Masse, Markt und Alltäglichkeit sind Begriffe, die dem Konzept der amerikanischen Popular Art gerecht werden können. Roy Lichtenstein und Andy Warhol, als zwei ihrer prominentesten Vertreter, holten durch Provokation mit dem Trivialen die darstellende Kunst von ihrem Sockel der „Hohenkünste“ in die Welt des Alltags einer demokratisierten westlichen Welt. Ihr Kunstkonzept, bevor es als fetischisierte corporate identity den Markt eroberte, basierte auf der bewussten Provokation mit alltäglichen Inhalten oder auf der Veralltäglichung vormaliger gehobener Sinnzusammenhänge.
Eine inhaltliche Profanisierung der Malerei, die an die Stelle von Heiligen oder Herrschern den privaten Alltag durchschnittlicher Menschen stellt, bestimmt das Werk Lichtensteins. Portraits von Männern und Frauen, die in Sprechblasen einen kurzen Einblick in ihre privatistische Beziehungswelt geben, sind im als trivial geltenden Comic-Stil aufbereitet. Der Stil stellt die Antithese zur Werksästhetik bürgerlicher Kunst dar, verweist er doch auf die Anonymität unbekannter Zeichner und die technische Reproduzierbarkeit billiger Hefte. Als Beispiel für die Veralltäglichung gehobener Sinnzusammenhänge können die in knalligen Farben aufbereiteten Drucke Warhols gelten, die Mao Tse-tung in eine Reihe mit Marilyn Monroe stellen. Warhols und Lichtensteins Produktionen gelten gerade auch deshalb als Kunst, weil sie die High-Art radikal und plakativ in Frage stellten und diese mit den Mitteln der Low-Art bis in den Kitsch transszendierten. Natürlich wurden sie für ihre Entweihungen der hohen Kunst entlohnt: Die auf Grund ihrer trivialen Inhalte voraussetzungslose individuelle Zugänglichkeit machten sie zum künstlerischen Standartgut der modernen Weltgesellschaft und trieben die Preise ihrer Bilder und die Anzahl ihrer wie auch immer gearteten Reproduktionen in schwindelerregende Höhen. Ergibt sich der künstlerische Wert Warhols und Lichtensteins eher aus ihrem Platz innerhalb eines Diskurses der Kunst über ihre Grenzen, so ist ihr marktlicher Wert der Perfektionierung eines Prinzips zu verdanken, dessen Funktionsprinzipien bei Alexis de Tocqueville und Theodor W. Adorno grundsätzlich untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Masse, Markt, Alltäglichkeit
A. Kunst- und Kultursoziologie bei Alexis de Tocqueville und Theodor W. Adorno
I. Alexis de Tocqueville
1. Kontextualisierung von Tocquevilles Kultursoziologie in Über die Demokratie in Amerika
2. Die deduzierte Gleichheit: Zur Methodologie Tocquevilles
3. Tocquevilles Kunstsoziologie
1. die Architektur
2. das Handwerk
3. die schönen Künste
4. die Literatur
5. das Theater
II. Theodor W. Adorno
1. Ureigenstes und gesellschaftliches Ganzes: Die Methodologie Adornos
2. Kontextualisierung der Dialektik der Aufklärung . . .
1. Kernaussage
2. Struktur und Aufbau
3. Geschichtlicher Kontext
4. Die Ideologiekritik der Ideologiekritik
5. Die Wirkungsmacht der Dialektik der Aufklärung
3. Die Kontextualisierung der Kulturindustrie innerhalb der Dialektik der Aufklärung
4. Bestimmung des Kulturindustriebegriffs: Definition und Merkmale
5. Kunstbegriff Adornos
1. Ökonomische Vermittlung ästhetischer Phänomene
2. Versöhnung von Mensch und Natur
3. Funktionslosigkeit als Aufgabe der Kunst
4. Beschaffenheit der Kunst
5. Ästhetischer Schein
6. Gesellschaftskritik vs. Vergesellschaftung
7. Zusammenfassung
6. Theorie der Kulturindustrie
1. Charakteristika kulturindustrieller Produkte
2. Ideologien der Kulturindustrie
3. Schließungsmechanismen der Kulturindustrie
4. Innere und äußere Herrschaft der Kulturindustrie
5. Kulturindustrie als Bewusstseinsindustrie
6. Manipulation und rückwirkendes Bedürfnis
7. Folgen
B. Vergleich
I. Übereinstimmungen in der Sache
II. Zwei Perspektiven auf Kultur
1. Tocquevilles Blick auf demokratische Massenkultur
1. Gleichheit als Vorsehung: Tocquevilles geschichtsphilosophische
Prämisse
2. Ideologie aristokratischer Kultur und Politik: Tocquevilles persönliche Perspektive
3. Die demokratische höfische Gesellschaft: Demokratie und individuelles Bewusstsein
2. Adornos Blick auf Kulturindustrie
1. Die Masse als Träger sozialen Fortschritts
2. Scheitern der Masse als revolutionären Subjekt
3. Kunst als Widerstand gegen universelle Vermittlung
4. Entsubjektivierung und Manipulation durch Kulturindustrie
5. Die Reaktion auf den Verlust progressiver Dialektik: Negative Geschichtsphilosophie
6. Kritik 1: Zweiseitige Kausalzurechnung
7. Kritik 2: Pessimismus gegenüber den kommunikativen Formen der Rationalität
8. Die ästhetische Betrachtungsweise der Moderne
9. Adorno als Vertreter der bürgerlichen Werkskunst
10. Zusammenfassung
III. Die Integriertheit der demokratisch-„höfischen Gesellschaft“: Adaptive
Elemente von Tocquevilles Kunstdiagnose bei Adorno
C. Kritik (Fortsetzung) und Ausblick
I. Affirmative Zeitdiagnose: Die Bestätigung Adornos
II. Kritik 3: Die kulturkonservative Verengung Adornos
III. Kritik 4: Selbstkorrektur Adornos
1. Medienspezifische Vermittlungsformen
2. Betrug und Selbstbetrug: das doppeltes Bewusstsein der Rezipienten
3. Veränderung kulturindustrieller Inhalte
4. Erziehung der Rezipienten
IV. Kritik 5: Die Differenzierung des Rezipientenverhaltens in den Cultural Studies
V. Kritik 6: Kritik an der postmodernen Kritik
1. Täuschung und Wiederkehr des Verdrängten
2. Künstler in den Kontrollturm
Schluss
Literaturverzeichnis
Einleitung: Masse, Markt und Alltäglichkeit
Masse, Markt und Alltäglichkeit sind Begriffe, die dem Konzept der amerikanischen Popular Art gerecht werden können. Roy Lichtenstein und Andy Warhol, als zwei ihrer prominentesten Vertreter, holten durch Provokation mit dem Trivialen die darstellende Kunst von ihrem Sockel der „Hohenkünste“ in die Welt des Alltags einer demokratisierten westlichen Welt. Ihr Kunstkonzept, bevor es als fetischisierte corporate identity den Markt eroberte, basierte auf der bewussten Provokation mit alltäglichen Inhalten oder auf der Veralltäglichung vormaliger gehobener Sinnzusammenhänge.
Eine inhaltliche Profanisierung der Malerei, die an die Stelle von Heiligen oder Herrschern den privaten Alltag durchschnittlicher Menschen stellt, bestimmt das Werk Lichtensteins. Portraits von Männern und Frauen, die in Sprechblasen einen kurzen Einblick in ihre privatistische Beziehungswelt geben, sind im als trivial geltenden Comic-Stil aufbereitet. Der Stil stellt die Antithese zur Werksästhetik bürgerlicher Kunst dar, verweist er doch auf die Anonymität unbekannter Zeichner und die technische Reproduzierbarkeit billiger Hefte. Als Beispiel für die Veralltäglichung gehobener Sinnzusammenhänge können die in knalligen Farben aufbereiteten Drucke Warhols gelten, die Mao Tse-tung in eine Reihe mit Marilyn Monroe stellen. Warhols und Lichtensteins Produktionen gelten gerade auch deshalb als Kunst, weil sie die High-Art radikal und plakativ in Frage stellten und diese mit den Mitteln der Low-Art bis in den Kitsch transszendierten. Natürlich wurden sie für ihre Entweihungen der hohen Kunst entlohnt: Die auf Grund ihrer trivialen Inhalte voraussetzungslose individuelle Zugänglichkeit machten sie zum künstlerischen Standartgut der modernen Weltgesellschaft und trieben die Preise ihrer Bilder und die Anzahl ihrer wie auch immer gearteten Reproduktionen in schwindelerregende Höhen. Ergibt sich der künstlerische Wert Warhols und Lichtensteins eher aus ihrem Platz innerhalb eines Diskurses der Kunst über ihre Grenzen, so ist ihr marktlicher Wert der Perfektionierung eines Prinzips zu verdanken, dessen Funktionsprinzipien bei Alexis de Tocqueville und Theodor W. Adorno grundsätzlich untersucht werden.
Auf den Alltag ihrer Rezipienten bezogene Selbstbezüglichkeit macht bei Tocqueville neben der marktlichen Vermittlung von Kunst, der damit verbundenen Publikumsorientierung und dem Wert der Unterhaltung, die Merkmale demokratischer Kunst aus. Im zweiten Band von Über die Demokratie in Amerika untersucht Tocqueville Bedingungen und Beschaffenheit der Kunst in demokratischen Gesellschaften. Vor dem Hintergrund (s)einer aristokratischen Kunst diagnostiziert und prognostiziert er die Veränderungen der Kunst unter den Bedingungen der sozialen Gleichheit.
Auch Adorno spricht im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung von der „Entkunstung der Kunst“ im Sinne ihrer Veralltäglichung. Die Verfransung von Kunst durch deren Vermischung von hoch- und alltagskulturellen Elementen erscheint ihm als fundamentale Bedrohung bürgerlicher Werksästhetik und hat den Verlust der Autonomie des Kunstwerks und damit den Verlust dessen gesellschaftstransszendierenden Gehalts zur Folge. Ihr falsches Ende findet die autonome Werksästhetik in der Kulturindustrie.
Analog zu Tocqueville bedingt bei Adorno die Marktvermittlung von Kunst die wesentlichen Merkmale von kulturindustriellen Produkten. Und ebenfalls analog zu Tocqueville sind die Publikumsorientierung der Kulturindustrie, ihr Unterhaltungscharakter, ihre soziale Indifferenz und ihr voraussetzungsloser Zugang charakteristisch für diese. Andererseits ist die Theorie der Kulturindustrie Adornos, als Modus der Vergesellschaftung zu Zeiten einer regressiven Vernunft, dem Aufkommen der Massenmedien einerseits und dem theoretischen Zusammenhang kulturkritischer Psychologie und Marxistischer Gesellschaftstheorie andererseits geschuldet.
Den hier geschilderten Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Kunstsoziologien Alexis de Tocquevilles und Theodor W. Adornos soll in dieser Arbeit komparatistisch nachgegangen werden. Auf Grund einer weitgehenden Übereinstimmung empirischer Merkmale demokratischer Kunst bei Tocqueville und kulturindustrieller Produkte bei Adorno, bei gleichzeitiger fundamentaler Unterschiedlichkeit in der theoretischen wie weltanschaulichen Vermittlung dieser Merkmale durch beide Autoren, soll hier die These vertreten werden, dass sich Adorno in Form einer „integrativen Adaption“ der empirischen Befunde Tocquevilles bedient hat, freilich nicht ohne sie in den Gesamtzusammenhang seiner Theorie zu stellen. Die der „Tyrannei der Mehrheit“ bei Tocqueville geschuldete soziokulturelle Vergesellschaftung individuellen Denkens einer demokratisch-„höfischen Gesellschaft“ geht mit der wirtschaftlich bedingten Vergesellschaftung durch Kulturindustrie in der Hemmung des Gedankens (Selbstzensur) konform. Die Denkfigur vorauseilenden Gehorsams gesellschaftsbedingter Selbstzensur stellt das Bindeglied zwischen beiden Kunstdiagnosen und die Integrationsmöglichkeit Tocquevilles durch Adorno dar.
Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich die kultursoziologischen Analysen Tocquevilles und Adornos vorstellen, die aus dem Kontext ihrer Zeit und dem methodologischen wie inhaltlichen Zusammenhang ihres jeweiligen Gesamtwerkes betrachtet werden müssen, schon um hermeneutische Probleme zu umgehen und um einen informierten Umgang mit beiden Kultursoziologien zu gewährleisten. Besonderes Gewicht erhält dabei aus Gründen der Operationalisierung eine Trennung von Adornos empirischen kulturindustriellen Befunden einerseits und seiner Theorie der Kulturindustrie andererseits.
Der zweite vergleichende Teil der Arbeit wird mit der Darstellung gemeinsamer empirischer Befunde der beiden Autoren in Bezug auf die Kunst in einer sozial nivellierten Gesellschaft eingeleitet. Dieser Vergleich empirischer Identitäten in der Sache wird durch die Gegenüberstellung ihrer jeweiligen Betrachtungsperspektive von Kunst erweitert, und somit werden die empirischen Befunde in den Kontext ihrer jeweiligen Gesamtanalyse gestellt. Neben der individuell-autorenbezogenen Perspektivität und den geschichtsphilosophischen Prämissen der Verfasser stelle ich den Begriff der „Masse“ (Adorno) bzw. „Mehrheit“ (Tocqueville) in den Mittelpunkt des Perspektivenvergleichs, da er den Hauptbezugspunkt der beiden Autoren bei ihrer jeweiligen Betrachtung einer sozial nivellierten Kunst darstellt.
Der dritte und abschließende Teil dieser Arbeit ist der Kritik des problematischen Adornoschen Kunstverständnisses gewidmet. Ausgehend von der Hinterfragung der verfallstheoretischen Prämissen der Dialektik der Aufklärung werde ich die dichotomisierende Gegenüberstellung von den Apokalyptikern und Kunstverständigen (einer informierten kritischen Theorie) einerseits und den Integrierten der betrogenen Massen andererseits durch die Differenzierungen des Rezipienten in den Cultural Studies, aber auch durch Adornos selbstkritische Einführung eines „doppelten Bewusstseins“, darstellen. Dass die postmoderne Medientheorie einer sozial differenzierten Gesellschaft nicht gerecht wird, soll abschließend am Beispiel von Norbert Bolz gezeigt werden.
Als Primärliteratur dieser Arbeit dienten im wesentlichen Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ und Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“, sowie speziell in Bezug auf Kulturindustrie Adornos „Resumé über Kulturindustrie“. Ergänzend wurde zur Darstellung von Adornos Kulturindustriethese sowie seines Kunstbegriffs Michael Kauschs Überblicksbuch zur Medientheorie der Kritischen Theorie „Kulturindustrie und Populärkultur“ verwendet. Bezüglich Adornos Methodologie beziehe ich mich auf Wolfgangs Bonß Artikel „Empirie und Dechiffrierung von Wirklichkeit“. Die Kritik der „Dialektik der Aufklärung“ ist in weiten Teilen Jürgen Habermas` Artikel „Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung“ in seinem Vorlesungsband „Der philosophische Diskurs der Moderne“ geschuldet. Der Massenbegriff der kritischen Theorie wurde mir durch Alex Demirovics Artikel „Kritische Theorie bürgerlicher Herrschaft und die Widersprüchlichkeit der Massen“ sowie Herfried Münklers Artikel „Vom Verlust des revolutionären Subjekts – Die politische Dimension moderner und postmoderner Ästhetiken“ vermittelt. Meine soziokulturelle Darstellung von Tocquevilles „Tyrannei der Mehrheit“ stütz sich auf die Argumentation in Morton Horwitz Artikel „Tocqueville and the Tyranny of the Majority“. Darüber hinaus wurde mir eine generelle Heranführung an die Kritische Theorie durch die rezipierende Teilnahme an der Adorno-Konferenz am Institut für Sozialforschung in Frankfurt Ende September 2003 sowie an Claus Offes Adorno-Vorlesungen am selben Ort im November des letzten Jahres ermöglicht.
A. Kunst- und Kultursoziologie bei Alexis de Tocqueville und Theodor W. Adorno
I. Alexis de Tocqueville
1. Kontextualisierung von Tocquevilles Kultursoziologie in Über die Demokratie in Amerika
Als Grundlagentext dieser Untersuchung dient in Bezug auf Alexis de Tocquevilles Analyse soziokultureller Erscheinungen der Demokratie dessen zweibändiges Werk „Über die Demokratie in Amerika“, dessen erster Band 1835 und der zweite 1840 erschienen ist. Dem Verfassen des Buches ging 1830/31 eine elfmonatige Amerikareise Tocquevilles gemeinsam mit seinem Freund Gustave de Beaumont voraus. Speziell im ersten Kapitel des zweiten Bandes beschäftigt er sich mit den zivilgesellschaftlichen Auswirkungen des neuen demokratischen Gesellschaftssystems[1] in den USA. Die soziokulturellen Untersuchungen der neuen Gesellschaftsform Demokratie beziehen sich darin auf deren „geistiges Leben“ - speziell auf die drei hochkulturellen Bereiche der Religion, der Wissenschaft und der Kunst. Analyse und Prognose demokratischer Hochkultur stellen etwa zehn Prozent des Gesamtwerkes dar, wovon sich ein Drittel auf die Analyse der Architektur, Malerei, Plastik, die Literatur und das Theater bezieht, die für diese Arbeit – in Bezug auf Adornos Kulturindustriebegriff – ausschlaggebenden Bereiche.
Die generelle Frage, die beide Bände der Demokratie durchzieht, ist die nach der Möglichkeit einer gleichen Freiheit in den für Tocqueville unabwendbar heraufziehenden demokratischen Gesellschaften. Es geht Tocqueville um die normativ motivierte Frage – die jedoch einer großenteils nüchternen Analyse jedoch nicht im Wege steht –, im veränderten Gesellschaftssystem "aus dem Schoß der demokratischen Gesellschaft, in der Gott uns leben heißt, die Freiheit hervorgehen zu lassen" (Tocqueville in White 1991: 272). Sein Ziel ist es, mit der Demokratie in Amerika …
… „den Blick [des Lesers; Anm. D.S. ] auf eine unwiderstehliche Zukunft hin auszurichten. So dass auf der einen Seite der Drang, auf der anderen der Widerstand weniger gewaltsam wäre und die Gesellschaft friedlich zur Erfüllung ihres Geschickes voranschreiten kann. Das ist die das Buch beherrschende Idee – eine Idee, die alle anderen bereits enthält“ (ebd.: 271).
Um die Möglichkeiten einer gleichen Freiheit auszuloten, beginnt Tocqueville im ersten Band seines Amerikawerkes mit einer Beschreibung der äußeren geographischen Umstände der Vereinigten Staaten, der dann die der Institutionen und Gesetze der neuen demokratischen Gesellschaftsform folgt.
Im zweiten Band steht die Analyse der Auswirkungen der demokratischen Gesellschaftsform auf die moers, d.h. auf individuelle Handlungsmotivationen, subjektive Reflexe, Gefühle, Gewohnheiten und Erwartungen der Bürger der demokratischen Zivilgesellschaft im Mittelpunkt. Im ersten Teil des zweiten Bands wird dabei die Hochkultur untersucht. Es folgen Alltagskultur und eine Soziologie zwischenmenschlichen Verhaltens in der demokratischen Gesellschaft (zweiter und dritter Teil). Alle drei Bereiche werden unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Rückwirkung, nämlich des zivilen Alltagsverhaltens auf die politische Gesellschaft, analysiert. Der vierte Teil des zweiten Bands hat synthetischen Charakter. Hier fasst Tocqueville retrospektiv Gefahren und Chancen einer demokratischen Gesellschaftsordnung mit speziellem Blick auf die Transformationsgesellschaften Europas zusammen. Im Vordergrund steht das theoretische Ausloten der Möglichkeit einer gleichen Freiheit in den neu entstehenden demokratischen Gesellschaften.
An Stelle der in großen Teilen des ersten Bandes der Demokratie noch nüchternen Beschreibung der amerikanischen Institutionen tritt im weiteren Verlauf des Werkes – insbesondere im letzten Teil des zweiten Bandes, aber auch schon in geballter Form gegen Ende des ersten Bandes – eine immer problematisierendere Einschätzung der Möglichkeit einer gleichen Freiheit demokratischer Gesellschaften, besonders wenn sich Tocquevilles Blick weg von Amerika auf die Übergangsgesellschaften Europas wendet. Hierin mag auch – vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Frankreichs Tocquevilles – ein Motivationsgrund für das Verfassen des zweiten Bandes als zivilgesellschaftliche Tiefenanalyse liegen.
Ein informierter Umgang mit den Denk- und Vorgehensweisen, die Tocqueville bei der Untersuchung der soziokulturellen Verfasstheit zukünftiger demokratischer Gesellschaftsformen anwandte, erfordert eine vorangestellte Betrachtung seiner Methodologie.
2. Die deduzierte Gleichheit: Zur Methodologie Tocquevilles
Tocquevilles "zentraler Gegenstand sei das Ideal der Freiheit, das die europäische Kultur von Anbeginn geprägt habe und zu dem die Aristokratie und die Demokratie, jede auf ihre Weise, das Ihre beigetragen hätten" zitiert Hayden White Alexis de Tocqueville (1991: 274). Und weiter über dessen Selbstverständnis als Politologe, Soziologe und Historiker: Seine Aufgabe "ist es, an der Herstellung dieses neuen Gesellschaftssystems mitzuwirken, indem er zeigt, inwiefern die Prinzipien von Aristokratie und Demokratie Funktionen des einzigen beständigen Antriebs der europäischen Zivilisation sind: ihres Freiheitsdrangs, der die westliche Kultur seit den Anfängen erfüllt“ (ebd.). Dieser Freiheitsdrang ist durch sein ureigenstes Resultat, die soziale Gleichheit, bedroht. Die Chancen der Bewahrung seines individuellen und verantwortungsgeprägten Freiheitsideals in demokratischen Gesellschaften gilt es für Tocqueville methodisch auszuloten.
Dazu erfasst er auf einer ersten Ebene der Beschreibung den amerikanischen demokratisch-institutionellen wie -kulturellen Ist-Zustand. Im Verlauf seines Werkes, besonders in dem für diese Arbeit relevanten zweiten Band, verdichtet sich diese Beschreibung seiner amerikanischen Erfahrungen immer mehr zu einer Prognose über die Zukunft der gleichen Freiheit, die auf den idealtypischen Strukturtypus Demokratie gerichtet ist, der dem der Aristokratie gegenübergestellt wird. Die konkreten Reiseerfahrungen erhalten hier den Rang von Illustrationen. Sie betragen im zweiten Band nur mehr 20 Prozent, in dessen letzten Teil lediglich noch zwei (vgl. Jardin 1991: 225f.).
Grundlage des prognostischen Vorgehens Tocquevilles sind seine politischen und soziologischen Analysen demokratischer Gesellschaften, die zu Idealtypen verdichtet werden. Diese demokratischen Idealtypen werden dann, vor der Kontrastierung durch ihren aristokratischen Widerpart, in eine experimentelle Anordnung über die Möglichkeiten der gleichen Freiheit in Form von der Gegenüberstellung gesellschaftlicher Pathologien und deren Gegenmitteln gebracht, da sein Interesse der Zukunft Frankreichs gilt. Tocqueville bedient sich auf dieser prognostischen Ebene des Freiheitsexperiments des dialektischen Mittels der Ambivalenz.
"Er sucht einen Weg, die Möglichkeit einer Synthese [aristokratischer wie demokratischer, Anm. D.S. ] antithetischer Elemente in der Geschichte zu begründen. Doch die von ihm gewählte Beschreibungsmethode schließt jede Möglichkeit der Synthese aus. Er schlägt ein typologisches Verfahren vor, konstruiert jedoch eine reduktionistische Typologie. Daher rückt die Möglichkeit einer Synthese gegensätzlicher Elemente in um so weitere Ferne, je vollständiger seine Entscheidungen ausfallen" (White 1991: 271).
Idealtypische Dialektik ohne die Möglichkeit einer Aufhebung in der Synthese bedingt ein Maximum an inhaltlicher Ambivalenz. White nennt diese undogmatische, erstmal mechanische Vorgehensweise „schöpferische Aufhebung von festgeschriebenen Benennungen zu Gunsten moralischer Zweideutigkeit“ (299). Ihre prognostische Qualität erlangt sie auf Grund von historischen Generalisierungen auf der Basis von Strukturen und Kontinuitäten. Tocquevilles Analyse geht „über die Vergangenheit hinaus zu einer theoretischen Analyse der Kräfte, die aus Einzelereignissen Momente eines allgemeinen Geschehens machen. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf allgemeine Prinzipien, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden“ (297f.). Innerhalb des von ihm angenommenen Rahmens der Unausweichlichkeit der sozialen Gleichheit in Europa (Vorsehung), dient diese dialektische Methode dem Ziel nach, die Chancen der gleichen Freiheit zu beurteilen.
Auf einer analytischen Ebene gelangt Tocqueville zu den theoretisch hergestellten Beurteilungsgrundlagen seiner Prognosen. „Die geschichtsphilosophische Prämisse, von der er ausgeht, wirkt sich immer wieder auf seine empirische Demokratieanalyse aus, die er auf Grund der in Frankreich und im Ausland gewonnenen Erkenntnisse anstellt“, schreibt Dorrit Freund. „So wird auch die Frage nach der individualistisch-anarchistischen oder kollektivistisch-despotischen Entwicklung der Demokratie vom Philosophischen her gestellt" (1974: 459). Der Zentrale Begriff seines Demokratieverständnisses ist der der Gleichheit. Vor dem Hintergrund der geschichtsphilosophischen Prämisse des unaufhaltsamen Voranschreitens der Gleichheit stellt sie für ihn das wesentlichste demokratische Strukturmerkmal dar. Der Deduktion der Gleichheit auf politische wie zivile gesellschaftliche Phänomene verdankt Tocqueville einen Großteil seiner Diagnosen wie Prognosen. Auf diese Weise untersucht Tocqueville die Demokratie auf Grund der ihr eigenen Wirkungsprinzipien, er wendet die Demokratie auf sich selbst an.
Sowohl seine makro- wie auch seine mikrosoziologischen Schlüsse basieren auf diesem deduktiven Muster. So erscheint die Zentralisierung als Funktion der Gleichheit. In den europäischen Transformationsgesellschaften wird diese einerseits als unintendierte Nebenfolge individuellen Handelns dargestellt. Sie konstituiert sich durch auf die Gleichheit fixierte individuelle Handlungsorientierungen, die die Abschaffung aristokratischer intermediärer Gewalten bedingen, ohne jedoch einen die Zentralisierung mindernden Ersatz zu schaffen. Darüber hinaus induziert Gleichheit den Wunsch nach mehr Gleichheit, weil mit ihrem Fortschreiten die Sensibilisierung für soziale Ungleichheit steigt. Auch wirtschaftliches Wohlstandsstreben auf der Grundlagen einer kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft ist die Funktion einer sozial nivellierten Gesellschaft, die an die Stelle aristokratischer Vorrechte eine soziale Differenzierung auf der Basis materiellen Wohlstands gesetzt hat.
Ebenso verfährt Tocqueville in seiner Analyse hoch- und alltagskultureller Phänomene der demokratischen Gesellschaft. Da er Gesellschaft als Totalität begreift, finden sich die Makro-Strukturen der Gesellschaftssysteme Aristokratie und Demokratie formenkorrespondentisch in den Mikrostrukturen der Individualebene wieder. Als Beispiel hierfür kann die veränderte Rolle des Vaters in der Familie dienen, die sich aus einer Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen ergibt. Mit der Auflösung der patriarchalischen Herrschaftsform der Aristokratie wandelt sich der Herr und Amtsträger der aristokratischen Zeit zum privaten Vertrauten und Verbündeten seiner Kinder in der Demokratie. Innerhalb der Familie tritt das Recht des Erstgeborenen in den Hintergrund zurück, die Hierarchisierung der übrigen Geschwister nach Alter und Geschlecht verliert an Bedeutung. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.[2]
Zusammenfassend bildet Tocqueville im zweiten Teil der Demokratie auf unterschiedlichen Ebenen horizontaler und vertikaler gesellschaftlicher Differenzierung demokratische Idealtypi, die er aristokratischen gegenüberstellt. Diese Idealtypi setzen sich aus gesellschaftlichen Einzelphänomenen zusammen, deren Beschaffenheit er aus dem wesentlichen Strukturprinzip der Demokratie – der sozialen Gleichheit – und deren Funktionen deduziert. Dieses analytische Verfahren führt ihn, in Ergänzung mit empirischen Verifizierungen unterschiedlicher Qualität aus den unterschiedlichen Gesellschaftsformationen Frankreichs und Amerikas, zu den demokratischen Strukturmerkmalen zweiter Ordnung: Zentralisierung und Erwerbsstreben; und deren Gegengiften: assoziatives politisches Handeln und religiöse Moral.
Idealtypische Sammelbegriffe und analytisch generierte Einzelphänomene bilden somit die Grundlage für Tocquevilles Diagnosen der Gefahren und den Chancen der Etablierung der gleichen Freiheit in der Demokratie. Dialektisch stellt er, in der Denkfigur der doppelten Negation, den Übeln der Gleichheit ihre Heilmittel gegenüber. Zur Bewahrung der gleichen Freiheit entkräftet er Gegenargumente zur Schaffung einer individuellen Freiheit.
Auch Tocquevilles Kunstsoziologie demokratischer Gesellschaften ist Kunstanalyse und -prognose zugleich. Die Beschaffenheit demokratischer Kunst wird von Tocqueville deduktiv als Funktion der Gleichheit bestimmt. Methodisch selbstexplikativ und exemplarisch schreibt Tocqueville über die Literatur einer klassenlosen Gesellschaft:
„Ich übertriebe meinen Gedanken, wenn ich sagte, dass die Literatur eines Volkes immer dessen Gesellschaftsform und dessen politischer Verfassung untergeordnet ist. Unabhängig von diesen Ursachen gibt es, wie ich weiß, etliche andere, die den literarischen Werken gewisse Merkmale aufprägen; jene aber schienen mir die wesentlichsten zu sein“ (DA II: 90).
Hier dient die Relativierung der gesellschaftlichen Bedingtheit der Literatur jedoch deren Emphase. Bei seinem idealtypischen Entwurf einer demokratischen Literatur, der über die speziell puritanisch und angelsächsisch geprägte amerikanische Literatur hinausgeht, leitet er in der Tat den Zustand demokratischer wie aristokratischer Literatur ausnahmslos aus der jeweils dominanten politischen und gesellschaftlichen Verfassung ab.
Auf der Ebene der Kultur …
… „geschieht etwas ähnliches wie in der politischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten; die Werke sind oft unvollkommen, aber sie sind zahllos [...] Es ist also nicht richtig zu sagen, im demokratischen Zeitalter seien die Menschen von Natur gegen Wissenschaft, Literatur und Kunst gleichgültig; man muss bloß zugeben, dass sie diese in der ihnen eigenen Weise pflegen und dass sie von daher die Vorzüge und die Fehler mitbringen, die ihnen eigen sind“ (DA II: 61).
Demokratische Hochkultur will im Vergleich zur aristokratischen erstmal nur unterschieden, nicht bewertet sein, jedoch steht für Tocqueville ad hoc eine Verschiebung von Qualität zur Quantität in Bezug auf die Produktion kultureller Güter schon aus deduktiven Gründen fest. Tocquevilles Kunstdiagnose der Demokratie soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.
3. Tocquevilles Kunstdiagnose
Tocquevilles Bestimmung der Hochkultur der demokratischen Gesellschaft umfasst die Bereiche der Philosophie, Religion und Kunst. Diese Auswahl entspricht der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen 1832 entstandenen Vorlesungen über die Ästhetik vorgenommenen Kategorie des „absoluten Geistes“. Als absoluten Geist begreift Hegel „diejenigen kulturellen Gestalten, in denen sich Kultur selbst thematisiert. In der Kunst wird sich der Geist selbst anschaulich, in der Religion stellt er sich selbst vor, in der Philosophie begreift er sich“ (Encarta 2003: Stichwort „Ästhetik“, Punkt 2.3.6). Im dritten Teil seiner Ästhetik legt Hegel „Das System der einzelnen Künste“ dar und er bezieht sich dabei auf die postantiken romantischen Kunstformen Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Poesie und Dichtkunst (vgl. Hegel 1993). Tocqueville folgt diesem Schema weitgehend. Seine Soziologie der Kunst beginnt mit der Architektur und arbeitet sich über das Handwerk, die „schönen Künste“ und die Literatur bis zum Theater vor.
3.1 Architektur
Plastischen Eindruck macht Tocquevilles Schilderung der vermeintlichen Marmorpaläste vor New York, die sich bei genauerem Hinsehen als Backsteinhäuser mit Säulen aus bemaltem Holz entpuppen (DA II: 78f). Der äußere Eindruck erzeugt einen vorgestellten Schein, der bei genauerem hinsehen der Wirklichkeit nicht standhält. Die vorgestellte Materialität der Fassade entspricht nicht der realen. Die damit verfolgte Abwehr der Uniformität durch die ahistorische Verfügbarkeit von Stilen widerspricht der Erwartung, dass „eine Gesellschaft, die ein Idolatrie der Gleichheit betreibt, in Uniformität erstarren müsste“ (Dolif 2003: 6). Im Gegenteil: Sie hat einen grenzenlosen Bedarf an Verschiedenheit, …
… „damit die Gleichheit nicht als augenfällige Unterdrückung von Individualität und Freiheit erscheint. Tocqueville war bei seiner Ankunft in New York am East River auf ein drastisches Beispiel demokratischer Hypokrisie gestoßen, der scheinbaren Bevorzugung des Alten und Traditionsverbundenen vor dem Neuen, in Wahrheit aber des Unechten vor dem Echten. Die immer neue Hervorbringung des Neuen ist auf der Basis von herkömmlicher Echtheit, also Materialechtheit gar nicht möglich. Das Neue bedient sich der Täuschung im Material als eines wichtigen Wirkungsmittels“ (Dolif 2003: 6).
In der Demokratie wird die Trennung von Material und Form auf die Spitze getrieben: Eine grenzenlose Formbarkeit und Manipulation des Materials soll eine beabsichtigte Wirkung erzielen (vgl.: ebd.).
Zweites architektonisches Augenmerk Tocquevilles findet die überdimensionale, auf die zukünftige Größe der Stadt angelegte Planung Washingtons.
„Die Amerikaner haben an der Stelle, wo sie ihre Hauptstadt errichten wollten, den Umkreis einer ungeheuren Stadt abgesteckt, die heute nicht mehr Einwohner zählt als Pontoise, die aber ihrer Ansicht nach eines Tages eine Millionen Einwohner fassen soll; sie haben die Bäume bereits zehn Meilen in der Runde ausgerissen, aus Angst, diese könnten eines Tages die künftigen Bürger dieser Phantasie-Hauptstadt behelligen. Sie haben im Mittelpunkt der Stadt einen prächtigen Palast erbaut, der dem Kongress als Sitz dient, und sie haben ihm den hochtrabenden Namen Capitol gegeben“ (DA II: 80f.).
Architektonisch tritt in Amerika neben das viele Kleine weniges ganz Großes. Hier findet die Schwäche des Einzelnen Ausdruck, die der Stärke des Staates gegenübersteht. „[...] die gleichen Menschen, die bescheiden in kleinen Wohnungen eingezwängt leben“, streben Riesiges an, „sobald es sich um öffentliche Bauwerke handelt“ (DA II: 80). Generell gilt jedoch nach Tocqueville für die Kunstdenkmäler in demokratischen Gesellschaften, dass sie zahlreicher, aber auch kleiner werden. Hier gilt das Gesetz der Verschiebung von Qualität zu Quantität. An die Stelle von wenigen großen treten viele kleine.
3.2 Handwerk
Die Zugangsvoraussetzungen für handwerkliche Berufe in demokratischen Gesellschaften stehen im Gegensatz zu denen des Ancien Régime. Wo in aristokratischen Gesellschaften nicht nur alle handwerklichen Betätigungen auf Grund von Privilegien ausgeübt wurden, sondern auch den Interessen der ständischen Körperschaft, der sie angehörten, verpflichtet waren, gelten in demokratischen Gesellschaften freie Zugangsvoraussetzungen. Der Arbeiter ist nur sich selbst und dem Verbraucher verpflichtet.
In der Aristokratie hat die Qualität der handwerklichen Produkte vorrangige Bedeutung für deren Wirtschaftlichkeit. Die Wirtschaftlichkeit ist eine Funktion der Qualität. Die kleine Zahl ihrer Hersteller ist mit ihrem Ruf gegenüber der kleinen Zahl ihrer Abnehmer verpflichtet. Das Ansehen der Hersteller ergibt sich aus der Qualität ihrer Produktionen. Die aristokratische Elite machte ihren Geschmack des gut gearbeiteten und Dauerhaften in der übrigen Gesellschaft verbindlich. „Im aristokratischen Zeitalter“, schreibt Tocqueville, „ist das Handwerk bemüht, möglichst gut und nicht möglichst schnell und billig zu arbeiten“ (DA II: 74).
Letzteres gilt für das Handwerk in der Demokratie. Der demokratische Verbraucher ist dem Utilitarismus verpflichtet. Er bevorzugt das Nützliche vor dem Schönen oder gar Überflüssigen. Demokratien „[...] werden also eher die Künste pflegen, die zur Bequemlichkeit des Daseins beitragen [...]“ (73). Jedoch schafft die freie Zugänglichkeit zu den Handwerksberufen eine Konkurrenzsituation, die erstmal die Fähigkeiten der Handwerker fördern kann. Die Kunstfertigkeit ist in der Lage, …
… „nötigenfalls Wunderwerke zu erzeugen. Das zeigt sich bisweilen, wenn sich Käufer einstellen, die bereit sind, für den Zeitaufwand und die Mühe zu zahlen. In diesem Kampf aller Gewerbe, inmitten dieses ungeheuren Wettbewerbs und dieser unzähligen Versuche werden hervorragende Arbeiter herangebildet, die es in ihrem Beruf bis zu Höchstleistungen bringen; aber diese haben so selten Gelegenheit, ihr Können zu zeigen; sie schonen sorgfältig ihre Kräfte; sie bewegen sich innerhalb einer geschickten Mittelmäßigkeit, die selbst abwägt und die, obwohl sie über das gesteckte Ziel hinausgehen könnte, nur das erreichte Ziel anstrebt“ (76).
Profitorientierung und das kalkulierende Abwägen zwischen Kosten und Nutzen, i.e. Effizienz, bestimmen also hauptsächlich das Handeln der Handwerker. Die mittelmäßige Qualität ihrer Produkte ist die Funktion der relativ homogenen Einkommensverteilung in Demokratien. Bestimmend für die Qualität der handwerklichen Produkte wurde nämlich ein ausgeweiteter Verbraucherkreis, der durch die Mittelmäßigkeit der Vermögen, das Fehlen des Überflusses und den Wunsch nach Wohlstand gekennzeichnet ist.
Die Handwerker sehen sich gezwungen, qualitativ Minderwertiges in größerer Anzahl zu produzieren, um ihren Gewinn bei niedrigeren Preisen konstant zu halten. Tocqueville schreibt: „Es gibt bloß zwei Arten, den Preis einer Ware herabzusetzen. Die erste besteht darin, bessere, raschere und geschicktere Mittel ihrer Herstellung zu finden. Die zweite ist die Herstellung ungefähr gleicher Stücke in größerer Zahl, aber von geringerem Wert“ (DA II: 75f.). Tocqueville beschreibt hier zwei Eckpfeiler der Rationalisierung der wirtschaftlichen Produktion, die später durch Fordismus und Taylorismus zum praktischen und theoretischen Standartgut der Moderne gezählt werden werden. Die Möglichkeit wirtschaftlicher Rationalisierung besteht einmal in der Erhöhung der Produktivität der Herstellung, im anderen Fall in der Senkung der Qualität der hergestellten Produkte. In der Demokratie greift der Handwerker auf beide Rationalisierungsarten zurück:
„Er bemüht sich, Verfahren zu erfinden, die ihm erlauben, nicht nur besser, sondern schneller und billiger zu arbeiten, und wenn ihm das nicht gelingt, die Güte der hergestellten Sache zu vermindern [...]“. Der massenorientierte Absatzmarkt der Demokratie drängt die Handwerker „sehr rasch viele unvollkommene Dinge herzustellen [...]“ (76).
Dies ist der Weg in die standardisierte Massenproduktion auch für Kulturwaren, wie Tocqueville z.B. an der Malerei zeigt.
3.3 Die „schönen Künste“
Der Begriff der „schönen Künste“ steht im Gegensatz zu den sog. „angewandten Künsten“ und bezeichnet die Freiheit von praktischer Verwertung. Hierzu zählen bei Tocqueville die bildenden Künste Malerei und Plastik. Tocqueville betrachtet die Entwicklung der Kunst in demokratischen Gesellschaften genauso wie die des Handwerks als Funktion materieller Vermögensverteilung:
„Da die meisten, die bereits eine Vorliebe für die schönen Künste empfinden, verarmt sind, und andererseits viele, die noch nicht reich sind, nachahmend eine Neigung zu den schönen Künsten zu empfinden beginnen, wächst die Zahl der Käufer im ganzen, und die sehr reichen und sehr feinen Käufer werden seltener“ (DA II: 78).
Folge des Kunstinteresses einer großen Zahl mit mittleren Einkommen an den schönen Künsten ist, dass sich deren Werke vervielfachen und die Vorzüge jedes einzelnen sich vermindern (vgl. ebd.). Die Kunstwerke werden häufiger, jedoch unter Einbuße ihrer Qualität. Formal schlägt sich der Wandel im Ersetzen weniger großer Gemälde durch viele kleine nieder. „In den Aristokratien macht man einige große Gemälde und in den demokratischen Ländern eine Masse kleiner Bilder“ (ebd.).
Neben dem Wandel im Format geht auch die inhaltliche Größe verloren: „Da man nicht mehr auf das Große zielen kann, sucht man das Gefällige und das Hübsche. Man geht eher auf den Schein als auf das Echte aus“ (ebd.). Die Größe der aristokratischen Kunstwerke liegt in dem Grundgedanken, die Natur zu übertreffen, „die Schönheit selbst zu verschönern“ (ebd.: 79). Dieser ideale Kunstbegriff, der dem Kunstwerk einen sublimierenden Charakter zuschreibt, die utopisch angehauchte Idee, aus dem Menschen etwas zu machen, das über dem Menschen ist, findet sich nach Tocqueville bei Raffael wieder. Er lasse den Betrachter in seiner Malerei, die durchaus Menschen darstellt, „die Gottheit ahnen“ (ebd.).
Raffael hingegen steht David paradigmatisch gegenüber, der das realitätsorientierte Kunstideal demokratischer Gesellschaften für Tocqueville verkörpert. „David und seine Schüler waren ebenso gute Maler wie Anatomen. Sie malten die Vorbilder, die sie vor sich hatten, hervorragend, aber selten erfanden sie irgendetwas, das darüber hinaus ging; sie gaben die Natur genau wieder [...] (ebd.). Demokratische Malerei ist auf den Menschen fixiert, wie er ist, sie ist nachahmend. Demokratische Kunst stellt „[...] das Wirkliche an den Platz des Ideals“ (ebd.: 79).
Inhaltlich drückt sich das in der Abwendung der Schilderung der Seele aus, um sich der des Körpers zu widmen. An die Stelle der Darstellung von Gefühlen und Ideen treten die Darstellung von Bewegungen und Empfindungen (vgl. ebd.: 79). Hier spiegelt sich die Gleichheit der Menschen im Objekt ihrer künstlerischen Darstellung. Tocquevilles Maler der Demokratie „richten ihr Können auf die genaue Wiedergabe der Einzelheiten des Privatlebens, das sie ständig vor Augen haben, und sie malen überall kleine Dinge ab, die mehr als genug in der Natur bereits im Urbild vorhanden sind“ (DA II: 79). Die Kunst ist ein Abbild empathischen demokratischen Lebens.
Der nüchternen Idealitätslosigkeit in der Darstellung steht jedoch der Wunsch demokratischer Kunstrezipienten nach Illusion und Täuschung gegenüber. Er hat eine Anfälligkeit für den Schein gegenüber dem Echten, lässt sich täuschen und gibt sich der Illusion von Kunst und Illusionierung durch Kunst hin, solange nur ihre formalen Bedingungen erfüllt sind. An die Stelle von Bronzestatuen treten Gipsstatuen, an die Stelle von antiken Marmorpalästen mit Säulen tritt die Illusion dergleichen, die sich bei näherem Hinsehen als Backsteinbauten mit Säulen aus bemaltem Holz entpuppen.
Hinzu kommt – auch im Sinne der Täuschung – die willkürliche Verwendung historischer Stilattribute. Die klaren Stil- und Formvorgaben in aristokratischen Gesellschaften werden durch Formlosigkeit und Pseudostilisierung ersetzt. Die Bemerkungen Jardins zu Tocquevilles Analyse des poetischen Stils gelten auch für die anderen Bereiche der Kunst:
"In aristokratischen Zeiten folgte die Poesie festen Regeln und maß der Form eine große Bedeutung bei. Die Dichtung der demokratischen Epoche sieht im Stil kein Ziel an sich mehr. Der Stil ist nur ein Mittel, um das Publikum aufzurütteln, indem man 'bizarr, heftig und unkorrekt schreibt'; auf jeden Fall setzt man sich kühn über die Traditionen hinweg“ (Jardin 1991: 233).
Die demokratische Gesellschaft produziert demnach auf der Ebene der schönen Künste eine Scheinwelt,
„die in großem Maßstab genau das hervorbrachte, was man der höfischen und aristokratischen Welt und Kunst zum Vorwurf gemacht hatte: Illusionen. Der Soziologe Tocqueville kam zu der überraschenden Ansicht, dass eine Gesellschaft, die sich auf ihre Nüchternheit und Illusionslosigkeit auch in den Künsten soviel zugute hielt, einen noch nie dagewesenen Aufschwung zu Illusion und Täuschung hinnahm“ (Dolif 2003: 11).
Der Wunsch des demokratischen Kunstrezipienten nach Illusionierung durch Kunst – sie findet auf der Ebene der Trennung des Materials von der Form und der Loslösung des Stils von seiner geschichtlichen Bedingtheit statt – ist in Verbindung mit der rationalistisch marktorientierten Produktionsweise von Kunst und deren inhaltlich realitätsnahen Nüchternheit paradox. Diese Paradoxie erklärt Tocqueville einerseits aus dem an den sozialen Aufstieg gekoppelten Wunsch des demokratischen Bürgers, mehr darzustellen, als er ist: „In der Vermischung aller Klassen hofft jeder, als etwas scheinen zu können, das er nicht ist, und er gibt sich dafür große Mühe“ (DA II: 77). Der Kampf ums soziale Auf und Ab der Wirtschaftsbürger fördert die „Heuchelei des Luxus“ (ebd.), er wendet die Täuschung auf die materiellen Dinge an. Materielle Täuschungen und Fälschungen auf der Ebene des Handwerks und der Kunst gehören ins Repertoire einer demokratischen Wirtschaftsgesellschaft, in der der soziale Status dynamisch ist, und mit auf der Ebene materieller Vorstellung lesbar wird. Status wird materiell vorgestellt durch eine zweckgebundene Kunst.
3.4 Literatur und Dichtkunst
Auch bei seinem idealtypischen Entwurf einer demokratischen Literatur, der über die speziell puritanisch und angelsächsisch geprägte amerikanische Literatur hinausgeht, leitet Tocqueville den Zustand demokratischer wie aristokratischer Literatur aus der jeweils dominanten politischen und gesellschaftlichen Verfassung ab.
Für die Literatur jenseits der Klassengesellschaft gilt in Abgrenzung zur aristokratischen: „Im ganzen genommen vermag die Literatur der demokratischen Zeitalter nicht wie die der aristokratischen Zeiten das Bild von Ordnung, Regelmäßigkeit, Wissen und Kunst zu bieten; gewöhnlich findet man dort die Form vernachlässigt und manchmal verachtet. Man findet den Stil häufig verzerrt, fehlerhaft, überladen und kraftlos und fast immer verwegen und ungestüm. Die Verfasser denken mehr an die Raschheit der Ausführung als an die Vollkommenheit im einzelnen. Man trifft mehr kleine Schriften als große Bücher, mehr Geistvolles als Gelehrtes, mehr Erfindung als Tiefe; im Gedanklichen waltet eine grobe und fast rohe Wucht und in seinen Erzeugnissen oft eine sehr große Mannigfaltigkeit und eigentümliche Fruchtbarkeit. Man trachtet mehr, Erstaunen als Gefallen zu erregen, und man sucht eher, die Leidenschaft mitzureißen, als den Geschmack zu bezaubern“ (DA II: 89).
Diese Attribute der Literatur in einer auf Gleichheit basierenden Gesellschaft leitet Tocqueville aus deren Markt- und Rezipientenanalyse ab. Der vergrößerte Rezipientenkreis lässt die Zahl der literarischen Veröffentlichungen ständig steigen, jedoch nimmt das Niveau der einzelnen Werke ab. Der Büchermarkt ist Sachbuchdominiert, vor allem in Form von Lehrbüchern, Religionsschriften und politischen Kampfschriften. Und am Rande tauchen noch „inmitten dieser unbekannten Erzeugnisse des menschlichen Geistes [...] die bedeutendsten Werke einer nur kleinen Zahl von Verfassern auf, die den Europäern bekannt sind oder es sein sollten“ (83).
Das Wissen der Interessenten über Literatur „ist wie die Macht unabsehbar aufgegliedert und, wenn ich so sagen darf, nach allen Richtungen zerstreut“ (87). Die Dynamik einer demokratischen Wirtschaftsgesellschaft hat die fehlende Muße und einen hohen Grad an Zerstreuung ihrer Bürger zur Folge: „Da ist eine verworrene Menge, deren geistige Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Diese neuen Freunde geistiger Vergnügen [...] wandeln sich selbst beständig; denn unaufhörlich verändern sie den Ort, die Gefühle und das Vermögen“ (87f.).
Aus der Perspektive eines auf Erwerbsarbeit ausgelegten Lebens machten literarische Genüsse keineswegs den Hauptreiz des Daseins aus, schreibt Tocqueville; die Leser „betrachten sie aber als flüchtige und notwendige Entspannung inmitten der ernsten Arbeiten des Lebens“ (88). Literatur, für die nur wenig Zeit bleibt, ist bei Tocqueville in einer Erwerbsgesellschaft dem Zweck der Entspannung untergeordnet. Die Rezipienten, „an ein praktisches, umkämpftes, eintöniges Dasein gewöhnt, bedürfen [...] heftiger und schneller Erregungen, plötzlicher Erhellungen, glänzender Wahrheiten oder Irrtümer, die sie augenblicklich aus sich selbst herausreißen und sie unvermittelt, wie mit Gewalt, mitten in den Gegenstand hineinführen“ (89). Es ist keine Literatur für den Connaisseur, die Kenntnis voraussetzt, um ihre Feinheiten zu spüren. Die Anforderungen an die Entspannungsliteratur liegen in deren Extremen. Extremen Gefühlen, extremen Handlungen, extremen Stilen, Erregungen; um desensibilisierte Rezipienten mit „Erstaunen statt Gefühlen“, „Leidenschaft statt Geschmack“ (vgl. 89) zu fesseln und aus dem monotonen Alltag in eine Scheinwelt des „Unerwarteten und Neuen“ zu führen. Die Täuschung ist also auch eine Anforderung der Rezipienten an die Literatur. Fehlende Bildung und Zeit der demokratischen Rezipienten lässt eine Unterhaltungsliteratur entstehen, die das Mittelmaß einer verworrenen Menge befriedigen soll.
Der erweiterte Leserkreis der Demokratie ist zwar anspruchsloser als der der Aristokratie, aber er ist auch erheblich größer. Der vergrößerte Absatzmarkt lässt den Schriftsteller in einer demokratischen Gesellschaft „hoffen, sich auf leichte Weise einen mittelmäßigen Ruf und ein großes Vermögen zu erringen“ (91). Neben der wachsenden Leserschar sichert deren Bedürfnis nach Neuem den Büchern den Absatz. Die Literatur wurde zum Gewerbe: „In den demokratischen Literaturen wimmelt es von Schriftstellern, die in der Literatur nur ein Gewerbe sehen, und auf wenige große Schriftsteller, die man da sieht, kommen Tausende von Ideenverkäufern“ (ebd.).
Tocqueville geht von der Bedingtheit sowohl des Rezipienten-, als auch des Produzentenverhaltens durch die wirtschaftliche Erwerbsgesellschaft aus: „Die Demokratie lässt nicht nur den literarischen Geschmack in die Erwerbsklassen eindringen, sie führt den Erwerbssinn in die Literatur ein“ (ebd.). Durch Konkurrenzkampf und Erwerbsleben präformierter Publikumsgeschmack wird von Ideenverkäufern bedient, die als „käufliche Seelen“ (91) Unterhaltung produzieren, also selbst dem Erwerbsprinzip unterliegen. Im Falle der am Publikumsgeschmack orientierten Literaturproduzenten bedeutet dies Selbstzensur als Funktion wirtschaftlicher Verkäuflichkeit.
Zusammenfassend kommt Tocqueville für Amerika zu dem Schluss: „Die Bewohner der Vereinigten Staaten haben also genaugenommen keine Literatur. Die einzigen Schriftsteller, die ich als Amerikaner anerkenne, sind die Journalisten“ (84). Auch wenn sie keine große Literatur schaffen, so sprechen sie zumindest in der Landessprache und werden deshalb beachtet. Dennoch gibt es Ausnahmen, die vom Schema der Unterhaltungsliteratur abweichen:
„Zweifellos begegnet man ab und zu Schriftstellern, die einen anderen Weg gehen wollen, und wenn sie über eine höhere Begabung verfügen, werden sie trotz ihrer Fehler und ihrer Vorzüge erreichen, dass man sie ließt; diese Ausnahmen sind jedoch selten, und selbst die, die im Gesamten ihrer Werke das Herkömmliche sprengen, werden immer in einigen Einzelheiten dahin zurückfallen“ (89f.)
Positiv bewertet er hingegen die Ausweitung des Leserkreises, dessen Bildung natürlich nicht mehr die Größe von aristokratischer Gelehrtheit und Sensibilität aufweist. Er schreibt:
„Niemand lässt sich gerne von materiellen Daseinssorgen allein einfangen, und der einfachste Handwerker wirft ab und zu einige begierige und verstohlene Blicke in die höhere Welt des Geistes. Man ließt nicht im gleichen Geiste und in gleicher Art wie bei den aristokratischen Völkern; aber der Kreis der Leser erweitert sich unaufhörlich, und er umfasst zuletzt alle Bürger“ (60).
Der „Sinn für geistige Genüsse“ überträgt sich in der klassenlosen Gesellschaft von einem auf den anderen. Der Bürger unterwirft Wissen und Verstand dem Utilitarismus, indem er sie als individuelle Ressourcen betrachtet, die er zur Zielerreichung anwenden kann. Die Folge der utilitaristischen Selbstinduktion im Statuskampf: Einerseits wird "alles, was dazu dient, den Verstand zu stärken, zu erweitern, zu bereichern, [...] alsbald hoch geschätzt" (Tocqueville in Jardin 1991: 231). Andererseits sind „die Werke [..] oft unvollkommen, aber sie sind zahllos; und obwohl die Früchte der einzelnen Mühen gewöhnlich sehr gering sind, ist das allgemeine Ergebnis stets sehr groß“ (DA II: 61).
3.5 Das Theater
Die unmittelbare Wirkkraft und anschauliche Plastizität des Theaters beinhaltet für Tocqueville einerseits einen hohen Manipulationsgehalt, andererseits ist dessen Rezeption gerade dadurch ohne Vorbildung möglich. Über die Manipulationsmöglichkeiten schreibt er:
„Der Zuschauer einer dramatischen Aufführung wird durch den ihm aufgedrängten Eindruck gewissermaßen überrascht. Er hat keine Zeit, sein Gedächtnis zu befragen oder bei den Kennern Rat zu holen; er denkt nicht daran, die neuen literarischen Regungen, die in ihm erwachen, zu bekämpfen; er gibt sich ihnen hin, noch ehe er sie erkennt“ (117).
Deren Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit macht es auch einer erwerbsgebundenen Bevölkerung ohne Vorbildung und Zeit zur Versenkung zugänglich:
„Keine literarischen Genüsse sind der Menge zugänglicher als diejenigen, die man im Anblick der Bühne empfindet. Um sie zu erleben, bedarf es weder der Vorbereitung noch eines Studiums. Sie packen uns inmitten unserer Beschäftigungen und unserer Unwissenheit“ (ebd.).
Darüber hinaus ist das Theater ein Medium des Zeitgeists und der Publikumsorientierung: „Die Schriftsteller finden bald heraus, wohin der Geschmack der Zuschauer insgeheim neigt. Sie passen ihm ihre Werke an; [...] Will man die Literatur eines Volkes, das sich der Demokratie zuwendet, im voraus beurteilen, so schaue man sich sein Theater an“ (ebd.). Auch das Theater bindet ein demokratisches Publikum, das ebenfalls in dieser Sparte der Kunst ein Bild seiner selbst will: „Die demokratischen Völker haben nur eine sehr geringe Achtung vor der Gelehrsamkeit, und es ist ihnen ganz gleichgültig, was sich in Rom und in Athen ereignete, sie wünschen, dass von ihnen selbst die Rede sei, und das Bild der Gegenwart ist es, das sie fordern“ (119). Inhaltlich finden diese Zuschauer auf der Bühne „gerne das wirre Gemisch der Lebensumstände, der Gefühle und der Gedanken wieder, das sie [eh schon; Anm. D.S. ] vor Augen haben; das Theater wird treffender, gewöhnlicher und wahrer“ (120). Gegenwartsorientierung und aufwandslose Konsumierbarkeit binden den Zuschauer demokratischer Erwerbsgesellschaften also ans Theater.
Darüber hinaus besucht er es zum Zwecke der Unterhaltung. Die Zuschauer erwarten…
"die heftigen Erregungen des Gemüts. Sie erwarten da nicht die Dichtung zu finden, sondern ein Schauspiel, und sobald der Verfasser die Landessprache gut genug spricht, um verstanden zu werden, und seine Personen die Neugierde und das Mitgefühl wecken, sind sie zufrieden; ohne von der Erfindung mehr zu verlangen, kehren sie alsbald wieder zu ihrer wirklichen Welt zurück" (122).
Der bruchlose Übergang zwischen der Fiktion des Theaters und der Realität seiner Zuschauer erklärt sich aus der Realitätsgebundenheit des Theaters, dessen unterhaltende "Erregung des Gemüts" wenig nachhaltig ist. In der fiktionalen Scheinwelt des Theaters verliert der Begriff der "Wahrscheinlichkeit" unter bewusster Billigung des Publikums seine Bedeutung.
"Was die Wahrscheinlichkeit angeht, so ist es unmöglich, häufig Neues, Unerwartetes, Überraschendes zu bringen und ihr gleichzeitig treu zu bleiben. Man vernachlässigt sie also und das Publikum verzeiht es. Man kann damit rechnen, dass es sich nicht um die Wege kümmert, durch die man es geführt hat, wenn man es endlich zu einem Inhalt führt, der es ergreift" (ebd.).
Verführung und Täuschung im Dienste der Illusionierung wird vom Rezipienten bewusst einkalkuliert.
Auch im demokratischen Theater existiert nach Tocqueville jene paradoxe Korrelation aus unterhaltender Täuschung zum Zwecke der Erregung der Gemüter einerseits und dem präsentistischen und selbstfixierten Wunsch des Publikums nach seinem realistischen Ebenbild. Im idealtypischen Gegensatz dazu steht das Theater der Aristokratie. Es drängt dazu, sich normativ über die menschliche Natur zum Zwecke deren Erhebung und Belehrung zu erheben. Und dafür greift es auf geschichtliche Reflexionsräume wie z.B. die Antike oder mythische Stoffe zurück. Ihre Inspirationsquellen sind …
"die Mythologie, das Eingreifen übernatürlicher Mächte, die Beschwörung der Vergangenheit, die Schilderung großer, außergewöhnlicher Schicksale. Im demokratischen Theater hingegen inspiriert vor allem der Mensch selbst, '... aus seiner Zeit und seinem Lande herausgelöst, im Angesicht der Natur und Gottes, mit seinen Leidenschaften, seinen Zweifeln, seinem unerhörten Glück und seinem unbegreiflichen Elend...'" (Jardin 1991: 233).
Das Theater wie die Literatur und die bildenden Künste sind thematisch auf den Menschen bezogen (Selbstbezug). "'Das Interesse der menschlichen Gattung gilt der menschlichen Gattung selbst', denn der Mensch hatte erfahren, 'dass er nur ein winziger Teil einer gewaltigen und innerlich verbundenen Einheit war, dass das Werk seiner eigenen Vorstellung ein kollektives und natürliches war'", schreibt Larmatine (zit. nach ebd.: 234). Und Tocqueville: "[Die Schriftsteller der demokratischen Zeitalter] glaubten im Tun jedes einzelnen die Spur dieses allgemeinen und dauernden Planes wiederzufinden, nach welchem Gott die Gattung lenkt" (Tocqueville zitiert nach ebd: 234). Diese literarische Bewusstseinsform findet ihre Entsprechung in einer mechanistisch-demokratischen Geschichtsschreibung, nach der gesellschaftliche Entwicklung und Sinngebung von absoluten Ideen und überindividuellen Wesenheiten abhängt.
II. Theodor W. Adorno
„Unterm privaten Kulturmonopol lässt in er Tat ‚die Tyrannei den Körper frei und geht geradewegs auf die Seele los. Der Herrscher sagt dort nicht mehr: du sollst denken wie ich oder sterben. Er sagt: es steht Dir frei, nicht zu denken wie ich, dein Leben, deine Güter, alles soll dir bleiben, aber von diesem Tage an bist du ein Fremdling unter uns’“ (DdA: 155).
Die Auswirkungen einer kommerzialisierten Kultur in der amerikanischen Demokratie beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer[3] fast genau hundert Jahre nach Alexis de Tocqueville mit dessen Worten im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung. Die hier implizierte systemische Knechtschaft der Seele steht aber erst am Ende einer Argumentation, wie sie in der Mitte des letzten Jahrhunderts Horkheimer und Adorno vor dem Eindruck des deutschen Totalitarismus und vor allem auch der durch die Emigration erzwungenen Konfrontation mit einer im Vergleich mit Europa unvergleichlich weiter fortgeschrittenen massenkulturellen Entwicklung entstand. „Der Glaube, die Barbarei der Kulturindustrie sei eine Folge des ‚cultural lag’, der Zurückgebliebenheit des amerikanischen Bewusstseins hinter dem Stand der Technik, ist ganz illusionär. Zurückgeblieben hinter der Tendenz zum Kulturmonopol war das vorfaschistische Europa“ (ebd.: 154). Das Autorenduo betrachtet die massenkulturellen Erscheinungen Anfang der vierziger Jahre in Amerika demnach wie ein kulturelles Fenster der Zukunft für die Entwicklung Europas. Die zwei unfreiwillig Fremden entgehen, besonders durch die Überschärfte des erzwungenen Emigrantenstatus, bei ihrer Analyse den Selbstverständlichkeiten und Routinen des einheimischen Blicks.
Bevor ich zu den inhaltlichen Bestimmungen des Kulturindustriekapitels komme, werde ich zuerst Adornos Methode ins Blickfeld rücken und dann das Kulturindustriekapitel im Gesamtkontext der Dialektik der Aufklärung verorten.
1. Ureigenstes und gesellschaftliches Ganzes: Die Methodologie Adornos
„Im Besonderen das Allgemeine experimentell zu entdecken, in den Brechungen des Einzelfalls das Ganze aufzuspüren und in der faktischen Unvernunft die Möglichkeit von Vernunft wahrzunehmen“, so beschreibt Bonß zusammenfassend die „Adornosche Grundidee einer den Bedingungen der Dialektik der Aufklärung angemessenen, kritisch-spurensichernden Erkenntnis“ (Bonß 1983: 204). Einerseits sollen die verbliebenen Fragmente von Vernunft rekonstruiert werden durch die induktiv-experimentelle Entdeckung der widersprüchlichen Allgemeinheit im Besonderen. Andererseits soll das einzelne soziale Detail als Teil einer identitären gesellschaftlichen Totalität sichtbar gemacht werden, in der subjektive Vernunft nicht mehr möglich ist.
In der Verfahrensdimension von Adornos Sozialforschung handelt es sich um "[...] subjektbezogenes, induktives und einzelfallorientiertes Vorgehen, bei dem die Gegenstände unter der Perspektive des Aufspürens von Brüchen mit exemplarischem Repräsentationsanspruch angeeignet werden. Derartige exemplarische Verstehensprozesse [...] entwickeln sich [...] experimentell" (211). Ziel dieser induktiv-experimentellen Methode ist das Aufdecken der identitären Totalität im Detail. Dabei geht es, auf der Grundlage einer Rätsellogik, um die „Aufhebung von Anomalien bzw. die Neuordnung von scheinbar einander ausschließenden Elementen, die so zu dechiffrieren sind, dass sie nicht mehr beziehungslos nebeneinander stehen, sondern ein neues übergreifendes Bild ergeben“ (ebd. 206).
Adornos Rätsellösung, deren Resultat die Dechiffrierung von Wirklichkeit und die Fragmente einer neuen soziologischen Theorie sind, findet in der deutenden Begründungsdimension statt. Die deutende Soziologie fügt die Resultate der Rätsellösungen aus exemplarischen Einzelfalluntersuchungen zu einer theoretisch lesbaren Welt zusammen. Die Deutung lässt im konkreten Befund die totale Frage erkennen. Deutung ist dabei strukturell zu verstehen, als „theoretische Strukturbildung zum Zwecke der Dechiffrierung des Erscheinenden“ (Bonß 1983: 204). Deutung heißt: „Chiffren in einen Text [zu] verwandeln, dialektische Bilder als Schrift zu offenbaren, an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden und über immanente Analyse die Strukturen aufdecken, welche die Fakten bedingen“ (Adorno in Bonß 1983: 204f). Die Wahl einer deutenden Soziologie wurde von Adorno als notwendig betrachtet, weil uns die Welt „kein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben“ (Foucault in Bonß 1983: 204). Die Notwendigkeit einer reflexiven Herstellung dieses lesbaren Gesichts „verleiht in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht“ (Bonß 1983: 204). Der Kern der deutenden „Rätsellösung liegt im Herstellen reflexiver 'Versuchsanordnungen' und verläuft zunächst und vor allem als experimentelles Austesten theoretischer Entwürfe, die darauf zielen, die Splitter des Wirklichen tentativ zu durchdringen, 'ein[zu]sammeln und daraus eine menschlich zentrierte Welt zusammen[zu]setzen'" (ebd.: 207).
Solche Rätsellösungen sind nicht mit dem festen Programm nomologisch-deduktiver Erkenntnis durchführbar, "wonach nur das als empirisch verallgemeinerbar gilt, was dem Dreischritt 'Begriffsbildung – Operationalisierung – Messung' gehorcht" (ebd. 212). Statt der positivistischen Oberflächenharmonie muss diese auf die sie bedingenden Momente und die Möglichkeiten ihres Andersseins abgetastet werden, und zwar durch einen Blick der dissentierenden Phantasie: "Statt sich mit der Welt der Tatsachen zufrieden zu geben, konzentriert er sich starrsinnig auf die Sprünge, Brüche, Widersprüche, die meist verkleistert und verklebt sind und nur dann aufbrechen, wenn man unter Bezug auf die ungesteuerte Erfahrung 'beim Einzelnen so verharrt, dass über der Insistenz seine Isoliertheit zerbricht'" (210).
Die von Adorno favorisierten exemplarisch-induktiven Interpretationen bleiben unvollständig und können keine abschließenden Resultate liefern. Die Ergebnisse haben den Charakter "offener Interpretationsangebote, die darauf zielen, scheinbar nebeneinander stehende Elemente [...] zu einem Strukturtypus zusammenzufügen" und sind "per se unsicher und vorläufig" (ebd.: 215). Ziel dieser Methode kann erstmal nur das Begründen einer neuen Sichtweise, z.B. durch das Aufzeigen eines möglichen tiefenstrukturellen Zusammenhangs bis dato isolierter Meinungsfragmente oder Sozialphänomene, sein. Hierdurch kann zwar ein neues Untersuchungsparadigma begründet werden, es werden jedoch keine abschließenden Resultate geliefert. Der Gestus des Vorläufigen und Fragmentarischen war jedoch bewusst einkalkuliert und "bildete in Adornos Augen auch ein unverzichtbares Kriterium kritischer Sozialforschung" (215). Die Aussagen der kritischen Sozialforschung beruhen eben auf "der reflexiven Handhabung vorwissenschaftlicher Erfahrungen, die vor dem Hintergrund eines gesellschaftstheoretischen Interpretationsrahmens ohne Zwang zur operationellen Definition aufgegriffen und an Hand von Einzelfällen exemplarisch verallgemeinert werden (...)" (212; zur methodischen Kritik siehe Kap. B II 2.6).
2. Kontextualisierung der Dialektik der Aufklärung
2.1 Kernaussage
Dass wachsende Naturbeherrschung nicht zur Befreiung von Gesellschaft führt, sondern zu weiterer Herrschaft, ist die Kernthese von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung. Das Autorenduo stellt das dialektische Pendeln zwischen Mythos und Aufklärung, Fortschritt und Regression, Kultur und Barbarei paradoxieverliebt, metaphorisch, in hermeneutischem Stil, redundant, emphatisch-übertreibend, mit dem Resultat starker Aura in den Mittelpunkt seiner Reflexionen. Die Kernthese dreht sich um den Mythos, der schon Aufklärung ist, und die Aufklärung, die wiederum in Mythologie zurückschlägt.
Aufklärung kann nach Habermas als eine Dezentralisierung des Weltbildes begriffen werden, im Laufe derer sich die Entmischung von internen und externen Beziehungen – Sinn und Sachzusammenhängen – differenziert haben (vgl. Habermas 1988: 140). Durch die Spezialisierung der gesellschaftlichen Teilbereiche Wissenschaft, Moral und Kunst auf einen jeweils eigenen Geltungsanspruch entsteht der Verdacht, dass, im Falle der Wissenschaft, „die Autonomie der Geltung, die eine Theorie, sei sie nun empirisch oder normativ, beansprucht, Schein ist, weil sich in ihre Poren verschwiegene Interessen und Machtansprüche eingeschlichen haben" (ebd.). Hier beginnt die Arbeit der kritischen Theorie[4], deren Anliegen die kritische Erweiterung des Blicks, das Weitertreiben der Reflexion über die traditionelle Theorie hinaus ist. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zeigten Horkheimer und Adorno das Scheitern der traditionellen Theorie an, da das Gelingen von Vollzügen in den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr möglich ist. Ziel ist das Lesbarmachen der gesellschaftlichen Probleme durch die kritische Betrachtung der traditionellen Theorie.
Was hier als wissenschaftliches Selbstverständnis der kritischen Theorie als Philosophie und damit als Teil der wissenschaftlichen Vernunft gelten kann, nämlich die Entflechtung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Macht einer positivistischen Wissenschaft durch Negation, gilt als Postulat auch für die Rationalität des Rechts und der Moral einerseits, und für die der Kunst andererseits. Die Unterwerfung der Vernunft unter die Zweckrationalität in der modernen Wissenschaft, in den universalistischen Moral- und Rechtsvorstellungen und in der autonomen Kunst ist der Kernsatz der Dialektik der Aufklärung. In Moral und Recht, Wissenschaft und Kunst entmächtigt
„die Trennung der kulturellen Bereiche, der Zerfall der in Religion und Metaphysik noch verkörperten substantiellen Vernunft [...] die isolierten, ihres Zusammenhalts beraubten Vernunftmomente so sehr, dass diese zur Rationalität im Dienste wildgewordener Selbstbehauptung regredieren. Vernunft wird in der kulturellen Moderne endgültig ihres Geltungsanspruchs entkleidet und an schiere Macht assimiliert. Die kritische Fähigkeit, mit 'Ja' oder 'Nein' Stellung zu nehmen, zwischen gültigen und ungültigen Aussagen zu unterscheiden, wird unterlaufen, indem Macht- und Geltungsansprüche eine trübe Fusion eingehen" (ebd.: 136f).
2.2 Struktur und Aufbau der Dialektik der Aufklärung
Die Struktur der Dialektik der Aufklärung kann fünfschichtig nach Denk- und Lebensformen abgetragen werden. Aktuellste und jüngste Schicht, der Auslöser zur Entstehung des Buches überhaupt, ist die neuheidnische Mythologie der NS-Barbarei und ihre Lehren des Antisemitismus. Auf der Ebene des Begriffs und der mit ihm korrelierenden gesellschaftlich-herrschaftlichen Praxis liegt der Keim zum Rückschritt.
In der zweiten Schicht stützt sich die Pseudologik antisemitischer Vorurteile auf einen modernen positivistischen Tatsachenglauben der Zweckrationalität einer verwalteteten Welt. Der Gegensatz zwischen Rationalität und Irrationalität wurde dialektisiert. Der Mythos kann nicht mehr von der Vernunft in Schach gehalten werden, die Vernunft wird selbst zum Mythos.
Auch auf der dritten Ebene der Philosophie setzt sich die instrumentelle Vernunft durch und wird durch eine Philosophie der bloßen Zeichenhaftigkeit noch potenziert. Allgemeinbegriffe werden zum Abbild von Herrschaft und erheben selbst einen Herrschaftsanspruch.
Auf der vierten Ebene wird die Entstehung des philosophischen Logos aus nichtempirischen Allgemeinbegriffen von Göttern und Heroen beschrieben. Dabei stellen sich die Mythen selbst schon als vom Logos durchwirkt heraus. Als Zwischenschritte zwischen den philosophischen Begrifflichkeiten und dem Mythos gelten das Epos und die Tragödie, die insbesondere auch die Frage nach ethischen Antinomien stellen.
Auf der fünften und tiefsten Ebene werden die Gründe für zivilisatorische Entwicklung überhaupt beleuchtet. Den alten Mythen aus animistischen und magischen Lebenswelten eines einheitlichen Naturgeschehens tritt die Aufklärung als Befreierin von Furcht entgegen. Im Kern der zivilisatorischen Entwicklung werden, am Beispiel der Odyssee verdeutlicht, List und Tausch angesehen. Schon das Opfer an die Götter ist eine List und der Tausch ein nichtäquivalenter und somit Kern der kapitalistischen Wirtschaftsform. Naturbeherrschung bedeutet schon hier Selbstversklavung.
[...]
[1] Der Begriff der Demokratie meint bei Tocqueville zu allererst die Gleichheit der sozialen Bedingungen.
[2] Als grundlegendes, aus der Gesellschaftsform deduziertes methodisches Beispiel, sollen hier noch Tocquevilles Prämissen und methodologische Folgen für eine demokratische und aristokratische Geschichtsschreibung angeführt werden. Tocqueville unterscheidet aristokratische und demokratische Geschichtsschreibung durch ihre jeweilige Zurechnung von Geschichte konstituierenden Ursachen. Die personalisierte Form aristokratischer Geschichtsschreibung, nach der nahezu „alle Geschehnisse vom persönlichen Willen und von der Laune großer Menschen abhängig“ sind (DA II: 125), steht der demokratischen gegenüber, die den einzelnen Individuen kaum Einfluss auf den Verlauf der Geschichte zubilligt. Die demokratischen Historiker hingegen "lassen weder einen Einfluss des Einzelnen auf die Geschicke der Gattung noch des Bürgers auf das Los des Volkes gelten. Dagegen leiten sie von großen Ursachen alle kleinen privaten Geschehnisse ab" (Tocqueville in White 1991: 264). Den demokratischen Historiker verlockt es, "mit dem Einzelnen nichts mehr und alles mit den großen, abstrakten und allgemeinen Bewegungen verknüpft zu sehen. Daher ließt er die Geschichte als deprimierendes Dokument der Unfähigkeit des Menschen, über seine Zukunft zu verfügen, und begünstigt entweder einen lähmenden Zynismus oder die grundlose Hoffnung, dass die Dinge sich schon irgendwann einmal zum Besseren wenden werden" (White 1991: 264).
„Tocqueville zur Folge kann sowohl die formativistisch-aristokratische, wie auch die mechanistisch-demokratische Art der Geschichtsschreibung Geltung beanspruchen, nämlich jeweils für die Analyse eines besonderen Typus von Gesellschaft" (ebd.: 265). Es herrscht eine Art Wahlverwandtschaft zwischen dem Geschichtsbewusstsein und der Gesellschaftsstruktur. Tocqueville schreibt: "Was mich angeht, so denke ich, dass es keine Zeit gibt, in der man nicht einen Teil der Ereignisse dieser Welt sehr allgemeinen und einen anderen Teil ganz besonderen Einflüssen zuschreiben muss. Diese beiden Ursachen treffen stets zusammen; einzig ihre Beziehung ist anders. Die allgemeinen Tatsachen erklären in demokratischen Zeitaltern mehr, die besonderen Einflüsse weniger Dinge als in aristokratischen Zeitaltern. In den Zeiten der Aristokratie ist es umgekehrt, die besonderen Einflüsse sind stärker und die allgemeinen Ursachen schwächer, es sei denn, man betrachte als allgemeine Ursache gerade die Ungleichheit der Stände, die einigen Menschen erlaubt, die natürlichen Bestrebungen aller anderen zu durchkreuzen" (Tocqueville in White 1991: 265).
Tocqueville beansprucht zur Beschreibung der europäischen Übergangsgesellschaften somit eine Kombination aus der formativistischen und der mechanistischen Geschichtsschreibung. Sobald er aber über die Zukunft der Demokratie spricht oder die Geschichtsschreibung in einem demokratischen steady state, bevorzugt er die mechanistische Geschichtsschreibung mit ihrer metonymischen Bewusstseinsform und leitet einen Großteil demokratischer Strukturprinzipien aus dem allgemeinen Prinzip der Gleichheit her. Demokratische Strukturen bedingen demokratische Wirkungszusammenhänge und bedürfen daher einer entpersonalisierten Geschichtsschreibung kleiner Details aus allgemeinen Ursachen. Tocqueville geht es also darum, "das vorherrschende Kausalprinzip ausfindig zu machen, das in der jeweiligen betrachteten Gesellschaftsformation wirksam ist" (White 1991: 266). Über die Demokratie in Amerika stellt den ersten breitangelegten Versuch dar, eine demokratische Gesellschaft mit demokratischen Untersuchungsmethoden zu analysieren.
[3] Die „Dialektik der Aufklärung“ wurde von Horkheimer und Adorno gemeinsam diktiert. Das Kulturindustriekapitel jedoch werde ich im folgenden Adorno zuschreiben, da er der ästhetisch Informiertere des Autorenduos ist.
[4] Ich habe mich für die Kleinschreibung des Adjektivs „kritisch“ im Zusammenhang mit der Theorie der Frankfurter Schule entschieden, da eine kritische Theorie der Gesellschaft in der Gegenwart und Zukunft einer globalisierten Wissenschaft nicht mehr einem Ort zuzurechnen ist. Auch wenn sich die Bezeichnung in dieser Arbeit auf die historische Frankfurter Schule bezieht, ist deren Öffnung und Erneuerung in einem gegenwärtigen wissenschaftlichen Verständnis von Gesellschaft zu suchen. Die kritische Theorie darf nicht als vollendetes Projekt gelten.
- Quote paper
- Dominik Sommer (Author), 2004, Adornos integrative Adaption von Alexis de Tocquevilles Merkmalen marktvermittelter Massenkunst in demokratischen Gesellschaften, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27130
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.