Fragestellung liegt ein bestimmtes Verständnis von Kindheit und der kindlichen Entwicklung zugrunde. Darum werde ich im ersten Kapitel den Begriff „Kindheit“ ausführlich untersuchen. Ziel ist es, durch die Beschreibung der historischen Entwicklung von Kindheit einen Hintergrund für die Situation von heutigen Kindern zu liefern. Außerdem werde ich aufzeigen, welche Faktoren für die ganzheitliche kindliche Entwicklung von Bedeutung sind. Anschließend gebe ich einen Überblick über aktuelle Determinanten einer heutigen Kindheit. Außerdem werde ich herausarbeiten, welche besonderen Einflüsse für die Entwicklung ihrer Gesamtpersönlichkeit von Bedeutung sind.
Als Grundvoraussetzung für eine ausgewogene kindliche Entwicklung scheint „Bewegung“ von nachhaltiger Bedeutung zu sein. Aus diesem Grund folgt eine ausführliche Darstellung der Bedeutung von Bewegung für die menschliche Entwicklung.
Außerdem werde ich auch auf die besondere Korrelation von Bewegen und Lernen ausführlich eingehen. In diesem Zusammenhang führe ich die hierfür relevanten Folgerungen der entwicklungspsychologischen Theorien von PIAGET (1975,1977,1994) und LEONTJEW (1977,1985) aus und beziehe an anderer Stelle die Ergebnisse der modernen Kindheitsforschung in meine Ausarbeitungen ein.
Die besonderen Folgen von Bewegungsmangel bei Kindern sind Gegenstand des folgenden Kapitels. Anhand von aktuellen Untersuchungen und zur Verfügung stehender Literatur gehe ich der Fragestellung nach, ob mangelnde Bewegung kausal in Zusammenhang mit bestimmten kindlichen Entwicklungsdefiziten stehen kann und inwieweit sich dies durch relevantes Datenmaterial belegen lässt.
Dazu werde ich, nach einer kurzen geschichtlichen Beschreibung der Entwicklung von Bewegungskindergärten, Konzepte und Arbeitsweisen von Bewegungskindergärten darstellen und ausführen, welche Möglichkeiten und Chancen sie im Sinne einer ganzheitlichen und kindgemäßen Entwicklungsförderung in diesem Problemzusammenhang bieten.
Durch Vergleiche der theoretischen Herleitungen und Begründungen, auf die sich Bewegungskindergärten beziehen sowie den Ausbildungskonzeptionen und -Inhalten der dort tätigen „Bewegungsfachleute“ wie Erzieher/-innen etc. werde ich ausführen, ob und in welcher Form Bewegungskindergärten gemäß ihrer Konzepte und Arbeitsinhalte helfen können, Kindern eine ganzheitliche und kindgemäße Entwicklung zu ermöglichen bzw. Bewegungsdefizite gar nicht erst entstehen zu lassen.
Ob die Realität in Bewegungskindergärten meinen Arbeitsergebnissen standhält, kann jedoch nur durch eine diesbezüglich durchgeführte empirische Untersuchung überprüft werden, die aber nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Da sich in diesem Zusammenhang bereits konkretes abzeichnet, werde ich auf diesen Aspekt in Kapitel 4.5 „Zusammenfassung und Folgerungen“ noch einmal eingehen.
2 Beschreibung einer sich verändernden Kindheit
Um deutlich zu machen, was Kinder für eine kindgerechte Entwicklung brauchen, gehe ich in diesem Kapitel der Frage nach was „Kindheit“ eigentlich bedeutet und führe unterschiedliche Aspekte zu diesem Begriff auf. Anschließend werde ich die Entwicklung des Kindheitsbegriffs vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert anhand der wichtigsten Merkmale skizzieren, um im Anschluss daran zu beleuchten, was Kindheit heute ausmacht und welche Bedeutung ihr im gesellschaftlichen Kontext zugemessen wird.
2.1 Aspekte des Kindheitsbegriffs
Kindheit ist kein feststehender und eindeutig definierter Begriff. Es beschreibt vielmehr den biologischen Entwicklungszustand eines jungen Menschen im Verlauf seiner Ontogenese und wird sowohl hinsichtlich der Zeitdauer wie auch der Bedeutung sehr unterschiedlich bewertet. Sie steht jedoch immer in enger Korrelation mit ihrem gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext und einem bestimmten Bild von Kindern und Kindheit.
Aktuell wird Kindheit gemeinhin als Phase der Entwicklung, der gesellschaftlichen Reife und Bildung verstanden. Trotzdem ist sie in ihrer Bedeutung eher vage und bleibt dabei ein theoretisches Konstrukt, welches sich in seiner historischen Entwicklung immer in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext eingefügt hat und somit in seiner Bedeutung immer wieder starken Veränderungen unterworfen war. Entscheidend hierbei ist die Sichtweise von Erwachsenen auf Kinder und Kindheit. Um diesen Aspekt besser zu verstehen, folgt zunächst eine ausführliche Beschreibung des Kindheitsbegriffs im geschichtlichen Zusammenhang.
2.2 Historische Entwicklung von Kindheit
Das Verständnis von Kindheit hat sich in seiner Entwicklung im Lauf der Jahrhunderte immer wieder stark gewandelt. Noch im Mittelalter existierte ein ganz anderes Bild von Kindheit als heute; als Begriff oder Entwicklungsschritt existierte sie im heutigen Sinne gar nicht. Sie wurde eher als biologische Tatsache betrachtet, die es möglich rasch zu beenden galt. Kinder wurden als verkleinerte, unfertige Erwachsene gesehen, als defizitäre Wesen, die noch unvollständig waren. Kindheit hatte dabei den Stellenwert eines unerwünschten aber leider notwendigen Zwischenschritts in der Entwicklung zum Erwachsenen, den Kinder wie auch Erwachsene notgedrungen ertragen mussten und darum rasch beenden wollten (GRÖßING 1983, S.102).
Als gesellschaftliches Kunstprodukt, das in Europa erst im 16. und 17. Jahrhundert entstand, sieht ARIÈS (1988) den Begriff Kindheit. Vor diesem Zeitraum war die Lebenswelt der Kinder von der der Erwachsenen weder räumlich noch kulturell in nennenswerter Weise getrennt. Ohne eine besondere Art pädagogischer Betreuung oder Beeinflussung lernten Kinder alles, was sie zum Leben brauchten. Schon ab dem 7. Lebensjahr nahmen sie dann ihren Platz neben den Erwachsenen ein. Was sie an Wissen und Fertigkeiten benötigten, eigneten sie sich durch Nachmachen und Gewöhnung an. Bedeutung erlangte Kindheit erstmals, als ein gesellschaftliches Interesse an Erziehung entstand. Dieses entwickelte sich mit Beginn der Renaissance, denn erst in dieser Zeit wurde Kindheit zunehmend als spezielle Entwicklungsperiode gesehen.
ROLFF/ZIMMERMANN betrachten sie als Aspekt der beginnenden Auslagerung der „Produktionsarbeit“ aus dem Haus der Familie. Kinder wurden zunehmend als „lebensunfertig“ betrachtet, da ihnen zunehmend spezifische Fertigkeiten und Kenntnisse, wie Lesen und Schreiben, fehlten. Dafür benötigten sie einen besondere Zeitraum für ihre Entwicklung – die Kindheit (vgl. ROLFF/ZIMMERMANN 1990, S. 9-11 ff.).
In diesem Zusammenhang ist für ARIÈS (1988) die historische Entwicklung von Kindheit negativ besetzt. Er stellt das frühe (mittelalterliche) Aufwachsen in Lebensräumen, die für Erwachsene und Kind in gleicher Weise selbstverständlich waren, als angemessene Entwicklungsbedingungen dar, die im historischen Verlauf leider ersetzt wurden durch ein Leben in pädagogischen Ghettos (vgl. WILK/BACHER 1994 S. 2-4).
Eine andere Sichtweise vertritt DE MAUSE (1980). Er stellt Kindheit als evolutionäre Entwicklung dar, die im Verlauf von Generationen, eine immer enger werdende Verbindung von Erwachsenen und Kindern bewirkt hat, in deren Folge sich Eltern letztendlich erst verpflichtet sahen, sich in die Bedürfnisse ihres Kindes einzufühlen und diese auch zu erfüllen.
POSTMAN (1989) wiederum meint, dass mit dem Erfinden der Druckerpresse Kindheit erstmals eine eigenständige Bedeutung hatte. Sie wurde dadurch zu einem klar abgegrenztem Lebensabschnitt. Zur Erreichung dieses Abschnitts musste das spezielle Erwachsenenwissen durch langwieriges Erlernen von Lesen und Schreiben erworben werden.
Außerdem konstatiert er, dass es den Kindheitsbegriff erst seit rund vierhundert Jahren gibt und stellt ihn als gesellschaftliches Kunstprodukt dar, das keinesfalls mit einer biologischen Kategorie gleichgestellt werden kann, in seiner Bedeutung erst im 16. Jahrhundert entstanden ist und sich bis heute stetig weiter entwickelt (POSTMAN 1989).
Daran knüpft auch EILKIND (1991) an. Er sieht Kindheit durch unterschiedliche Arten von modernem Zivilisationsstress belastet und nennt in diesem Zusammenhang den Erwartungsdruck aus Schule, Eltern und auch den Medien, der Kinder zwingt, auf ständige Veränderungen sofort zu reagieren und Verantwortung, die sie noch nicht tragen können, zu übernehmen.
Es lässt sich feststellen, dass über das Verständnis und die Bedeutung von Kindheit recht unterschiedliche Betrachtungsweisen existieren, die sich ihrerseits immer wieder am jeweils gültigen gesellschaftlichen Bild von Kindern und Kindheit orientieren und stetigem Wandel unterworfen sind. Entscheidend dabei ist, dass das Verständnis von Kindheit, dass in einer Gesellschaft existiert, das Verhalten seiner Mitglieder gegenüber den Kindern bestimmt und somit auch deren Lebensweltbedingungen definiert.
2.3 Kindheit als gesellschaftliches Konstrukt
Während Kindheit in der Entwicklungspsychologie primär als vorgegebener Lebensabschnitt bezeichnet wird,[1] in dem sich das Kind nach allgemeingültigen, vorbestimmten Prozessen entwickelt, sind heute kulturelle Faktoren für die Definition von Kindheit von vorrangiger Bedeutung. POSTMAN konstatiert in diesem Zusammenhang: „Sie (die Kindheit, d. Verf.) besitzt eine biologische Grundlage, nimmt jedoch keine reale Gestalt an, solange es keine gesellschaftliche Umwelt gibt, die diese bestimmte Entwicklung auslöst und fördert(...)“ (POSTMAN 1984, S.162).
Kindheit entsteht nur, wenn eine Gesellschaft von ihren Kindern unnatürliche und hochkomplexe Fähigkeiten verlangt. Erst in diesem Zusammenhang bildet sich eine deutlich umrissene Form von Kindheit.
2.4 Zusammenfassung
Im vorigen Kapitel habe ich „Kindheit“ anhand von historischen, erkenntnis-psychologischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten bearbeitet, um einen Überblick über den Kindheitsbegriff zu geben. Damit wurde verdeutlicht, dass die Bedeutung von Kindheit durch die umgebende Gesellschaft definiert wird und stark abhängig ist vom Erwartungs- und Anforderungsprofil, welches die „Erwachsenenwelt“ an Kinder stellt. Ferner lässt sich feststellen, dass das Verständnis von Kindheit sich immer wieder deutlich gewandelt hat und von gesellschaftlichen Determinanten abhängig ist, die sich im historischen Kontext immer wieder ändern.
2.5 Kindheit heute
In diesem Teilkapitel folgt die Bearbeitung verschiedener Aspekte aktueller Kindheit. Besonders hervorheben werde ich in diesem Zusammenhang die Bedingungen der kindlichen Lebensumwelt, da sich die kindliche Entwicklung nach bewegungstheoretischem Verständnis immer in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt vollzieht. Dies wird aber erst Gegenstand in Kaptitel 3 sein.
Bevor ich auf die ökologischen und sozialen Bedingungen heutiger Kindheit eingehe, führe ich zuerst einige politische und gesellschaftlich-historische Aspekte aus, da sie für das Verständnis heutiger Kindheit wichtig sind. Anschließend werden aktuelle Parameter für Kindheit aufgezeigt, um die Rahmenbedingungen der Lebenssituation von Kindern zu geben und deutlich zu machen, wo heute Problemfelder für eine kindgemäße Entwicklung bestehen und an welchen Stellen Kindergartenpädagogik ansetzten muss.
2.5.1 Politische Aspekte
Bis in die frühen 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden Kinder überwiegend als unvollständige kleine Menschen unter dem Gesichtspunkt von Erwachsenen, die sie ja später selbst einmal sein würden, betrachtet; nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Dabei standen nicht die aktuellen Probleme des Kindes und sein Wohlbefinden im Vordergrund, sondern seine Zukunft als Erwachsener. Erst im Anschluss an diese Zeit waren Anzeichen für einen Paradigmenwechsel zu erkennen.
WILK/BACHER stellen in diesem Zusammenhang eine veränderte Sichtweise auf Kinder fest. Nicht mehr als „zu Entwickelnde“, sondern als „Seiende“ und vollwertige Gesellschaftsmitglieder würden Kinder jetzt in zunehmenden Maße betrachtet, wodurch Kindheit erstmals einen eigenständigen sozialen Status bekommt (WILK/BACHER 1994 S.11-12).
Dies findet auch seinen Niederschlag in der UN-Resolution 4425 vom 20.11.1989. So schreibt Artikel 3, Absatz (1) vor, dass „das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Das Recht zur freien Meinungsäußerung wird ihnen ebenso wie die Mitgestaltung in den sie betreffenden Angelegenheit zugestanden (vgl. WILK/BACHER 1994, S. 349).
Trotzdem gibt es bisher fast keine ausdrückliche Politik für Kinder. Standard ist allerdings das Ausschließen der Kinder von politischen Rechten. Nach wie vor gibt es keine spezifischen Ministerien für Kinder und kindliche Entwicklung. So werden sie in der Politik entweder als Ressource für die Zukunft gesehen oder als „soziales Phänomen“, welches das Leben der Erwachsenen entscheidend beeinflusst. Erst in jüngster Zeit werden Kinder auch als Mitglieder der Gesellschaft betrachtet, denen bestimmte Rechte zustehen (ebd. S. 355).
2.5.2 Wandel der Familienstrukturen
Die Familienstrukturen sind in den letzten Jahren einem stetigem Wandel unterworfen. Besonders steigende Scheidungszahlen, die veränderten Formen und Vorstellungen des Zusammenlebens von Erwachsenen untereinander und der gestiegene Anteil an alleinerziehenden Müttern und Vätern sind wichtige Indikatoren dafür (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT DEUTSCHLAND 2003).
Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig: Veränderte Ansprüche von Lebenspartnern aneinander, strukturelle Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, signifikanter Wertewandel in der Gesellschaft und die Auflösung traditioneller sozialer Milieus. Dies hat auch Folgen für die kindliche Entwicklung innerhalb der in der Gesellschaft noch immer stark vorherrschenden traditionellen Kernfamilie.
GÜNTHER (2000) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass diese klassische Familienstruktur, bestehend aus einem Ehepaar und mindestens einem Kind immer noch die häufigste Form des Zusammenlebens einer Erziehungsgemeinschaft darstellt. Zu beachten ist aber auch, das der Anteil von sogenannten Patchwork-Familien, also Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aus unterschiedlichen Ehen mit Erwachsenen in unehelichen Lebensgemeinschaften zusammenleben, zugenommen hat.
Verändert haben sich auch die Gründe, Kinder zu bekommen. Nicht mehr Versorgung im Alter oder die Weitergabe des Familiennamens sind hier von Bedeutung. Vielmehr ist eine Sinnerfüllung des eigenen Lebens die Hauptmotivation dafür. Auch die durchschnittliche Kinderanzahl innerhalb einer Familie verändert hat sich verändert und ist ihrer Tendenz rückläufig. Die Folge ist ein deutlicher Trend zur Ein-Kind-Familie. Für die Eltern kann sich daraus eine engere Beziehung zu ihren Kindern ergeben. Daraus resultiert häufig ein erhöhtes Maß an emotionaler Zuwendung und ein Bedürfnis nach intensiver Förderung der Kinder (ROLFF/ZIMMERMAN 1990).
Für die kindliche Entwicklung sieht BERTRAM (1996) dazu allerdings die Gefahr einer negativen Tendenz. Er formuliert dazu die These, dass Geschwisterlosigkeit zu deutlichen Veränderungen in der kindlichen Sozialisation führt. Als Folgen werden der Verlust von Solidarität mit anderen und eine egoistische Orientierung des Einzelkindes aufgeführt.
2.5.3 Eingeschränkte Bewegungswelt
Die Lebensumwelt von Kindern ist anscheinend von Einschränkungen und Gefahren geprägt. Starker Autoverkehr, die Bebauung von freien Grundstücken und ein damit einhergehender Verlust natürlicher Spiel- und Bewegungsräume sowie ein zunehmender Medienkonsum über Fernsehen und Computerspiele scheinen dafür verantwortlich zu sein, dass Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in der elterlichen Wohnung verbringen. Diese Aspekte werde ich darum im folgenden genauer betrachten. Im Anschluss daran setze ich mich mit den möglichen daraus resultierenden Folgen für die kindliche Lebensweltaneignung und Persönlichkeitsentwicklung auseinander.
2.5.3.1 Verhäuslichung
Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen, sind stark von Wandel des Lebensumfeldes betroffen. Zinnecker (1990) spricht in diesem Zusammenhang von einer Urbanisierung der Kindheit. In diesem Zusammenhang sieht er Kinder zunehmend von einer Verhäuslichung, also von einer Verlagerung des kindlichen Außenspielbereichs in die elterliche Wohnung, betroffen. Diesen Trend bestätigen auch KRETSCHMER/GIEWALD (2001), die im Rahmen ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis kamen, dass der beliebteste Spielort für Hamburger Kinder im Grundschulalter die elterliche Wohnung ist (ebd. S. 47).
Demnach ist also nicht nur eine Verdrängung von Kindern aus den öffentlichen Räumen Grund für die zunehmende Verhäuslichung, sondern auch eine veränderte Wahl des Spielortes durch die Kinder. Mögliche Gründe hierzu werden später noch im Kapitel 2.5.3.4 „Einfluss von Medien“ ausgeführt.
Beachtung verdient dazu noch der Aspekt, das Kinder aufgrund der Bebauung und Verdichtung in städtischen Räumen häufig nur die Möglichkeit haben, sich in die elterliche Wohnung zurückzuziehen oder sich auf für sie speziell geschaffene und oft über einen weiten Raum verteilte Lebenswelten wie Spielplätze, Sportstätten etc. zu begeben (vgl. BEINS/COX 2001 S. 23).
Dies bleibt nicht ohne Wirkung. Eine Folge ist, das die Wirkung des eigenen Handelns zunehmend durch Sekundärerfahrungen ersetzt wird. Statt selber etwas zu tun, werden Tasten gedrückt, die dann wiederum erst eine Reaktion oder ein Ereignis auslösen. Der eigene Körper als Mittel zum unmittelbaren Erfahrungslernen verliert an Bedeutung. Akustische und visuelle Wahrnehmung ersetzt Erkenntnisgewinnung durch fühlen, schmecken riechen und betasten (ZIMMER 1997, S. 21). Dies hat unmittelbare Folgen auf das kindliche Erfahrungslernen und beeinflusst den kindlichen Lern- und Entwicklungsprozess nachhaltig, denn eine selbsttätige Lebensweltaneignung wird somit maßgeblich erschwert.
Selbsttätigkeit wird aber als eine wesentliche Voraussetzung für eine kindgemäße Entwicklung betrachtet, da es sich über sein eigenes Tun mit sich selbst identifizieren kann. Dazu aber mehr in Kapitel 3.2.4. „Bewegung und Entwicklung der eigenen Identität“. Durch den Verlust von Bewegungserfahrungen werden die Möglichkeiten einer aktiven Umweltaneignung stark eingeschränkt, was die kindliche Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt. ZIMMER sieht hierin die Ursachen für Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung und Verhaltensauffälligkeiten begründet (vgl. ZIMMER 2002a, S.19).
2.5.3.2 Verinselung
Durch die zunehmende Mobilität von Kindern, bedingt durch das Vorhandensein von Autos, Bussen, Bahnen etc. und die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder zu fahren, ergibt sich die Möglichkeit viele, räumlich weit voneinander entfernte Lebensräume, in kurzer Zeit zu erreichen. Es stellt kein Problem mehr da, am Morgen beispielsweise den Kindergarten in einem Stadtteil zu besuchen, am frühen Nachmittag zum Sportverein zu gelangen, der möglicherweise sehr weit entfernt liegt und am frühen Abend Freunde aus dem Kindergarten zu besuchen, die in einem anderen Stadtteil leben. Diese verschieden „Inseln“ stellen für sich genommen häufig eine eigene Lebens-umwelt dar, die schwer mit den anderen Umwelten in Zusammenhang zu setzten ist. (ZEIHER 1994)
Dies verlangt vom Kind ein schnelles „Umschalten“ von einer Situation zur nächsten und erschwert ein langsames Eingewöhnen und Einstellen auf einen bestimmten Ort und seine besonderen Bedingungen.
2.5.3.3 Durchstrukturierte Spielzeit
Zeit wird für Kinder immer stärker zu einem knappen Gut, zu einer Ressource, mit der man haushalten muss. Zeit wird schematisiert und in vorgegebene, verpflichtende Einheiten einerseits und frei verfügbare andererseits eingeteilt. Die Erfahrung, dass Zeit kostbar ist und produktiv genutzt werden muss, wird zunehmend auch von ehrgeizigen Eltern vermittelt. Aus Furcht, ihre Kinder könnten sich nicht optimal entwickeln, beginnen sie früh mit Fördermaßnahmen.
Aber auch der Wunsch nach dem perfekten Kind ist oft der treibende Faktor. Kinder sollen frühzeitig auf eine Karriere in der Gesellschaft vorbereitet werden. Dazu werden sie schon als Kleinkinder z. B. am Klavier oder auf dem Tennisplatz ausgebildet oder müssen sich speziellen Programmen zur Intelligenzförderung unterwerfen (ROLFF/ZIMMERMANN 1990, S.29). So erleben Kinder schon früh den Einfluss von Zeitdruck auf ihr Leben. Gleichzeitig werden sie auf die Art von Zeitstruktur und Zeiterleben vorbereitet, die auch in der Erwachsenengesellschaft vorherrscht.
2.5.3.4 Einfluss von Medien
Die modernen Medien haben starke Auswirkungen auf das Raum- und Zeiterleben von Kindern und beeinflussen ihre sozialen Bezüge und ihr Verhalten. Fernsehen und Computerspiele nehmen mittlerweile den größten Zeitanteil am kindlichen Freizeitverhalten ein. Aktives Tun wie Lesen und Basteln ist stark in den Hintergrund getreten.
ROLFF/ZIMMMANN (1990) postulieren, dass Kinder sich durch das Fernsehen vermehrt im Haus aufhalten und damit zunehmend Zeit drinnen verbracht wird, die vorher für aktive Tätigkeit außerhalb des Hauses genutzt wurde (vgl. auch Kapitel 2.5.3.1 „Verhäuslichung“). GLOGAUER (1993) stellt im Rahmen einer Untersuchung fest, dass 75 % der sechs bis achtjährigen täglich fern sehen und dann meistens auch gleich mehrere Sendungen hintereinander schauen. Kretschmer/Giewald (2001) ergänzen, dass der durchschnittliche Fernsehkonsum bei den meisten Kindern bis zu zwei Stunden und länger beträgt (ebd. S. 50).
Die Nutzung elektronischer Medien an sich ist dabei nicht bedenklich. Allerdings ist der zunehmende Umfang der Nutzung und der damit verbundene Rückgang sinnlich-körperlicher Erfahrungen kritisch zu hinterfragen.
In diesem Zusammenhang besteht die Gefahr, dass Kinder ein Weltbild entwickeln, das nicht der Realität entspricht (GÜNTHER 2000).
Eine Gefährdung für Kinder sieht ZIMMER (1997) im übermäßigen Konsum von Medien. Sie betrachtet die Medienwelt als „Ersatzdrogen für vorenthaltene Primärerfahrungen(...), Drogen, die dazu verführen, gelebt zu werden, anstatt selber zu leben“ (ebd. 1997, S. 23).
Ebenso lässt sich anführen, dass übermäßiger Fernsehkonsum anscheinend mit starkem Übergewicht in engem Zusammenhang steht. So wird in der aktuellen WIAD-Studie (Wissenschaftliches Institut der Ärzte Deutschlands) eine enge Korrelation zwischen starkem Fernsehkonsum und motorisch schwachen Leistungen hergestellt (WIAD II 2003).
Eine Gegenposition nehmen Kretschmer/Giewald ein (vgl. zimmer/ hunger 2001a, S.55). Im Rahmen ihrer Untersuchung zur gegenwärtigen Lebens- und Bewegungswelt von 1672 Hamburger Grundschulkindern konnten sie keinen signifikanten Zusammenhang zwischen hohem Fernsehkonsum und schwachen motorischen Leistungen feststellen. Interessant wäre in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob diese sich ja deutlich von den anderen Untersuchungen unterscheidenden Ergebnisse eher auf eine Sonderstellung Hamburgs in Bezug auf die Lebensumwelt und Entwicklung von Kindern schließen lassen, ob die Auswahl der befragten Kinder im Hinblick auf Alter und Auswahl der Schulen Einfluss auf diese Ergebnisse hatten oder ob noch andere Faktoren hier eine Rolle spielten. Dies ist allerdings nicht Bestandteil dieser Arbeit und müsste an anderer Stelle überprüft werden.
2.5.4 Veränderte Gesundheit
Die Lebensumwelt und damit einhergehend die Entwicklung von Kindern, haben sich offensichtlich stark verändert. Ein weiterer, sehr bedeutsamer Aspekt in der kindlichen Entwicklung ist ihre Fitness und ihr Gesundheitszustand, denn mangelnde physische Konstitution im Kindesalter wirkt sich nachhaltig auf die weitere Entwicklung aus. Dies hat nicht nur häufig lebenslange negative Konsequenzen für die Gesundheit zur Folge, sondern beeinträchtigt auch das Sozialverhalten, das Lernvermögen und die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen (WIAD-STUDIE II 2003, S. 7).
Den hohen Stellenwert von Fitness und Gesundheit im Hinblick auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern werde ich noch an anderer Stelle in dieser Arbeit aufzeigen.
In diesem Kapitel geht es zunächst darum, einen Überblick über den aktuellen körperlichen Zustand von Kindern zu geben und die möglichen Folgen für die Entwicklung der Kinder, aber auch für ihre spätere Existenz als Erwachsene, herauszuarbeiten.
Da eine Grundannahme in dieser Arbeit ist, dass Entwicklung und Lernen im frühkindlichen Alter im wesentlichen über Bewegung funktionieren, worauf ich in Kapitel 3 „Kindliche Bewegungsentwicklung“ ausführlich eingehen werden, kommt den Faktoren Gesundheit und Fitness in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung als zentrale Grundlagen für die kindliche Entwicklung zu. Herrscht nun ein Mangel an diesen Voraussetzungen, so sind Kindertageseinrichtungen und besonders Bewegungskindergärten mögliche Einrichtungen, dieses zu kompensieren resp. Präventionsarbeit zu leisten, so dass es gar nicht erst zu gravierenden Defiziten kommt.
[...]
[1] Postmann nennt dies unter Berufung auf Piaget et al. in diesem Zusammenhang die „biologischen Imperativen“, welche die Entwicklung lenken und fasst Erkenntnisse von Freud, Erik und Piaget zusammen, wonach Kindheit ein festgelegter und vorgegebener Lebensabschnitt ist, innerhalb dessen die Entwicklung des Kindes sich an bestimmten Mustern orientiert (Postmann 1984, S.161 ff.).
- Citation du texte
- Ulf Becker (Auteur), 2003, Entwicklungsförderung durch Bewegungskindergärten. Möglichkeit zur Kompensation von Entwicklungsdefiziten von Kindern in urbanen Lebensräumen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27138
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