Diese Arbeit behandelt die Theorie der direkten Demokratie, ihre Vor- und Nachteile, sowie Voraussetzungen für erfolgreiche Durchführung von Abstimmungen und analysiert alle direktdemokratischen Abstimmungen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in der Russischen Föderation zwischen 1991 und 2013. Im Anhang befindet sich eine Auflistung aller Abstimmungen, die die Fragestellungen und den Ausgang der Abstimmungen beinhaltet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Direkte Demokratie, ihre Voraussetzungen, Vor- und Nachteile
2.1. Arten direktdemokratischer Verfahren
2.2. Direkte Demokratie aus theoretischer Sicht
2.2.1. Demokratische Systeme
2.2.1.1. Kompetitive Demokratie
2.2.1.2. Elitäre Deliberation
2.2.1.3. Partizipative Demokratie
2.2.1.4. Deliberative Demokratie
2.2.2. Schwache Demokratien
2.2.3. Autoritäre Systeme
2.3. Vor und Nachteile direktdemokratischer Verfahren
2.3.1. Tyrannei der Mehrheit vs. Schutz der Minderheit und Partizipation
2.3.2. Erosion der Macht der gewählten Vertreter
2.3.3. Effizienz und Effektivität
2.3.4. Fähigkeit der Bürger Entscheidungen zu treffen
2.3.5. Missbrauch durch Eliten
2.4. Voraussetzungen für erfolgreiche Anwendung
2.4.1. Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren
2.4.2. Rahmenbedingungen
2.5. Zwischenfazit
3. Direkte Demokratie und ihre Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation
3.1. Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation
3.1.1. Das politische System der Russischen Föderation- zwischen Demokratie und autoritärem Staat
3.1.2. Die föderale Struktur Russlands und ihre Zentralisierung
3.1.3. Zwischenfazit
3.2. Direkte Demokratie in der Russischen Föderation
3.2.1. Nationale Ebene
3.2.1.1. Legale Ausgestaltung
3.2.1.2. Praktische Umsetzung
3.2.1.3. Zwischenfazit
3.2.2. Regionale Ebene
3.2.2.1. Legale Ausgestaltung
3.2.2.2. Praktische Umsetzung
3.2.2.3. Zwischenfazit
3.2.3. Lokale Ebene
3.2.3.1. Legale Ausgestaltung
3.2.3.2. Praktische Umsetzung
3.2.3.3. Zwischenfazit
4. Fazit
Literaturliste
Versicherung an Eides statt:
Anhang
Vermerk: Der Anhang wurde getrennt gedruckt und gebunden
Tabellenverzeichnis
Anhang I: Abstimmungen und Initiativen auf nationaler Ebene
Tabelle 1: Stattgefundene Referenden auf nationaler Ebene
Tabelle 2: Untersuchte, abgelehnte Initiativen auf nationaler Ebene
Anhang II: Abstimmungen und Initiativen auf regionaler Ebene
Tabelle 3: In dieser Arbeit untersuchte Referenden auf regionaler Ebene bis
Tabelle 4: Stattgefundene Referenden auf regionaler Ebene nach
Tabelle 5: Untersuchte, abgelehnte Initiativen auf regionaler Ebene
Anhang III: Abstimmungen und Initiativen auf lokaler Ebene
Tabelle 6: In dieser Arbeit untersuchte Referenden auf lokaler Ebene bis
Tabelle 7: Stattgefundene Referenden zur Zusammenlegung oder Trennung mehrerer Kreise, Bildung neuer Kreise und ihrer Umbenennung auf lokaler Ebene nach
Tabelle 8: Stattgefundene Referenden zur Übergabe der Berechtigung zur Abänderung der Satzung auf lokaler Ebene nach
Tabelle 9: Stattgefundene Referenden zur Art der Wahl des Bürgermeisters auf lokaler Ebene nach 2003
Tabelle 10: Stattgefundene Referenden zu sozialen und ökologischen Themen auf lokaler Ebene nach 2003
Tabelle 11: Stattgefundene Referenden zur Struktur der lokalen Organe auf lokaler Ebene nach 2003
Tabelle 12: Stattgefundene Referenden zu ökonomischen Strategien auf lokaler Ebene nach 2003
Tabelle 13: Stattgefundene Referenden zur Zusammenführung der Administration und der Legislative auf lokaler Ebene nach
Tabelle 14: Stattgefundene Referenden zur freiwilligen Selbstbeteiligung der Bürger auf lokaler Ebene nach
Tabelle 15: Stattgefundene Referenden zur Verlegung der Administration auf lokaler Ebene nach 2003
Tabelle 16: Untersuchte Initiativen auf lokaler Ebene
1. Einleitung
Direktdemokratische Verfahren, als unmittelbarer Ausdruck des Volkswillens durch Abstimmung, haben sich in den letzten Jahrzehnten weltweit verbreitet. Zwar sind solche Praktiken bereits aus der Antike bekannt und wurden vor dem 20. Jahrhundert in der Schweiz angewendet, jedoch konnten sie sich weltweit erst im 20. Jahrhundert erfolgreich durchsetzen. Am stärksten ist die direkte Demokratie heute in der Schweiz ausgeprägt, weshalb sich die meisten Untersuchungen in diesem Bereich auf die Schweiz beziehen (vgl. Trechsel, Sciarini 1998; Feld, Kirchgässner 2000; Obinger, Wagschal 2000; Gebhardt 2002; Freitag, Vatter, Müller 2003; Dorn et al. 2008; Kaufmann, Büchi, Braun 2010). In der Schweiz gibt es seit dem 19. Jahrhundert verschiedene direktdemokratische Verfahren auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, bei denen alle Bürger berechtigt sind, über Sachverhalte abzustimmen. Weitere Staaten mit stärker oder schwächer ausgeprägter Anwendung direktdemokratischer Verfahren, die von Wissenschaftlern oft untersucht werden, sind die USA, Australien, Deutschland oder Liechtenstein. Zu diesen Staaten gibt es ebenfalls zahlreiche Untersuchungen (vgl. Qvortrup 2002; Walker 2003; Marxer 2004; Holtkamp 2008). Empirische Untersuchungen zeigen positive und negative Auswirkungen der direkten Demokratie auf das politische System und seine Bürger, die durch theoretische Annahmen ergänzt werden. Aus den theoretischen Annahmen, sowie empirischen Untersuchungen wird sichtbar, dass die direkte Demokratie auf vielfältige Weisen in Staaten angewendet werden kann und, dass sie das politische System stärken aber auch schwächen kann. Verschiedene Verfahren können den Bürgern helfen, die Politik der gewählten Vertreter zu korrigieren, während andere den Staatsorganen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Politiken gegen andere politische Akteure dienen (vgl. Altman 2011: 1). Direkte Demokratie ist also nur unter vielen Voraussetzungen, die sicherstellen, dass die Bürger an dem gesamten Prozess frei und fair teilnehmen können, für die Demokratie förderlich. Dann nämlich bietet sie eine höhere Einbindung der Bürger in das politische Geschehen, eine bessere Korrektur der staatlichen Politik entsprechend dem Volkswillen, die Einbindung von Minoritäten und viele andere Vorteile (vgl. Altman 2011: 4). Manche Forscher erachten die Untersuchung der direkten Demokratie als unwichtig, da sie nur eine untergeordnete Rolle in den heutigen Staaten spiele, direkt-demokratische Verfahren selten angewendet würden und dann meistens in autoritären und totalitären Regimen, um die Interessen der Regierenden durch-zusetzen (vgl. Altman 2011: 6, 28). David Altman zeigt jedoch in seiner empirischen Untersuchung der direkten Demokratie weltweit auf, dass der Gebrauch direkt-demokratischer Verfahren in den letzten Jahren zugenommen hat und diese eher in demokratischen Staaten angewendet werden (vgl. Altman 2011: 6, 62-75). In seiner Arbeit untersucht er alle direktdemokratische Verfahren, die seit 1900 weltweit stattgefunden haben. Dabei stellt er fest, dass heute vier Mal so viele Abstimmungen pro Staat stattfinden, als vor 100 Jahren (vgl. Altman 2011: 65). Zusätzlich zeigt seine Untersuchung, dass die meisten Verfahren vorwiegend in demokratischen Staaten stattfinden und nur selten in autoritären angewendet werden. Dies gilt im besonderen Maße für bürgerinitiierte Verfahren, die nur in demokratischen Staaten zu finden sind und dort insbesondere in sieben Staaten (über 90% aller von unten initiierten Verfahren) angewendet werden (vgl. Altman 2011: 60, 69, 73). Die Verwendung direktdemokratischer Verfahren steigt laut Altman mit der Qualität des demokratischen Systems, dem Alter des Regimes, sowie der Verwendung direkt-demokratischer Verfahren in Nachbarländern. Auch die koloniale Vergangenheit spielt eine Rolle, da zum Beispiel Länder mit einer britischen kolonialen Vergangenheit viel seltener direktdemokratischer Verfahren nutzen, als ehemals kommunistische Länder (vgl. Altman 2011: 60). Tatsache ist also, dass die direkte Demokratie heute zur politischen Landschaft gehört und immer häufiger angewendet wird. Deshalb ist es für die Forschung wichtig sich damit zu beschäftigen, die Voraussetzungen notwendig sind, damit direktdemokratische Verfahren frei und fair verlaufen und ihren Bürgern tatsächlich demokratische Partizipation erlauben, anstatt die direkte Demokratie vollkommen abzulehnen. Indessen wird die direkte Demokratie in der Forschung kontrovers diskutiert. So sprechen sich einige Forscher gänzlich gegen den Gebrauch direkter Demokratie in heutigen Systemen aus, da sie aufgrund ihrer negativen Folgen, wie der möglichen Tyrannei der Mehrheit und damit der Einschränkung bestimmter Minderheiten, das repräsentative System destabilisiere. Hingegen argumentieren Unterstützer direktdemokratischer Verfahren, dass diese Verfahren notwendig seien, da sie die Qualität der Demokratie erhöhen und den Bürgern die Kontrolle über die staatlichen Organe ermöglichten (vgl. Altman 2011: 27). Interessant ist auch die Tatsache, dass die Untersuchung der direktdemokratischen Verfahren bei den Bewertungen heutiger Staatssysteme weltweit nicht stattfindet. Alle großen Indices, wie der Bertelsmann Trasformationsindex (vgl. BTI 2012), der Bericht der Organisation Freedom House (vgl. Freedom House 2012) oder das Polity IV Projekt (vgl. Polity IV 2013), die Staaten und die Qualität ihrer Systeme untersuchen, beschränken sich auf die Untersuchung der Wahlen, der Gewaltenteilung, der Parteienlandschaft, der Medienfreiheit und der Achtung der Bürger- und Menschenrechte. Sie lassen jedoch außer Acht, dass direktdemokratische Verfahren, oder solche Verfahren, die vorgeben direktdemokratisch zu sein, heute in vielen Staaten angewandt werden und ihre Untersuchung dabei hilft, die Beziehungen und Machtverhältnisse in der Gesellschaft zu erfassen und die Qualität des Systems zu bewerten (vgl. Altman 2011: 31).
Die Vor- und Nachteile, sowie Voraussetzungen direkter Demokratie sind heute relativ gut systematisiert und werden bei Untersuchungen direkter Demokratie in repräsentativen Demokratien angewendet. Was jedoch bei diesen Untersuchungen etwas zu kurz kommt, ist die Analyse der neuen Demokratien in Osteuropa, die nach dem Zusammenbruch der UDSSR entstanden und oft direktdemokratische Verfahren eingeführt haben. Diese Demokratien befinden sich noch in der Entwicklungsphase und zeichnen sich durch Fehler in den demokratischen Strukturen und Prozessen aus. Eine Systematisierung solcher Fehler bietet zum Beispiel Wolfgang Merkel mit der Theorie der defekten Demokratie an, die eine Einstufung eines Regierungssystems auf einer Achse zwischen einer Demokratie und einem autoritären System erlaubt (vgl. Merkel 2004, 2006). So zeichnet sich eine defekte Demokratie zwar durch funktionierende Wahlen aus, kann aber in einem der fünf Teilregime fehlerhaft sein. Bei der Untersuchung der osteuropäischen Länder nach diesem Raster werden direktdemokratische Verfahren außer Acht gelassen (vgl. Knobloch 2002; Merkel 2006; Mommsen, Nussberger 2007; Eibel 2010; Uffelmann 2011). Sie sind jedoch essentiell für ein funktionierendes Wahlregime und müssen deshalb untersucht werden. Auch in Untersuchungen zu direkter Demokratie, sogar aus dem russisch-sprachigen Bereich ist wenig Literatur zur direkten Demokratie in der Russischen Föderation vorhanden. Diese umfasst fast ausnahmslos den Zeitraum zwischen 1991 und 1993 und bezieht sich nahezu ausschließlich auf rechtliche Regelungen, aber nicht auf die praktische Umsetzung (vgl. Butler, Ranney 1994; Dawson 1994; Komarowa 2006; LeDuc 2003; Lübarew 2005; Petuchowa 2010). Für den Zeitraum zwischen 1991 und 2003 gibt es weiterhin eine Studie zu ökologischen Referenden (vgl. Worobjew 2005) und eine zu Referenden und abgelehnten Initiativen allgemein in Russland auf nationaler, lokaler und regionaler Ebene (vgl. Avtonomov 2001). Auch existiert eine russische Studie zu legaler Ausgestaltung und abgelehnten Initiativen auf nationaler Ebene in Russland im Zeitraum zwischen 1991 und 2003 (vgl. Lübarew 2005).
Vor diesem Hintergrund soll in der vorliegenden Arbeit die direkte Demokratie auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in der Russischen Föderation zwischen 1991 und 2013 untersucht. Die zentralen Fragen, die in dieser Arbeit beantwortet werden sollen, lauten: Wie hat sich die Anwendung der direktdemokratischen Verfahren in der Russischen Föderation entwickelt und wie werden diese angewendet? Haben sie eine positive oder negative Auswirkung auf das politische System hinsichtlich seiner Demokratiequalität? Dabei sind drei Hypothesen denkbar. Entsprechend den Ansichten der Theorien, die die direkte Demokratie ablehnen, könnten direktdemokratische Verfahren in Russland das schwache demokratische System weiter schwächen und sich negativ darauf auswirken. Aus der Sicht der Befürworter der direkten Demokratie sollten direktdemokratische Verfahren die Qualität des demokratischen Systems erhöhen und positive Auswirkungen haben. Es ist aber auch möglich, dass direktdemokratische Verfahren positive und negative Folgen für das System zugleich aufweisen. Direkte Demokratie könnte auch die Fehler des reprä-sentativen Systems reproduzieren und somit keine Veränderungen bewirken. Ihre Folgen für das System würden dann von dem System selbst abhängen. Weiterhin ist es von Interesse, ob die gesetzlichen Regelungen die normativen Ansprüche, damit direktdemokratische Verfahren funktionieren können, erfüllen. Letztendlich wünscht die vorliegende Arbeit die Frage zu beantworten, welche Rolle direktdemokratische Verfahren in der Russischen Föderation spielen. Diese Erkenntnisse könnten eventuell auch neue Erkenntnisse für die Theorie der direkten Demokratie, sowie die Zusammenstellung von Indices zur Bewertung der Systemqualität von Staaten liefern.
Im Kapitel 2 werden zunächst allgemeine theoretische Ausgangspunkte mit Fokus auf die Theoriegeschichte sowie eine Definition der direkten Demokratie skizziert, um die Bedeutung direkter Demokratie für demokratische Systeme und die Legitimation von Entscheidungen offenzulegen. Diese gehen auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1762) zurück. Weitere Autoren auf die Bezug genommen wird, sind Altman (2001), Schiller (2002), Schmidt (2008), Vorländer (2011), und LeDuc (2003). Danach werden die verschiedenen Arten direktdemokratischer Verfahren, auf der Basis der Kategorisierung von David Altman (vgl. Altman 2011), sowie mit Bezug auf die Arbeit von Marxer (2004) vorgestellt und Beispiele für ihre Anwendung aufgeführt. Im Anschluss wird die Nutzung der direkten Demokratie in demokratischen Systemen, schwachen Demokratien und Autokratien dargestellt. Dabei werden in erster Linie die Arbeiten von Fishkin (2009) und Altman (2011), sowie weitere Untersuchungen verwendet (vgl. Freitag, Vatter, Müller 2003; Marxer 2004; Qvortrup 2002; Wagschal, Obinger 2000). Als Nächstes werden die Vor- und Nachteile direkter Demokratie zusammengefasst, die von den theoretischen Lagern geäußert und durch empirische Studien erhoben worden sind. Dabei werden weitere Studien verwendet (vgl. Butler, Ranney 1994; Feld, Kirchgässner 2000; Freitag, Vatter, Müller 2003; Gebhardt 2002; Kaufmann, Büchi, Braun 2010; Kriesi 2005; Walker 2003). Als Letztes folgt die Untersuchung der Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung von direktdemokratischen Verfahren. Dafür wird zunächst die Systematisierung der Voraussetzungen direkter Demokratie von dem „Initiative and Referendum Institute Europe“ (IRI) (Kaufmann, Büchi, Braun 2010) verwendet, die verschiedene Kriterien der Ausgestaltung von direktdemokratischen Verfahren zusammenstellt, die für eine erfolgreiche Anwendung notwendig sind. Anschließend werden die notwendigen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung, anhand der Theorie der defekten Demokratie von Wolfgang Merkel (vgl. Merkel 2004, 2006) erörtert.
Im dritten Teil der Arbeit werden die legale Ausgestaltung und praktische Umset-zung der direkten Demokratie in der Russischen Föderation analysiert, wobei zuerst die Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation untersucht werden, um Defekte des politischen Systems aufzudecken, um danach die gesetzlichen Grund-lagen und die praktische Umsetzung direktdemokratischer Verfahren auf nationaler, regionaler und lokaler Ebenen in der Russischen Föderation zu analysieren. Der Schwerpunkt liegt dabei bei der praktischen Umsetzung.
Für die Analyse der Abstimmungen bis 2003 werden zunächst die obengenannten Studien verwendet. Alle direktdemokratischen Abstimmungen, die Fragen und Er-gebnisse seit 2003 sind in der Datenbank der zentralen Wahlkommission der Russi-schen Föderation gelistet und werden für die Untersuchung verwendet (vgl. Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation 2013). Jedoch musste die Verlässlichkeit der Information während der Recherche hinterfragt werden. Eine Liste dieser Abstimmungen für die nationale Ebene ist im Anhang I, für die regionale Ebene im Anhang II und für die lokale Ebene im Anhang III zu finden. Ebenfalls sind in den Anhängen nichtzugelassene Initiativen, die in dieser Arbeit analysiert worden sind, gelistet.
Die Untersuchung der Abtimmungen und Initiativen basiert vor allem auf der Sichtung umfangreicher schriftlicher Quellen. Hierzu zählen Artikel verschiedener Akteure, die im Internet verfügbar sind. Diese Akteure sind insbesondere nationale, regionale und lokale Zeitungen (nationale Zeitungen vgl. Gazeta.ru 29.10.2012; Nesawisimaia Gaseta 16.10.2012; Nowaia Gaseta 02.06.2005; Nowaia Gaseta 26.03.2007; RedNews.ru 11.04.2004; RedNews.ru 31.05.2005; Sowetskaia Rossia 29.03.2008; Sowetskaia Rossia 10.04.2008; regionale Zeitungen vgl. Tatarskaia Delowaia Gaseta 22.03.2012; Gazeta.ru 15.06.2009; Newsru.com 28.11.2006; Nowy Region 20.06.2009; Orenburgskie Nowosti 24.11.2011; lokale Zeitungen vgl. Argumenty i Fakty 22.03.2006; Mestnoe Samoupravlenie 30.03.2005; GasetaRK 09.11.2012; Inaja Gaseta 24.10.2012; Mestny Spros 20.04.2012; Nariana wynder 22.09.2012; Newsru.com 28.11.2006; Nowy Kaliningrad 23.05.2005; NR2 New Russia 03.07.2006; Sakhalin.info 20.12.2012; Saraiski Partisan 04.03.2013; Troitski Wariant 09.09.2011; Troitskoe Gorodskoe Wetsche 28.02.2008). Auch Artikel von russischen Nachrichtenagenturen werden untersucht (vgl. Infokam 16.11.2012; Informationsagentur Moscow IT-kernel 26.05.2004; Informations-agentur Regnum 09.09.2003; Informationsagentur Regnum 07.06.2004; Informationsagentur Regnum 22.06.2006; Informationsagentur Regnum 28.06.2006; Informationsagentur Regnum 19.11.2007; Informationsagentur Regnum 15.01.2008; Informationsagentur Regnum 14.10.2008).
Ebenfalls werden Artikel und Berichte russischer Parteien und Vereine, sowie einzelner Aktivisten analysiert (für nationale Ebene vgl. Dschigir 25.10.2005; Firsow 2002; Modschegow 20.06.2005; Politkowskaja 13.01.2004; KPRF 26.9.2005; KPRF 27.09.2005; KPRF 10.10.2005; KPRF 15.11.2005; Worotynski 20.02.2011; für die regionale Ebene vgl. Kasparow, Garri 29.04.2013; Schkola sibirskoi taigi 03.04.2006; Wohnraumsolidarität 10.06.2009; für die lokale Ebene vgl. Borsych 11.06.2013; Tschestnaia Isbiratelnaia Kampania 02.02.2012; Kongress Intelligentsii Stawropolia 17.12.2012; KPRF 05.06.2013; Malmyj 2013; Netsteklozavodu.narod.ru 20.11.2007; Pawlin 11.11.2011; Politisches Forum Djerdschinsk 26.12.2012; Rakitianskaja 24.06.2005; Za mestnoe Samoupravlenie 28.04.2013)
Weiterhin werden Berichte und Untersuchungen der ausländischen Presse und Wissenschaft verwendet (vgl. International Republican Institute 2012; Russia in the world 2003; Russland.ru 30.11.2007; Suchmaschine für direkte Demokratie 2010; The Economist 27.03.2003).
2. Direkte Demokratie, ihre Voraussetzungen, Vor- und Nachteile
Das erste bekannte direktdemokratische System bestand im Athen des antiken Griechenlands und zeichnete sich dadurch aus, dass jeder Bürger sich an Volks- und Gerichtsversammlungen beteiligen konnte und jedes Amt erfüllen durfte. Dabei müssen Einschränkungen des Begriffs Bürger beachtet werden. Frauen, Männer ohne Bürgerstatus (meist Fremdarbeiter) und Sklaven waren demnach keine Bürger. Die Gesetze wurden in der Volksversammlung beschlossen und auch die Beamten, sowie Richter wurden dort gewählt. Wenn man die Einschränkungen des Mitwirkungs-rechts für verschiedene Gruppen nicht beachtet, dann würde dieses System weitgehend die Forderungen der ersten modernen normativen Vertragstheorie, die die direkte Demokratie zur Bedingung macht, entsprechen (vgl. Vorländer 2011: 1).
Diese Theorie entwickelt Jean-Jaques Rousseau in seinem Werk „Der Gesellschafts-vertrag“ (1762), in dem er die ideale politische Ordnung darstellt. Zentral ist dabei die Souveränität des Volkes, wie sie dies auch in den heute existierenden Demokratien ist. Dies bedeutet, dass nur das Volk der Urheber eines Systems sein kann und dieses legitimieren kann. In seiner Auffassung darüber brach er, wie schon Hobbes und Locke, mit den Ansätzen des Mittelalters, die versuchen die Souveränität zu unterteilen:
„But our political theorists, unable to divide Sovereignty in principle, divide it according to its object: into force and will; into legislative power and executive power; into rights of taxation, justice and war; into internal administration and power of foreign treaty. Sometimes they confuse all these sections, and sometimes they distinguish them; they turn the Sovereign into a fantastic being composed of several connected pieces: it is as if they were making man of several bodies, one with eyes, one with arms, another with feet, and each with nothing besides.” (Rousseau 1762: 1)
Für Rousseau war Souveränität also nicht teilbar oder übertragbar und deshalb schlussfolgerte er, dass nur der Gemeinwille eine bindende Kraft entfalten kann, weshalb jedes Gesetz im Idealfall durch eine Abstimmung der Bürger auf die Übereinstimmung mit dem Gemeinwillen überprüft werden muss. Abgeordnete- so, wie dies in repräsentativen, demokratischen Systemen der Fall ist, können diese Aufgabe nicht übernehmen.
“He, therefore, who draws up the laws has, or should have, no right of legislation, and the people cannot, even if it wishes, deprive itself of this incommunicable right, because, according to the fundamental compact, only the general will can bind the individuals, and there can be no assurance that a particular will is in conformity with the general will, until it has been put to the free vote of the people.” (Rousseau 1762: 1)
Direktdemokratische Verfahren oder direkte Demokratie werden heute einerseits als eben eine solche Herrschaftsform, in der, in Abgrenzung zur repräsentativen Demokratie, über alles vom Volk direkt abgestimmt wird, und andererseits als einzelne Entscheidungsverfahren in einem repräsentativen System, bei denen die Bürger über bestimmte Sachverhalte direkt abstimmen, definiert (vgl. Schiller 2002: 13).
„Die direkte Demokratie steht im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, in der gewählte Körperschaften – insbesondere das Parlament sowie die direkt oder indirekt gewählte Regierung – als Repräsentativorgane des Volkes politisch allgemein verbindliche Entscheidungen treffen. Die Idee der Direkten Demokratie ist somit die möglichst unmittelbare Umsetzung des Willens der Bürger (volonté générale) in politische Entscheidungen.“ (Marxer 2004: 2)
In den heutigen Demokratien und vor allem in großen Staaten kann, laut dem Stand der Forschung, diese Herrschaftsform jedoch nicht umgesetzt werden. In allen real existierenden Staaten werden repräsentativdemokratische Systeme durch direkt-demokratische Elemente ergänzt (vgl. Schmidt 2008: 336; LeDuc 2003: 31). Hier kann man direkte Demokratie, entsprechend Altman (2011: 7), als:
"[a] publicly recognized institution wherein citizens decide or emit their opinion on issues- other than through legislative and executive elections - directly at the ballot box through universal and secret suffrage"
definieren. Dabei gibt es einen breiten und einen engeren Begriff der direkten Demokratie. Der breite Begriff umfasst alle Volksabstimmungen, unabhängig davon, ob die Initiative von oben oder von unten kommt. Es ist also nicht von Bedeutung, ob der Vorschlag, über den abgestimmt wird, von einem politischen Organ oder aus dem Volk kommt. Im Gegensatz dazu, werden durch den engen Begriff von oben kommende Abstimmungen, d.h. die durch politische Organe initiiert werden, ausgeschlossen. Direktdemokratisch sind demnach nur solche Abstimmungen, bei denen die Initiative von unten, also aus dem Volk kommt. Das IRI schreibt dazu:
“Thus direct democracy and popular votes are not the same thing: not all popular vote procedures are direct-democratic. A plebiscite has a quite different effect than a real referendum. Direct democracy empowers the citizens; plebiscites are tools for the exercise of power by those in power. Much misunderstanding and confusion could be avoided if direct-democratic and plebiscitary procedures were clearly distinguished from one another, and even had different names.” (Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 9)
In dieser Arbeit wird von dem breiten Begriff ausgegangen, da ein Plebiszit, also eine Abstimmung, die durch die politischen Organe initiiert wurde, unter bestimmten Umständen und zwar, wenn das Volk frei und fair entscheiden kann und die Entscheidung umgesetzt wird, eine Äußerung des Gemeinwillens darstellt (entsprechend Rousseau kann ein Gesetzesvorschlag von einem Individuum, einer Gruppe oder einem politischen Organ ausgehen), während ein Referendum, also eine Abstimmung, die von der Bevölkerung initiiert wurde, ebenfalls zu einem Instrument der Mächtigen werden kann, wie wir später im Fall Russland sehen werden.
Das heute existierende Paradebeispiel für Anwendung der direkten Demokratie ist die Schweiz, die auch als „Referendumsdemokratie“ bezeichnet wird. Dort gibt es bereits auf der nationalen Ebene vier verschiedene direktdemokratische Verfahren, die schon über 390 Mal seit 1945 angewendet worden sind. Weiterhin gibt es in den Kantonen unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten, die noch stärker etabliert sind, als auf die auf nationaler Ebene (vgl. Schmidt 2008: 343). Wie daraus schon ersichtlich wird, gibt es unterschiedliche Wege sich direktdemokratisch in einem Staat zu beteiligen. Im Folgenden werden deshalb verschiedene Arten der direktdemokratischen Beteiligung dargestellt.
2.1. Arten direktdemokratischer Verfahren
Es ist bereits deutlich geworden, dass viele unterschiedliche direktdemokratische Verfahren existieren. Die Verfahren unterscheiden sich in sieben verschiedenen Kategorien: Stoßrichtung, Urheberschaft, Zeitpunkt, Inhalt, politische Ebene, Formulierung und Verbindlichkeit (vgl. Marxer 2004: 15f; Schmidt 2008: 340; Altman 2011: 7ff). Bei der Stoßrichtung wird zwischen Verfahren, die etwas Neues beschließen wollen (Initiativen) und Verfahren, die bestehende Entscheidungen verändern oder revidieren sollen (Referenden), unterschieden. Dabei gibt es mehrere Arten von Referenden. Das obligatorische Referendum bezieht sich auf bestimmte Entscheidungen, die durch eine Volksabstimmung bestätigt werden müssen. Dies wird durch ein Gesetz bestimmt. Fakultative Referenden können optional von den Bürgern oder staatlichen Organen initiiert werden können, um bestimmte Gesetze zu verändern (vgl. Marxer 2004: 15). Obligatorische Referenden können aber auch als Initiative der staatlichen Organe betrachtet werden, da ihnen eine Entscheidung staatlicher Organe (zum Beispiel über eine Änderung von Grenzen) zugrunde liegt (vgl. Altman 2011: 13). Die Urheberschaft direktdemokratischer Verfahren kann entweder den politischen Organen oder dem Volk zugeschrieben werden. Von den politischen Organen ausgehende Referenden und Initiativen werden auch oft als Plebiszit bezeichnet (vgl. Marxer 2004: 16; Altman 2011: 8). Wenn politische Organe ein Referendum initiieren, müssen meist die Abgeordneten der legislativen Organe über die Durchführung abstimmen und mit einer einfachen, 2/3 oder doppelten Mehrheit der Abstimmung zustimmen. Bei einer Initiative aus dem Volk muss meist eine Gruppe gebildet werden, die die Frage einreicht und dann eine bestimmte Anzahl Unterschriften von Wahlberechtigten sammeln muss, damit die Frage zur Ab-stimmung der Bevölkerung zugelassen wird. Was den Zeitpunkt betrifft, so kann ein direktdemokratisches Verfahren entweder vor oder nach dem Inkrafttreten eines Beschlusses stattfinden (vgl. Marxer 2004: 16). Inhaltlich kann bei Referenden zwischen konkreten und allgemeinen Sachverhalten unterschieden werden. Konkrete Sachverhalte stellen Gesetzesänderungen auf allen Ebenen oder Entscheidungen über Verträge und einmalige Finanzbeschlüsse dar, während es sich bei allgemeinen Sachverhalten um Abstimmungen über die Ausrichtung verschiedener Politikfelder handelt. Ein weiterer Unterschied bei der Durchführung besteht bei der Ebene der Entscheidung, das heißt, ob die Entscheidung auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene beschlossen wird. Weiterhin wird bei der Formulierung unterschieden, ob es sich um eine feste Formulierung handelt, über die abgestimmt werden muss, oder zum Beispiel um ein Ziel, für das die Vorgehensweise später ausformuliert wird (vgl. Marxer 2004: 7). Schließlich können sich Referenden bei der Verbindlichkeit unterscheiden. Verbindliche Referenden werden direkt nach der Abstimmung umgesetzt, während unverbindliche nur als Empfehlung für die politischen Organe dienen, diese aber nicht binden. Eine Zwischenstufe stellt ein Referendum dar, dessen Ergebnis von einem politischen Organ (zum Beispiel Parlament) bestätigt werden muss (vgl. Marxer 2004: 18).
Eine gute Kategorisierung der Arten direktdemokratischer Verfahren erstellte David Altman in seinem Buch "Direct Democracy Worldwide" (2011). Dabei lässt er fol-gende Kriterien einfließen: woher erfolgt die Initiative, welchen Zweck hat sie und ob sie verbindlich ist oder nicht (vgl. Altman 2011: 9). Als Ergebnis stellt er seine Grafik mit der Typologie direktdemokratischer Verfahren, die insgesamt zwölf Arten umfasst (siehe Grafik 1). Zuerst definiert er den Initiator (Bürger, Gesetzgebung, staatliche Organe). Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung, da von unten kommende Verfahren den Bürger nicht nur zu einem Veto- Spieler machen, sondern ihm auch ermöglichen neue Ideen einzubringen und sich proaktiv an dem politischen Geschehen zu beteiligen. Verfahren, die durch das Gesetz festgelegt (Spalte 1 der Grafik) sind, oder durch politische Organe initiiert wurden, ermöglichen dem Bürger im besten Fall die Ausübung der Veto- Rolle, da er weder über das Thema, noch über die genaue Fragestellung entscheiden kann und so keine eigenen Ideen einbringen kann. In anderen Fällen verkommt ein solches direktdemokratisches Verfahren zu einem Instrument, das politische Akteure nutzen, um andere politische Akteure zu umgehen. Diese top-down Verfahren unterscheiden sich dabei wenig, unabhängig ob die Initiative von einem politischen Organ kommt oder rechtlich vorgesehen ist, denn in jedem Fall liegt ihr eine Entscheidung der politischen Organe zugrunde. Die gesetzlich festgelegte Abstimmung kann jedoch für politische Akteure in dem Sinne ein Hürde darstellen, dass sie sich einer Abstimmung stellen müssen, ob sie wollen oder nicht, um bestimmte Ergebnisse zu erreichen, während die Initiative von politischen Organen in jedem Fall gewünscht ist und selbst ein strategisches Instrument ist. Aber auch eine von den Bürgern initiierte Abstimmung (ein Referendum oder ein Initiative) kann zum Instrument der politischen Eliten werden, wenn auf Wunsch oder Druck bestimmter politischer Akteure eine Gruppe anfängt Unterschriften für ein Referendum oder eine Initiative zu sammeln (vgl. Altman 2011: 10-12). So unterscheidet Altman zwischen Plebisziten und Gegenvorschlägen, die von oben kommen und auf der anderen Seite Referenden und Initiativen, die von unten kommen. Dabei sind Gegenvorschläge und Referenden reaktiv, sie versuchen also ein bestehendes Gesetz zu ändern oder abzuschaffen. Initiativen sind währenddessen proaktiv sind und versuchen etwas Neues einzuführen. Plebiszite können reaktiv und proaktiv sein, je nach dem, was das Ziel der Initiative ist. Bedeutend ist, ob diese Verfahren bindend oder nicht bindend sind, denn wenn sie nicht bindend sind, müssen die Ergebnisse von den Gesetzgebern nicht berücksichtigt werden. Die Abstimmung gleicht einer Empfehlung an die staatlichen Organe und somit fungiert der Bürger nicht mehr als ein Veto- Player. Nicht alle Verfahren, die in der Grafik dargestellt sind, existieren in der Realität. Bei gesetzlich vorgeschrieben Verfahren sind keine unverbindlichen (consultive) direkt-demokratischen Verfahren bekannt. Ebenfalls gibt es kein reaktives Verfahren. Es wird nur das obligatorische (mandatory) Plebiszit angewandt, wenn zum Beispiel Verfassungsänderungen oder Grenzänderungen vom Volk bestätigt werden müssen. Bei Top-Down Verfahren gibt es nur für den beratenden Gegenvorschlag (Consultive Counterproposal) keine Entsprechung in der Realität. Sowohl fakultative, wie beratende Plebiszite (Facultative/Consultive Plebiscites) und auch legislative Gegenvorschläge (Legislative Counterproposal) werden angewandt. Fakultative Plebiszite sind wohl das am häufigsten angewandte Verfahren auf der Welt (vgl. Altman 2011: 12). Die Initiative erfolgt von staatlichen Organen (meist dem Präsidenten oder dem Parlament) und ihr Ergebnis ist bindend. Auch legislative Gegenvorschläge werden in mehreren Ländern angewandt. So kann zum Beispiel das Schweizer Parlament bei einer von den Bürgern initiieren Abstimmung einen Gegenvorschlag machen, über den gleichzeitig mit dem Vorschlag der Bürger abgestimmt wird. Natürlich können die Bürger auch gegen beide Vorschläge stimmen. Bei den Bottom-up, also von den Bürgern initiierten Verfahren existieren drei von vier Verfahren. Das beratende Referendum (Consultive Referendum) findet laut Altman in der Realität keine Anwendung. Bürgerinitiativen (Popular Initiative) und fakultative Referenden (Facultative Referendum) verlaufen im Prinzip gleich und unterscheiden sich nur dadurch, dass die Initiative eine Gesetzesschaffung oder Änderung zum Ziel hat, während das Referendum den Bürgern die Möglichkeit gibt ein Gesetz abzuschaffen. Die beratenden Initiativen haben das gleiche Ziel, wie die fakultativen, jedoch sind ihre Ergebnisse nicht verbindend. Altman schreibt, dass diese auch sehr selten vorkommen, so habe er nur einen Fall aus Kolumbien gefunden, wo 1990 eine beratende Initiative von einer Studentenbewegung initiiert wurde.
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Grafik 1
Quelle: Altman 2011: 11
Bei der Untersuchung der Russischen Föderation wird in dieser Arbeit deutlich, dass dieses Instrument auch dort angewendet wird und Auswirkungen auf die staatlichen Handlungen hat. Die Abwahl von Amtsträgern durch die Bevölkerung wird ebenfalls als ein direktdemokratisches Verfahren, eine populäre Initiative betrachtet. Dabei müssen die Bürger über die Abwahl abstimmen und danach einen neuen Amtsträger wählen. Es ist jedoch fraglich, ob solche Verfahren den Kriterien der direkten Demokratie entsprechen, da hier über die Wahl von Repräsentanten und nicht über Sachfragen entschieden wird. Insgesamt gibt es also sieben Verfahrensarten, die in der Realität angewendet werden (vgl. Altman 2011: 12-16). Alle diese Verfahrensarten wurden in der Literatur aus theoretischer Sicht sowie empirisch untersucht. Nachfolgend werden die theoretischen Annahmen über die direkte Demokratie und ihre Verwendung in verschiedenen Systemen vorgestellt, um im Anschluss die theoretischen Annahmen mit Hilfe der empirischen Untersuchungen zu überprüfen.
2.2. Direkte Demokratie aus theoretischer Sicht
Der Erforschung der direkten Demokratie wird in der Demokratieforschung allge-mein nur wenig Beachtung geschenkt. Während viele theoretische Strömungen die direkte Demokratie eher ablehnen, wird dieses Thema in empirischen Unter-suchungen der Staaten und ihrer Systeme oft ganz ausgelassen. So findet man in den großen Indices zur Bewertung der Demokratiequalität keine Bewertung der direkt-demokratischen Verfahren der Länder. Es gibt kaum einen Konsens darüber was direkte Demokratie genau ist, welche Verfahren sie beinhaltet und wie sie bezeichnet werden sollten. Die Autoren erörtern eher die Frage, ob direkte Demokratie gut oder schlecht für das repräsentative demokratische System ist. Während sich Autoren wie Schumpeter und Dahl gegen die direkte Demokratie aussprechen, betonen andere Strömung die positiven Seiten der direkten Demokratie. Genauso wenig aber wie man die repräsentative Demokratie als schlecht oder gut definieren kann, kann man das auch mit der direkten Demokratie tun. Fakt ist, dass direkte Demokratie immer häufiger angewendet wird und in immer mehr Staaten zum politischen Alltag dazugehört. Wie Altman (2011: 2) in seinem Buch schreibt, stellen diese Autoren die falschen Fragen, denn viel wichtiger ist es zu fragen, die Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, damit direkte Demokratie ihren Zweck erfüllen kann und wie direkte Demokratie konkret in bestimmten Staaten ausgeformt ist und angewendet wird. Diese Fragen helfen direkte Demokratie besser zu verstehen und die Antworten bieten Möglichkeiten die direktdemokratischen Verfahren zu verbessern. Um die Theorie der direkten Demokratie aber zu verstehen, ist es hilfreich die verschiedenen Theorien und ihre Bewertungen der direkten Demokratie hier darzustellen.
2.2.1. Demokratische Systeme
Die modernen Demokratietheorien beschäftigen sich alle am Rande mit direktdemokratischen Verfahren, meist im Kontext der repräsentativen Demokratie, in der gewählte Vertreter die Gesetze erlassen. Dabei können direktdemokratische Verfahren bei bestimmten Entscheidungen angewandt werden, um so eine hohe, wenn nicht die höchste Legitimität der Entscheidung zu gewährleisten und eine Kontrolle über die Tätigkeit der Abgeordneten auszuführen. Die direkte Demokratie wird von den verschiedenen Theorien unterschiedlich bewertet. Eine gute Übersicht und Einordnung dieser Ansätze bietet Wilfried Marxer vom Liechtenstein Institut. Er ordnet die verschiedenen Theorien in einer zweidimensionalen Matrix ein (siehe Grafik 2), wodurch es ihm gelingt, Gegner und Befürworter direkter Demokratie zu identifizieren.
Während deliberative und partizipative Demokratietheorien der direkten Demokratie positive Effekte zuschreiben, sehen die ökonomische und die traditionell-elitistische Theorien direktdemokratische Verfahren eher negativ. Eine dritte Gruppe (perfor-manzorientierte Pluralistische, komplexe, systemtheoretische, sozialistische, Demokratietheorien) verlangt eine empirische Prüfung, die die Vor- oder Nachteile für einzelne Gesellschaften erhebt und auswertet. Die empirischen Befunde im Bereich der direkten Demokratie deuten darauf, dass direktdemokratische Verfahren sehr unterschiedliche Auswirkungen in verschiedenen Gesellschaften haben können (vgl. Freitag, Vatter, Müller 2003; Qvortrup 2002; Wagschal, Obinger 2000). Altman ordnet die demokratischen Theorien nach der Gewichtung von vier Kriterien: "Thus, democracy today can be fit under four umbrella concepts: freedom, equality, sovereignity, and control" (Altman 2011: 4). Während sich einige Theorien eher mit dem Output einer Demokratie beschäftigen, also untersuchen wie eine Demokratie
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Grafik 2 , Quelle: Marxer 2004: 11
die besten Ergebnisse produziert, konzentrieren sich andere auf den Input, also darauf wie diese Entscheidungen zustande kommen. Für outputorientierte Theorien sind Gleichheit und die Kontrolle von hoher Bedeutung. Auch die Effizienz und Effektivität sind für sie wichtig, weshalb sie neutral bis negativ zur direkten Demokratie eingestellt sind. Für inputorientierte Theorien stehen vor allem Souveränität und Kontrolle im Vordergrund. Partizipation und hohe Legitimität sind ebenfalls wichtig. Hier spielt die direkte Demokratie eine große Rolle, da sie die Legitimität der Entscheidung erhöht und mehr Partizipation verspricht (vgl. Altman 2011: 34). Eine ausführliche Untersuchung mit ähnlichen vier Konzepten bietet Fishkin (2009: 65-81) in seinem Buch "When the people speak" an. Hier unterscheidet er Theorien nach ihren Schwerpunkten bei den vier Konzepten: Gleichheit, Vermeidung der Mehrheitstyrannei, Partizipation, und Deliberation und stellt auf dieser Grundlage vier Theorien vor: die kompetetive Demokratie und die elitäre Deliberation, welche outputorientiert sind und die partizipative und deliberative Demokratie, welche inputorientiert sind (vgl. Fishkin 2009: 65). Den outputorientierten Theorien ist die Vermeidung der Mehrheitstyrannei (Kontrolle) am wichtigsten, während intputorientierte Theorien Wert auf politische Partizipation, bzw. Deliberation (was Altman als Souveränität beschreibt) legen. Verschiedene demokratische Theorien gewichten die Wichtigkeit der vier Konzepte unterschiedlich stark, wodurch eine negative, neutrale oder positive Einstellung zu den Mechanismen der direkten Demokratie begründet wird. Diese Untersuchung wird in dieser Arbeit als Ausgangsbasis für die Untersuchung der Vor- und Nachteile der direkten Demokratie verwendet. Auch die anderen zwei Autoren (Marxer 2004; Altman 2011: 34-41) kommen zu ähnlichen Ergebnissen bei der Untersuchung der theoretischen Konzepte, wie Fishkin (2009).
Für die Beantwortung der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist es ebenfalls von Vorteil von einer neutralen Position auszugehen. Deshalb werden im nächsten Abschnitt die von verschiedenen Theorien angenommenen Vor- und Nachteile direkter Demokratie vorgestellt und anschließend die empirischen Befunden aufgezeigt. Schließlich soll sich mit den Voraussetzungen auseinandergesetzt werden, die für die direkte Demokratie notwendig sind.
2.2.1.1. Kompetitive Demokratie
Kompetitive Demokratie nimmt eine minimale Position in der Demokratieforschung ein. Der Fokus liegt dabei auf den Wahlen und der Institutionalisierung von Rechten, die Minderheiten schützen. Ein berühmter Vertreter ist zum Beispiel Joseph Schumpeter.
Dabei spielt der meinungsbildende Prozess, also die Deliberation in der Öffentlichkeit nur eine unbedeutende Rolle. Deliberation bedeutet dabei einen Meinungsaustausch zum bestimmten Sachverhalt und die anschließende Lösungsfindung. Zentral ist der Wettbewerb der Parteien um die Stimmen der Bevölkerung. Somit wäre aus dieser Sicht das Ziel der Demokratie einen reibungslosen Wahldurchgang und eine reibungslose Machtübergabe sicherzustellen. Da Parteien, entsprechend den theoretischen Annahmen, sowieso meist die Meinung des durchschnittlichen Wählers umsetzen, würden sich ihre Entscheidungen auch nicht besonders von Entscheidungen differenzieren, die die vom Volk direkt getroffen werden. Zentral sind also die Wahlen, die den Wechsel der Regierungen ermöglichen. Diese können dann die Entscheidungen nach klaren Regeln und Gesetzen treffen und entsprechend dem Volkswillen agieren. Schumpeter steht dabei nicht für politische Gleichheit, da er die Frage, wer wählen darf und wie alle Stimmen gleich berücksichtigt werden können, eher umging.
Die Deliberation und damit die direkte Demokratie werden neutral bis negativ bewertet. Sie wird teilweise mit zu hohen Kosten einer Entscheidung verbunden, die die Entscheidung aber in den Augen der Vertreter dieser Theorie nicht besser machen würden. Auch wird den Bürgern Unfähigkeit mit komplexen Sachverhalten umzugehen und über diese zu urteilen, unterstellt. Vertreter sehen keine Motivation für eine sinnvolle Partizipation. Partizipation findet nur dann statt, wenn starke Emotionen im Spiel sind. So würde sich die Öffentlichkeit in anderen Fällen nicht für die Politik interessieren und sich mit ihr beschäftigen. Eine weitere Befürchtung ist, ob die Partizipation der Maßen zu einer Tyrannei der Mehrheit führt, da dann Rechte von kleinen Gruppen leicht beschnitten werden können. Demokratische Reformen sollten sich aus dieser theoretischen Sicht deshalb darauf konzentrieren, die Prozesse der Amtsbesetzung zu verbessern (vgl. Fishkin 2009:65ff).
2.2.1.2. Elitäre Deliberation
Die theoretischen Annahmen der elitären Deliberation überschneiden sich stark mit den Annahmen der kompetitiven Demokratie, da die breite Bevölkerung nicht unbedingt an Entscheidungen beteiligt werden soll. Wichtigste Vertreter dieser Theorie sind Madison und Mill.
Die öffentliche Meinung muss dabei im besten Falle durch Repräsentanten gefiltert werden, die dann durch Deliberation eine bessere Entscheidung treffen können, als wenn die gesamte Bevölkerung diese Entscheidung treffen sollte. Zentral sind bei diesem Konzept die Deliberation und die Vermeidung der Tyrannei durch die Mehrheit. Diese zwei Aspekte können durch Repräsentanten beachtet werden.
Die Repräsentanten spiegeln nicht die Meinung der Bevölkerung wieder, sondern entscheiden so, wie die Bevölkerung entscheiden würde, wenn sie optimal informiert wäre. Dazu müssen sie optimal informiert sein und auf Grundlage von Argumente ihre Entscheidung treffen. Dies ermöglicht eine optimale Entscheidungsfindung, da die Bevölkerung selbst nur schlecht informiert sei und ihre Stimmen deshalb nicht dem entsprechen würden, wie sie bei guter Informationslage abstimmen würden. Auch die Minderheiten werden dadurch geschützt, dass die Repräsentanten nicht entsprechend ihren Faktionen oder Parteien entscheiden sollen, sondern nach der Argumenten- und Gesetzeslage. Deshalb würden sie auch den Minderheitenschutz beachten (vgl. Fishkin 2009: 71ff).
2.2.1.3. Partizipative Demokratie
Diese theoretische Richtung stellt die Konzepte der politischen Gleichheit und Partizipation in den Vordergrund. Aus der Sicht der partizipativen Demokratie muss direkte Beteiligung einen größeren Anteil in der repräsentativen Demokratie haben. Direkte Beteiligung muss häufig stattfinden. Dabei bedeutet dies nicht nur, dass die Bevölkerung die Repräsentanten wählt, sondern dass sie auch über Sachverhalte abstimmt. Direktdemokratische Verfahren sollen hier die Partizipation der Bürger an dem politischen Geschehen fördern. Hier wird die Demokratie als gestört betrachtet, wenn zum Beispiel bestimmte Bevölkerungsgruppen an dem Entscheidungsprozess nicht teilhaben können. Während die Partizipation, aufgrund der Bedrohung durch die Mehrheitstyrannei und uninformierte Entscheidungen in den vorangegangenen Theorien nicht als wichtig oder sogar als gefährlich betrachtet wird, ist sie hier als Grundlage der Demokratie anzusehen. Alle Bürger müssen an der Entscheidungs-findung über Abstimmungen beteiligt werden. Es müssen jedoch nicht alle Entscheidungen von den Bürgern direkt getroffen werden. Dies kann man in großen Gesellschaften nur schlecht realisieren. Zudem muss die Gleichheit der Abstimmung beachtet werden, damit direktdemokratische Verfahren ihre Wirksamkeit entfalten können. Das ist aber oft in der Realität nicht gegeben (vgl. Fishkin 2009: 76ff).
2.2.1.4. Deliberative Demokratie
Zentral sind hier die Beachtung der Konzepte der politischen Gleichheit und der Deliberation. Der prominenteste Vertreter dieser Theorie ist Jürgen Habermas. Wünschenswert ist aus dieser Sicht ein Meinungsaustausch, also Deliberation unter allen Bürgern mit einer anschließenden Abstimmung. Dies sei jedoch in heutigen Staaten mit sehr hohen Kosten und einem sehr hohen Aufwand, um die Menschen zu mobilisieren, verbunden.
Es ist kostspielig Diskussionsplattformen für alle Interessierten bereitzustellen, wenn man sich zum Beispiel die Bevölkerungszahl von Deutschland vor Augen führt. Das andere Problem wäre es die Bürger für diese Diskussionen zu begeistern. Bereits zu den Abstimmung über verschiedene Sachverhalte stimmen bei weitem nicht alle wahlberechtigten Bürger ab. So kamen zum Volksentscheid in Hamburg im Jahr 2010, bei dem über eine Schulreform abgestimmt worden ist, nur 39% der Wahlberechtigten zur Abstimmung (vgl. Zeit Online 18.07.2010). Für eine richtige Diskussion müssen die Bürger viel mehr Zeit als für eine Abstimmung aufwenden, was zu einem noch niedrigeren Prozentsatz der Bürger, die sich beteiligen, führen könnte. Dies bedeutet, dass auch mehr Aufwand betrieben werden muss, um die Bürger für eine Deliberation zu motivieren. Deshalb schlägt Fishkin in seinem Buch vor, dass die Deliberation in Mikrokosmen stattfinden sollte. Das heißt, dass eine repräsentative Anzahl an Bürgern zufällig, aus einem Pool von willigen Personen ausgewählt wird, um an einer Diskussion und Abstimmung über den Sachverhalt teilzunehmen. Diese Gruppe von Bürgern würde auch die Meinung der gesamten Gesellschaft abbilden, da sie für die Gesellschaft repräsentativ zusammengesetzt ist.
Das Problem dieser Theorie dreht sich dabei um die Frage, was für eine Zusammen-setzung der Gruppe denn repräsentativ für die gesamte Gesellschaft ist. Von der Zusammensetzung eines solchen Mikrokosmos und seinen Informationsquellen würde die Erfüllung der Normen der Deliberation und der politischen Gleichheit abhängen, denn wenn eine Fraktion der Gesellschaft überdurchschnittlich vertreten wäre oder die Information, die zu Verfügung steht, auf irgendeine Weise gefiltert ist oder nicht allen Teilnehmer gleichermaßen zu Verfügung steht, dann werden die Ergebnisse nur bedingt dem informierten Wunsch der Gesellschaft entsprechen.
Deutlich wird bei der Betrachtung der Theorien, dass die Meinungen der Demokratieforscher weit auseinandergehen. Während Theorien, die auf den Output ausgerichtet sind und effektive und effiziente Ergebnisse vorzeigen wollen, die direkte Demokratie als ein Hindernis für das Erreichen dieser Ziele sehen, sehen intputorientierte Theorien in der direkten Demokratie die notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, in der die Entscheidungen ausreichend legiti-miert sind. Jedoch gibt es nicht nur konsolidierte Demokratien sondern auch andere Regime, die direktdemokratische Verfahren anwenden. Aus diesem Grund soll im nachfolgenden die Verwendung direktdemokratischer Verfahren in schwachen Demokratien und autoritären, bzw. totalitären Systemen dargestellt werden.
2.2.2. Schwache Demokratien
Die Existenz und Verwendung direktdemokratischer Verfahren in demokratischen Systemen kann aus der Sicht mancher Theoretiker auch auf eine schwache, oder defekte Demokratie hindeuten. Dazu muss man sich zunächst die Entstehung und Verwendung direktdemokratischer Verfahren in einem Staat anschauen. Laut Barczak und Altman (vgl. Altman 2011: 111) werden direktdemokratische Verfahren Teil neuer Verfassungen, wenn Akteure, die vom politischen Leben vorher ausgeschlossen waren, die Kontrolle übernehmen und wenn die Legislative und Exekutive sich gegenseitig blockieren. So können verschiedene politische Akteure mit Hilfe von direkten Abstimmungen umgangen werden. Der Präsident kann so zum Beispiel das Parlament umgehen, oder umgekehrt. Barczak argumen-tiert in diesem Zusammenhang, dass direktdemokratische Verfahren damit die Gewaltenteilung untergraben und das System schwächen. Altman sieht es eher umgekehrt:
"Whereas she claims that MDD's [mechanisms of direct democracy] weaken representative Institutions, my point is that weak representative institutions open the door for the use and abuse of MDDs because of the lack of the check and balances characteristics of representative democracies- in other words, exactly the opposite can be argued." (Altman 2011: 111)
Vorstellbar ist also, dass direktdemokratische Verfahren bereits existieren und damit eine Möglichkeit bieten, das repräsentative System bei bestimmten Entscheidungen zu umgehen, in dem der Präsident zum Beispiel ein Referendum einberuft. Die Sichtweise von Altman erscheint dabei als sinnvoll, denn das repräsentative System wird nicht durch den Missbrauch direktdemokratischer Verfahren geschwächt, sondern es ist bereits schwach, da es keine Vorrichtungen hat, die einen solchen Missbrauch der direkten Demokratie verhindern würden. Die Eliten arbeiten dann offensichtlich nicht um den Willen des Volkes umzusetzen, sondern um ihre Interessen durchzusetzen. Dies wäre auch der Fall, wenn es keine direkte Demokratie in diesem Land gäbe. Altmans Untersuchungen von Beispielen in Lateinamerika zeigen ebenfalls, dass die horizontale politische Kontrolle bereits vor der Einführung direktdemokratischer Verfahren vermindert war und somit erst den Missbrauch der direktdemokratischen Verfahren möglich wurde (vgl. Altman 2011: 135). Wichtig sind diese Konstella-tionen in der Zeit von Umbrüchen. Wenn alte politische Institutionen nicht effektiv arbeiten und die Bevölkerung mit ihnen unzufrieden ist, ist es leicht für neue poli-tische Akteure diesen Institutionen die Schuld für die schlechte Lage des Landes zu geben und sie als unfähig zu diffamieren. Die neuen Akteure (meist Präsidenten) können dann direktdemokratische Verfahren nutzen, um diese alten Institutionen zu umgehen (vgl. Altman 2011: 137). "MDDs could be a practical instrument in the hands of political outsides, becoming one of their preferred tools because they mobilize, they are 'really' democratic, and they legitimize". Es bleibt die Frage, in wie weit eine solche Institution und die aus ihr entstehende Entscheidung legitim sein können, wenn das Verfahren und die Ergebnisse von den politischen Akteuren so beeinflusst werden, dass das von ihnen gewünschte Ergebnis zustande kommt. Bei solcher Anwendung der direkten Demokratie spielen besonders die Plebiszite eine wichtige Rolle, denn hier wird der Prozess von Beginn an von politischen Eliten kontrolliert. Sie formulieren bereits die Frage der Abstimmung, sodass es noch mehr Raum für die Manipulation der Ergebnisse gibt (vgl. Altman 2011: 138).
2.2.3. Autoritäre Systeme
Altmans empirische Untersuchungen zeigen, dass direktdemokratische Verfahren eher in Demokratien angewendet werden, als in autoritären oder totalitären Systemen. Es gibt jedoch eine Reihe von Staaten, für die direktdemokratische Verfahren von großer Bedeutung sind, obwohl sie autoritär, oder sogar totalitär regiert werden. Zu solchen Staaten zählt er zum Beispiel Syrien, Irak, Turkmenistan, Aserbaidschan, aber auch das national-sozialistische Deutschland. Im Unterschied zu demokratischen Systemen, werden diese Instrumente in autoritären Systemen jedoch nicht dazu angewendet, den Willen des Volkes zu erheben, oder die Politik der Repräsentanten zu korrigieren, sondern mit dem vorrangigen Ziel das Regime zu stärken. Der Prozess wird durch die Eliten des Landes kontrolliert, die Bevölkerung wird nur durch die regimekonformen Eliten mobilisiert und die Medien berichten einseitig. Wenn die Abstimmung nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt, werden die Ergebnisse meist angepasst. Dabei gehen manche subtil vor, sodass es nicht offensichtlich ist, dass die Ergebnisse abgeändert worden sind und nur durch Nachforschung ein Betrug nachgewiesen werden kann. In anderen Regimen ist der Betrug offensichtlich. So sind Ergebnisse mit 99,99% oder sogar 100% Wahl-beteiligung und 99,99% Zustimmung keine Seltenheit. Altman führt 39 Referenden in verschiedenen Ländern an, die eine Beteiligung von mindestens 95% und eine Zustimmung von 98% aufweisen (vgl. Altman 2011: 90-94). Bereits die Fragestellung wird so formuliert, dass die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung erhöht werden kann. Die Regierungen setzen also alle ihre Möglichkeiten ein, um die Abstimmung zu ihren Gunsten ablaufen zu lassen, denn ihre Ziele sind nicht die Sicherstellung demokratischer Beteiligung der Bevölkerung, sondern die Aufrecht-erhaltung des autoritären Regimes. So kann laut Altman der Gebrauch direkt-demokratischer Verfahren eine Illusion aufrechterhalten, dass in dem Staat tatsächlich noch demokratische Prozesse stattfinden, um andere Staaten und die eigene Bevölkerung zu beruhigen. Auch als ein vereinigendes Instrument können solche Abstimmungen dienen. Ein so großes Ereignis, das anscheinend so positiv ausfällt, dass sich alle einig sind und so viel Aufregung auflöst, verstärkt die Identifikation zwischen der Bevölkerung und den Eliten. Das politische Regime kann damit auch international seine Macht demonstrieren. Kämpfe zwischen den einzelnen Gewalten können in schwachen Demokratien aber auch in autoritären Systemen über die Abhaltung der Referenden ausgefochten werden. In den ehemaligen Sowjetrepubliken zeigt Altman deutlich auf, wie die Exekutive, also vor allem der Präsident durch Referenden die Machtverteilung zu seinen Gunsten ändern konnte (vgl. Altman 2011: 92, 96).
Zusammenfassend sagt Altman:
"Plebiscites in the no-freedoms context tend to simply strengthen the government for a period of time in much the same manner as any other event that mobilizes people (e.g., Olympic Games, World Football Cups, or even a war). From this perspective, they do not particularly change the political landscape whether or not they exist." (Altman 2011: 108)
Die Untersuchung der theoretischen Annahmen verschiedener Demokratietheorien über die Anwendung direkter Demokratie in demokratischen Systemen, sowie die Untersuchung der direktdemokratischen Verfahren und ihren Missbrauches in schwachen Demokratien und autoritären Systemen zeigen bereits mögliche Vor- und Nachteile der direktdemokratischen Verfahren. Diese werden jetzt im nächsten Abschnitt ausführlich analysiert und mit empirischen Befunden ergänzt.
2.3. Vor und Nachteile direktdemokratischer Verfahren
In Anlehnung an Schiller und Mittendorf, fasst das IRI, das direkte Demokratie aus der Sicht einer partizipativen Demokratietheorie betrachtet, die positiven Auswirkungen direktdemokratischer Verfahren zusammen (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 90f). Diese werden im Nachfolgenden der Kritik der Gegner direktdemokratischer Verfahren, den angenommenen Nachteilen und empirischen Befunden gegenübergestellt. Diese Vor- und Nachteile tauchen ebenfalls in anderen Abhandlungen über direkte Demokratie auf (vgl. Schmidt 2008; Marxer 2004, Altman 2011).
2.3.1. Tyrannei der Mehrheit vs. Schutz der Minderheit und Partizipation
Die Gefährdung der Minderheiten durch Mehrheitsbeschlüsse, die durch direktdemokratische Verfahren erfolgen, wurde in dieser Arbeit bereits angespro-chen. Aus der Sicht des IRI führen direktdemokratische Verfahren jedoch zu einer besseren Einbindung der Minoritäten. Direktdemokratische Verfahren bieten Minoritäten eine Möglichkeit ihre Probleme öffentlich zu diskutieren und dadurch Unzufriedenheit nicht ansteigen zu lassen (vgl. Schiller 2002: 46).
„Direct-democratic procedures empower voters and serve (together with federalism and proportional representation) as mechanisms of power-sharing. This is especially important for those minorities whose interests are represented either inadequately or not at all through the representative organs i.e. government and parliament.” (Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 69)
Ein Beispiel für gelungene Konfliktlösung ist die separatistische Bewegung aus der Jura Region in der Schweiz, die sich durch die Kantonregierung nicht repräsentiert fühlte und deshalb einen eigenen Kanton verlangte. Durch direkte Demokratie wurde das Problem an die Öffentlichkeit gebracht und als Endergebnis ein neuer Kanton geschaffen (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 60). Eine direkte Demokratie kann jedoch mit dem gleichen Erfolg zu einem dauerhaften Ausschluss bestimmter Gruppen führen, wenn sich immer eine bestimmte Mehrheit durchsetzt (vgl. Marxer 2004: 37; Schmidt 2008: 345; LeDuc 2003: 31). Minoritäten können aber durch verschiedene Hürden geschützt werden (zum Beispiel durch Überprüfung der Gesetzgebung von einem Gericht) (vgl. LeDuc 2003: 42).
Studien zeigen, dass nur etwa 20% der untersuchten direktdemokratischen Verfahren Ergebnisse hatten, die Minderheiten beschnitten. Dabei wurden direktdemokratische Abtstimmungen in der Schweiz, sowie in Kalifornien untersucht. Wichtig ist hierbei die Größe der Gemeinschaft, in der abgestimmt wird. Laut den Studienergebnissen tendieren kleinere Gesellschaften eher zu homogenen Entscheidungen, die die Rechte der Minoritäten beschneiden. In großen Gesellschaften findet man dagegen eine größere Heterogenität der Interessen und deshalb sind Minoritäten in großen Gesellschaften weniger gefährdet (vgl. Altman 2011: 46). So hängt die Entfaltung der Vor- oder Nachteile für die Minderheiten zunächst von der Konstellation im Land ab. Auch gesetzliche Regelungen können die positiven oder negativen Folgen direktdemokratischer Abstimmungen für Minderheiten begünstigen.
2.3.2. Erosion der Macht der gewählten Vertreter
Ein weiteres Argument gegen die Anwendung direktdemokratischer Verfahren ist die Annahme, dass solche Verfahren die Macht der gewählten Vertreter untergraben und damit das gesamte repräsentative System untergraben würden (vgl. Altman 2011: 48ff). Der Behauptung direktdemokratische Verfahren würden die repräsentative Demokratie schwächen, ist entgegenzusetzen, dass die gewählten Repräsentanten die Aufgabe haben, den Willen den Volkes zu vertreten und umzusetzen. Vor diesem Hintergrund sind direktdemokratische Verfahren als Instrumente des Volkes zu betrachten, mit Hilfe der die Bürger den Kurs der Repräsentanten korrigieren können. Altman schreibt in diesem Zusammenhang:
"... CI-MDDs [Citizen Initiated Mechanisms of Direct Democracy] are not intended to supplant representative democracy but rather to serve as intermittent safety valves against perverse or unresponsive behavior of representative institutions and politicians." (Altman 2011: 2)
Entsprechend der Prinzipal-Agent-Theorie wählen die Bürger (Prinzipal) die Abgeordneten (Agent), damit diese den Willen der Bürger umsetzen. Dabei ist es unmöglich, dass die Abgeordneten exakt den Willen der Bürger befolgen und die Entscheidungen, die die Abgeordneten treffen, können willentlich oder unwillentlich von den Vorstellungen des Volkes abweichen. Hier kann die direkte Demokratie den Kurs der Abgeordneten korrigieren, indem die Bürger ihren Willen äußern und damit den Abgeordneten eine neue Anweisung geben (vgl. Altman 2011: 33). Dazu ist die eigentliche Abstimmung manchmal gar nicht notwendig, da schon die Androhung einer Initiative oft dazu führt, dass die Abgeordneten ihre Entscheidung oder Einstellung überdenken, damit die Konfliktsituation nicht eskaliert. Dies bestätigen auch empirische Untersuchungen. So schreibt Altman, dass in Uruguay 70% der Gesetzgeber angekündigte Initiativen in ihrer Politikausrichtung beachten und ihre Politiken entsprechend anpassen, auch wenn die eigentlichen Abstimmungen im Endeffekt nicht stattfinden. Ebensolche Ergebnisse zeigen auch die Daten aus der Schweiz (vgl. Altman 2011: 49). Diese Tatsache legt nahe, dass nicht erfolgreiche Initiativen ebenso untersucht werden müssen, um die Folgen und den Erfolg direktdemokratischer Verfahren zu bewerten.
Laut dem IRI fördern direktdemokratische Verfahren die Akzeptanz der Politik, die Zufriedenheit und höhere Identifizierung mit dem politischen System bei den Bürgern. Durch eine breite Diskussion können Entscheidungen getroffen werden, die von einer großen Mehrheit mitgetragen werden (vgl. Marxer 2004: 33f). Auf der anderen Seite beklagen die Gegner, eine direkte Demokratie würde keine schlüssige Politik machen, da die Mehrheiten und somit Positionen je nach Thema wechseln. Dies ist zu hinterfragen, da vor allem in Systemen ohne Parteizwang auch im Parlament sachbezogen und nicht nur parteibezogen abgestimmt wird. Weiterhin wird die direkte Demokratie für ihre Tendenz kritisiert, Sachverhalte zu vereinfachen und Meinungsmache zu betreiben, sodass die Bürger sich nicht wirklich frei entscheiden könnten (vgl. Marxer 2004: 37; Schmidt 2008: 344). Einen Extremfall solcher unfreien Entscheidungen stellen Volksabstimmungen in autoritären Systemen dar, in denen direktdemokratische Elemente benutzt werden, um dem Volk zu suggerieren, es könne sich frei entscheiden (vgl. Schmidt 2008: 350). Der Miss-brauch der direkten Demokratie deutet aber, wie bereits am Anfang erwähnt, nicht auf die Schwächung des demokratischen Systems durch direktdemokratische Verfahren, sondern auf eine Schwäche des demokratischen Systems, die unabhängig von der Anwendung direktdemokratischer Verfahren besteht.
2.3.3. Effizienz und Effektivität
Aus ökonomischer Sicht hat die direkte Teilnahme der Bürger im Gegensatz zu repräsentativen Methoden, laut empirischen Studien, einen positiven Effekt auf die Wirtschaft. Eine solche Untersuchung wurde von Gebhard Kirchgässner und Lars Feld (2000) durchgeführt, in der die Kantone der Schweiz bezüglich ihrer wirtschaft-lichen Leistung und der Korrelation dieser mit Anwendung direktdemokratischer Verfahren untersucht wurden. Orte mit stärker etablierten direkten Demokratie, wo vor allem über finanzielle Ausgaben abgestimmt werden musste, haben demnach eine bessere Wirtschaftsbilanz, was sich in weniger Ausgaben, weniger Schulden, und einer besseren wirtschaftlichen Leistung äußert (vgl. Feld, Kirchgässner 2000: 302; Altman 2011: 53). Jedoch bremst direkte Demokratie oft Reformen in diesem Bereich aus. Da die Bürger sich mit den Kosten der Pläne beschäftigen, vermeiden sie eher hohe Steuern und Ausgaben, was vor allem den Umbau oder auch Abbau im sozialen Bereich verhindert (vgl. Schmidt 2008: 345; Freitag, Vatter, Müller 2003: 363). Zusätzlich führt die konservative Haltung dazu, dass Neuerungen erst später angenommen werden, sodass sie eventuell zu spät übernommen werden. Dadurch können aber auch Fehler verhindert werden, in dem die Erfahrungen anderer, die die Entscheidung bereits getroffen haben, genutzt werden. Im Extremfall kann direkte Demokratie zu einem „Reformstau“ führen (vgl. Schmidt 2008: 346).
Von den Gegnern wird die niedrige Effizienz direktdemokratischer Verfahren angeprangert. Der große Aufwand, der mit nationalen Abstimmungen einhergeht, sei nicht immer verhältnismäßig zu den Ergebnissen, die gleich null sein können. Dies hängt aber vom politischen Standpunkt ab, da auch die Ablehnung einer Reform für Manche eine positive Auswirkung haben kann (vgl. Marxer 2004: 38; Schiller 2002: 46). Der große Aufwand ist damit verbunden, dass die direkte Bürgerbeteiligung den Prozess der Gesetzgebung wesentlich komplizierter, kostspieliger und länger macht (vgl. Altman 2011: 50). Dass die Kosten und die Dauer des Gesetzgebungsprozesses bei der Anwendung direktdemokratischer Verfahren steigen, ist nicht zu übersehen. Während ein Parlament ein Gesetz bereits nach einer Sitzung beschließen kann, müssen bei einer Initiative die Wahlkommission und das Parlament zur Überprüfung der Initiative eingeschaltet werden, es müssen Unterschriften der Wahlberechtigten zur Durchführung der Abstimmung gesammelt werden und die Abstimmung selbst muss beworben und organisiert werden. Dies ist mit zusätzlichen Kosten und zu-sätzlichem Aufwand verbunden. Die Frage aber bleibt, ob die hohe Legitimität einer direktdemokratisch getroffenen Entscheidung die höheren Kosten und den zusätzli-chen Aufwand rechtfertigt (vgl. Altman 2011: 52). Diese Frage kann in dieser Arbeit nicht beantwortet werden und unterliegt der subjektiven Wahrnehmung und der Positionierung innerhalb der demokratischen Theorien. Wenn der Input eine größere Rolle spielt als der Output, dann wird das direktdemokratische Verfahren immer besser sein. Andersherum, wenn der Output wichtig ist und davon auszugehen ist, dass man mit beiden Verfahren das gleiche Ergebnis erreichen wird, ist das reprä-sentative Verfahren vorzuziehen, da es weniger Kosten für das gleiche Ergebnis verursacht. Es gibt jedoch keine Gewissheit, dass die Ergebnisse der beiden Ver-fahren sich gleichen werden oder, dass das eine Ergebnis besser als das andere sein wird. Bei funktionierenden demokratischen Strukturen gibt es jedoch die Gewissheit, dass das Ergebnis eine höhere Legitimität haben wird, wenn es direktdemokratisch entschieden wird. Deshalb wäre aus dieser Sicht ein direktdemokratisches Verfahren vorzuziehen, auch wenn es höhere Kosten verursacht und lange dauert. Die Kosten können weiterhin durch die Zusammenlegung der Abstimmungen mit Wahlen gesenkt werden. Die höheren Kosten der direktdemokratischen Verfahren sind also kein Argument gegen die Verwendung direktdemokratischer Verfahren.
2.3.4. Fähigkeit der Bürger Entscheidungen zu treffen
Direktdemokratische Verfahren fördern eine gleichberechtigte Partizipation aller Bürger in dem politischen Prozess, die aus der Sicht der intputorientierten Demokratietheorien wünschenswert ist. Eine direkte Demokratie aus der Sicht der partizipativen Demokratietheorie gibt den Bürgern die Möglichkeit nicht nur im Protest ihren Willen auszudrücken, sondern durch konstruktive Vorschläge die Politik in allen drei Dimensionen (politische Institutionen, politische Prozesse, einzelne Sachverhalte) zu ändern. So kann das Volk eigene Ideen auf die Agenda setzen (vgl. Walker 2003: 19; Gebhardt 2002: 12). Zusätzlich verstärkt sie die Beachtung von Menschenrechten, da durch die direkte Demokratie das demokratische Verständnis der Bürger vertieft wird. Dies wiederum senkt die Chance für autoritäre Politik und Aushöhlung des demokratischen Systems (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 75). Diese Vorteile der Partizipation werden von den Gegnern direkter Demokratie kritisiert, da sie meist davon ausgehen, dass viele Bürger nicht fähig sind, sich effektiv am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen und gute Ergebnisse zu sichern (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 59f; Walker 2003: 26):
“In this view these people simply lacked everything which the exercise of political governance required: a sense of responsibility (which only those with property and wealth acquire), a knowledge of justice and laws, far-sightedness, a sense for the common good, education, culture and sound judgement.” (Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 60)
Eine solche Sichtweise wird jedoch von den Vertretern partizipativer Demokratie als eine Begründung der Machteliten, die ihre Macht sichern wollen und deshalb die Bürger als unfähig darstellen, gesehen. „The image of the politically incompetent citizen can be understood as an expression of the superior power of politicians over ‘ordinary citizens’” (Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 67). Hier wird auch repräsentative Demokratie kritisiert, die diesen Status quo beizubehalten versucht. “Their relationship is one of institutionalised categorical inequality. It determines the practical division of roles: citizens elect and politicians decide” (Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 67). In ihren Augen können Bürger gerade durch Einführung direkter Demokratie das benötigte Wissen erlangen, um effektiv an dem politischen Leben teilzunehmen. Zusätzlich können durch direktdemokratische Verfahren Unwahrheiten aufgedeckt werden, da die Bürger unabhängig von der Politik Themen ansprechen können (Kontrollfunktion) (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 69; Schiller 2002: 46). Unterstützend ist natürlich eine umfassende politische Bildung der Bürger notwendig (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 67). Die These der Befürworter lautet deshalb, dass direkte Demokratie die politische Kompetenz fördert (vgl. Schmidt 2008: 344). Dies sehen sie in empirischen Befunden bestätigt, die aufzeigen, dass sich Schweizer Bürger zu 60% gut über Politik informiert fühlen, während in weniger direktdemokratischen Systemen, wie zum Beispiel in Österreich, dies nur 30% der Bürger von sich behaupten (vgl. Kriesi 2005; Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 68f, 72). Hier muss man jedoch anmerken, dass es schwierig ist den kausalen Zusammenhang zu bestimmen. Nutzen Bürger direktdemokratische Verfahren, weil sie so gut informiert sind, oder sind sie so gut informiert, weil sie direktdemokratische Verfahren nutzen. Wichtig ist auch, in wie weit die Bürger diese Möglichkeiten nutzen. Die Wahlbeteiligung bei früheren Abstimmungen zeigt, dass sich oft nur Wenige beteiligen, sodass man davon ausgehen kann, dass nicht die gesamte Bevölkerung repräsentiert ist (vgl. Marxer 2004: 35; Le Duc 2003: 42). Aus weiteren empirischen Ergebnissen aus der Schweiz wird zumindest deutlich, dass sich an solchen Abstimmungen eher obere und mittlere Schichten beteiligen, die im Durchschnitt besser gebildet sind. Desweiteren können solche Abstimmungen zum Instrument der Reichen werden (vgl. Schmidt 2008: 346; Walker 2003: 24f). Wer also mehr investiert, gewinnt. In dieser Frage sind die empirischen Befunde jedoch widersprüchlich. Während in den USA, zum Beispiel in Kalifornien, zwar mit Geld nicht immer das gewünschte Ergebnis erzielt wird, jedoch die Wahrscheinlichkeit stark ansteigt, einen Vorschlag zu diskreditieren, trifft dies in der Schweiz überhaupt nicht zu (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 81). Zusätzlich kann aus der Sicht der Gegner direkte Demokratie sogar zu weniger Partizipation führen, in dem gut organisierte Gruppen durch Androhung eines Referendums bereits Zugeständnisse von der Seite der Regierung erzielen und somit eine breite Diskussion verhindern können (Referendumsfestigkeit) (vgl. Schmidt 2008: 347; Gebhardt 2002: 8). Insgesamt kann Partizipation aber das Interesse der Bürger an Politik fördern und zu einer erhöhten Identifikation der Bürger mit dem politischen System führen (vgl. Marxer 2004: 3).
2.3.5. Missbrauch durch Eliten
Wie bereits angesprochen ist der mögliche Missbrauch der Verfahren durch die Eliten des Landes, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, ein weiteres Problem der direktdemokratischen Verfahren (vgl. Altman 2011: 54). Der Zugang der Akteure zu Medien, finanziellen Mitteln und ihre Beziehungen zu politischen Akteuren sind hierbei sehr wichtig. Geld spielt hier eine Rolle, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen. Besonders in den USA werden sehr hohe Summen für die Werbung der eigenen Position durch verschiedene Gruppen ausgegeben. Altman führt ein Beispiel an, bei dem 154 Mio. $ für Wahlkampf vor der Abstimmung von allen Parteien ausgegeben wurden. Dabei ging es um die Einführung einer zusätzlichen Einkommenssteuer auf Einkommen aus der Ölindustrie (vgl. Altman 2011: 54). Ebenfalls werden Unterschriften und Stimmen manchmal gekauft, um den gewünschten Ausgang der Abstimmung zu garantieren (vgl. Altman 2011: 54f). Dies kann aber zum Beispiel über gesetzliche Regelungen für Spenden unterbunden werden, sodass juristische und private Personen keine sehr hohen Summen für eine Kampagne spenden können, um sie somit zu beeinflussen (vgl. Altman 2011: 54f). Es gibt auch Fälle, in denen Referenden in demokratischen Staaten nicht stattfinden, obwohl sie im Interesse eines großen Teils der Bevölkerung zu sein scheinen. So führen Butler und Ranney sechs Referenden in Osteuropa zwischen 1990-1992, die zwar initiiert wurden und für die auch eine ausreichende Zahl von Unterschriften gesammelt worden ist, diese aber trotzdem nicht zu Stande kamen (vgl. Butler, Ranney 1994: 211). Auch in der ehemaligen Sowjetunion wurden zwischen 1990 und 1993 13 Referenden vorgeschlagen, die aber im Endeffekt nicht erfolgten (vgl. Butler, Ranney 1994: 213f). Als Beispiel führen sie die tschechoslowakische Referendumsinitiative, die das Ziel hatte die Trennung von Tschechien und der Slowakei zu verhindern. Umfragen zeigten, dass über 70% der Tschechen und Slowaken für ein solches Referendum waren. Das tschechische Parlament hat im Jahr 1991 ein Gesetz verabschiedet, nach dem die Trennung beider Staaten nur nach einem Referendum erfolgen konnte. Im Oktober 1991 hat Präsident Havel dann vorgeschlagen so ein Referendum abzuhalten, aber die meisten Parteien waren gegen ein solches Referendum, weshalb Präsident Havel vorschlug, dass das Referendum auf Wunsch von 500000 Tschechen und 250000 Slowaken stattfinden konnte. Es wurden über 2 Mio. Unterschriften gesammelt. Im Mai 1992 fanden Parlamentswahlen statt, die die "Demokratischen Bewegung" der Slowakei und die "Zivile Demokratische Partei" der Tschechischen Republik gewonnen haben. Diese verhandelten unter einander über die Trennung der Tschechischen und Slowakischen Republiken mit dem Ergebnis, dass das Parlament im November 1992 eine Verfassungsänderung verabschiedete, die die Auflösung des tschechoslowakischen Staates ohne ein Referendum erlaubte, was binnen weniger Monate zu einer Trennung der Staaten ohne die Abhaltung eines Referendums führte (vgl. Butler, Ranney 1994: 210ff). Butler und Ranney schließen aus diesem und anderen Beispielen für nicht stattgefundene Referenden, dass Referenden, auch wenn sie von der Bevölkerung gewünscht sind oft nicht stattfinden, weil sie nicht im Interesse der Eliten des Landes sind.
"Although referendums appear to be the ultimate method for checking the pulse of democracy, they are inherently limited by the machinations of elites who can decide if and when to hold them, what will be asked, what will be said through the media, how success will be defined, and whether to abide by the results." (Butler Ranney 1994: 215)
Es gibt aber auch viele Beispiele für erfolgreiche Referenden, oder solche die von Eliten forciert werden, weil sie in ihrem Interesse stehen. Insgesamt hängt der Einfluss der Eliten auf Referenden davon ab, welche Stellung sie allgemein im demokratischen Systemen besitzen und ob sie das Stattfinden des Referendums als Gefahr für ihre Position sehen. Dies trifft auf demokratische, sowie autoritäre Regime zu. Auch in hoch entwickelten Demokratien werden Referenden verhindert, wie zum Beispiel bei der Wiedervereinigung Deutschlands, im Zuge deren diskutiert worden ist, ob nach der Wiedervereinigung das Grundgesetz bestehen bleibt, oder über eine neue Verfassung abgestimmt wird (vgl. Deutschlandfunk 23.08.2010: 1). Auch eine von den Bürgern initiierte Abstimmung (ein Referendum oder eine Initiative) können zu Instrumenten der politischen Eliten werden, wenn auf Wunsch oder Druck bestimmter politischer Akteure eine Gruppe von Bürgern anfängt Unterschriften für die Zulassung der Abstimmung zu sammeln (Altman 2011: 12).
2.4. Voraussetzungen für erfolgreiche Anwendung
In den vorangegangenen Abschnitten wurden die Vorteile, aber auch die Gefahren der direkten Demokratie ausführlich erörtert. Für viele sind die genannten Gefahren ein Grund, um direktdemokratische Verfahren nicht anzuwenden und sich voll-kommen auf die Institution der repräsentativen Demokratie zu verlassen. Wie Altman richtig betont, wurden auch die Institute der repräsentativen Demokratie oft missbraucht und haben die demokratischen Werte und Normen untergraben, jedoch führt dies nicht dazu, dass sie abgeschafft werden, sondern dazu, dass nach immer neuen Regeln für die erfolgreiche Umsetzung der repräsentativen Theorien geforscht wird (vgl. Altman 2011: 3). Die Argumente gegen die direktdemokratischen Verfahren lassen sich ebenfalls ähnlich für die repräsentative Demokratie formu-lieren (vgl. Altman 2011: 42,59). Bei richtiger Anwendung der direkten Demokratie sind die vielen Vorteile nicht zu übersehen. So wird sichtbar, dass die Voraus-setzungen für das Erzielen der positiven Effekte weiter erforscht werden müssen. Nur dann können die Instrumente der direkten Demokratie und die Rahmen-bedingungen für ihren Einsatz in der Realität so gestaltet werden, dass die positiven Effekte vorherrschen und die negativen so weit wie möglich zurückgedrängt werden. Außerdem nimmt die Verwendung direktdemokratischer Verfahren weiter zu und verbreitet sich in immer mehr Staaten der Welt. Das Ziel der Forschung sollte also sein, Vorschläge für die Verbesserung der Verfahren zu machen und Konzepte zu erstellen, die die grundlegenden Regeln für den erfolgreichen Gebrauch der direkten Demokratie erörtern, anstatt die direkte Demokratie ganz abzulehnen.
"I claim, however, that to understand the extremely complex world of direct democracy, research agendas must tackle at least three critical aspects of direct democracy: 1) the design, 2) the institutional milieu where they transpire and 3) interaction between 1) and 2)." (Altman 2011: 190)
Diese Voraussetzungen werden in diesem Teil der Arbeit erörtert.
2.4.1. Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren
Um die positiven Wirkungen zu entfalten, müssen direktdemokratische Verfahren grundsätzliche Voraussetzungen erfüllen. Diese wurden von dem IRI in ihrem Handbuch zu Direkten Demokratie systematisiert (vgl. Kaufmann, Büchi, Braun 2010: 191ff). In der nachfolgenden Tabelle sind die Voraussetzungen gelistet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Anzahl der Unterschriften, die gesammelt werden müssen, damit die Abstimmung stattfindet, ist ein wichtiges Kriterium. Schließlich sollten die Bürger zeigen, dass die Abstimmung in ihrem Interesse liegt und deshalb stattfinden sollte. Diese Hürde reicht in verschiedenen Ländern von 2 bis 25% der Wahlberechtigten und kann auch zu einem Instrument der Mächtigen werden, wenn sie sehr hoch oder sehr niedrig gesetzt wird, sodass die Durchführung von Initiativen erleichtert oder erschwert wird (vgl. Altman 2011: 18f).
Auch die Zeit zum Unterschriftensammeln ist von Bedeutung, da es zum Beispiel sehr schwierig wäre in einem Staat mit einer geringen Bevölkerungsdichte, aber hoher Bevölkerungszahl und schlechter Infrastruktur, Unterschriften von 10% der Wahlberechtigten in nur einer Woche zu sammeln. Die Hürde muss den Bedin-gungen im Land angepasst werden, sodass sie die Durchführung des Referendums nicht erschwert oder unmöglich macht. Auch die Art der Unterschriftensammlung kann die Initiative erschweren oder erleichtern.
Die Bedingungen, dass die Referendumsfrage klar formuliert sein muss und der Wortlaut der Initiative frei bestimmt werden kann, sollen ebenfalls verhindern, dass die Abstimmung durch politische Eliten beeinflusst wird oder für ihre eigenen Zwecke missbraucht wird. Die formalen Anforderung, wie die Verfahren zum Einreichen der Frage, zum Sammeln und Einreichen der Unterschriften und zur Bestätigung oder Ablehnung der Initiative, müssen klar definiert sein, da es ansonsten passieren kann, dass die Anforderungen so interpretiert werden, dass die Initiative abgelehnt wird, obwohl eine andere Interpretation zulässig wäre. Die Verfassung und Interpretation der Anforderungen bieten hier den Eliten ebenfalls eine Möglichkeit an, den Erfolg der Initiative zu beeinflussen.
Bei der Mindestwahlbeteiligung ist die Vermeidung der Untergrenzen von Bedeutung, da diese dazu führen können, dass die Verfechter des Status quo einfach zu Hause bleiben und dadurch die Abstimmung ungültig ist, auch wenn sich eine große Mehrheit der Wähler für eine Änderung aussprechen würde. In manchen Staaten müssen sich eine Mindestzahl aller Wahlberechtigten dafür aussprechen, unabhängig davon wie viele insgesamt wählen gegangen sind (vgl. Altman 2011: 19-23). Altman untersucht die Auswirkungen der beiden Begrenzungen (der Mindestwahlbeteiligung und der Mindestwahlzustimmung) und stellt fest, dass schon der Einsatz einer solchen Hürde die Wahrscheinlichkeit einer Änderung (also des positiven Ausgangs) in Folge einer Abstimmung senkt und der Einsatz beider Hürden gemeinsam die Wahrscheinlichkeit stark einschränkt (vgl. Altman 2011: 20). So werden die Verfechter des Status quo bevorteilt und haben mehr Aussichten auf Erfolg als die Befürworter der Änderung. Nicht nur eine Untergrenze der Wahl-beteiligung sollte vermieden werden, sondern auch andere Anforderungen an die Beteiligung müssen laut Atman (2011: 19) ebenfalls beachtet werden. In manchen Staaten sind doppelte Mehrheiten erforderlich, damit das Ergebnis gültig wird. Die Mehrheit der Wähler und die Mehrheit der Staaten müssen sich für oder gegen aussprechen. Dadurch gibt es die Möglichkeit für ein zusätzliches Veto. Dies fordere den Schutz der Minoritäten.
Der Ausschluss bestimmter Themen darf, wenn überhaupt, nur sehr vorsichtig ange-wendet werden. Er kann zum Instrument der Eliten werden und starke Beschrän-kungen für die Durchführung von Abstimmungen auferlegen, die im Zweifelsfall zu Gunsten der Interessen der Mächtigen ausgelegt werden könnten, sodass uner-wünschte Fragen möglicherweise abgelehnt werden. Dies wird besonders im Fall Russlands sichtbar werden.
Die Beratung durch ein unabhängiges Gremium und die finanzielle Unterstützung der Initiative sind natürlich wünschenswert, da sie den Bürgern die Einleitung und Durchführung der Initiative erleichtern.
Eine ähnliche Zusammenstellung bieten auch weitere Autoren (vgl. Schiller 2002: 15f; Walker 2003: 27f; Marxer 2004). Wichtig ist ebenfalls, dass das Verfahren frei und fair verläuft, die Initiativgruppe die Möglichkeit hat ihre Fragen frei vorzuschlagen und nicht daran behindert wird Stimmen der Unterstützer zu sammeln. Ziel ist es, dass alle Gruppen frei ihre Position in den Medien darstellen können, die Bürger ausreichend Information bekommen, um ihre Entscheidung informiert zu treffen und in einer freien und fairen Abstimmung am Ende kundzutun. Dies hängt zum einen von der Ausgestaltung des Verfahrens selbst und zum anderen von den Rahmenbedingungen ab. Dies wird im Folgenden erörtert.
2.4.2. Rahmenbedingungen
In diesem Abschnitt werden die Rahmenbedingungen eines politischen Systems beschrieben, die notwendig sind, damit die Bürger direktdemokratische Verfahren zur Kontrolle der Repräsentanten und zur Willensäußerung nutzen können und diese Verfahren nicht durch die politischen Eliten des Landes missbraucht werden. Die Voraussetzungen, die das IRI zu beachten empfiehlt, müssen an den Kontext in dem jeweiligen Land angepasst werden. Die Größe, Bevölkerungsdichte, Geographie, Infrastruktur, wirtschaftliche Stärke, politische Landschaft, Demokratiequalität, also Gewaltenteilung, freie und faire Wahlen, Medienfreiheit und die Beachtung der Bürger- und Menschenrechte müssen bei der Anpassung der direktdemokratischen Verfahren und bei ihrer Bewertung berücksichtigt werden. Auch die Machtverteilung und die Beziehungen in der Gesellschaft spielen hierbei eine Rolle (vgl. Altman 2011: 30).
Die Qualität des demokratischen Systems ist hierbei von zentraler Bedeutung. Bei schwachen oder defekten Demokratien werden sich die Defekte des repräsentativen Systems auch auf die direktdemokratischen Verfahren ausdehnen (vgl. Altman 2011: 35). Wenn Korruption im System weit verbreitet ist, oder die Gewaltenteilung in der Realität missachtet wird, sodass zum Beispiel die Exekutive Einfluss auf die Legislative und die Judikative hat, so ist es auch wahrscheinlich, dass direkt-demokratische Verfahren ebenfalls der Korruption ausgesetzt sind oder, dass die Exekutive auch hier versucht ihre Interessen durchzusetzen. Auch die Bildung und der Lebensstandard der Bevölkerung spielen eine Rolle, da arme Menschen ohne Bildung eher zu Nichtwählern werden und auch mehr Probleme haben sich ausreichend zu informieren (vgl. Altman 2011: 36). Deshalb ist es nicht ausreichend eine Definition der Demokratie zu wählen, die sich nur danach richtet, ob die Wahlen frei und fair verlaufen und alle Bürger die Möglichkeit haben daran teilzunehmen, wie zum Beispiel das Polyarchiekonzept von Dahl fordert (vgl. Altman 2011: 35). Vielmehr ist es notwendig auch die politischen Strukturen, die Machtverhältnisse zwischen den Machthabern, der Bevölkerung und der Opposition, die Medien-landschaft und die Achtung der Bürger- und Menschenrechte zu untersuchen (vgl. Altman 2011: 33f). Dazu eignet sich das Konzept der defekten Demokratie von Wolfgang Merkel.
Die defekte Demokratie befindet sich auf einem Kontinuum zwischen einer Autokratie und einer liberalen Demokratie. Dabei zeichnet sich defekte Demokratie durch das Nichtfunktionieren eines oder mehrerer Teilregime aus. Einer liberalen Demokratie nach Merkel (2004: 36ff) liegen fünf funktionierende Teilregime zugrunde:
(1) Wahlregime:
Die Souveränität liegt beim Volk. Wahlen müssen frei und fair sein und alle Bevölkerungsgruppen einschließen. Dieses Regime hat eine zentrale Position. Ein Defekt dieses Regimes bedeutet meist, dass das Land autoritär ist.
(2) Politische Teilhaberechte oder Partizipation:
Die Bürger müssen die Möglichkeit zur Versammlung und freien Meinungsäußerung haben. Dabei sollten private Medien eine Einflussmöglichkeit auf das politische Geschehen haben, Interessengruppen müssen sich frei entfalten können und politische Parteien dürfen nicht unterdrückt werden.
(3) Bürgerliche Freiheitsrechte:
Die Bürgerrechte sollen jeden Bürger vor der Exekutive des Staates schützen, die mit ihren Entscheidungen möglicherweise diese Rechte einschränken könnte. Diesen Schutz müssen weitere Instanzen, zum Beispiel unabhängige Gerichte, gewährleisten (vgl. Merkel 2004: 40).
(4) Gewaltenteilung:
Das vierte Teilregime beinhaltet eine Gewaltenteilung und die daraus entstammende „horizontal accountability“. „By horizontal accountability we understand,[...] that elected authorities are surveyed by a network of relatively autonomous institutions and may be pinned down to constitutionally defined lawful action“ (Merkel 2004: 40). Die drei Gewalten sollen nach Merkel autonom und interdependent sein. Jede Gewalt muss die andere überprüfen können, dabei nicht über den anderen zwei stehen und deren Entscheidungen beeinflussen. Vor allem die Exekutive muss durch die Judikative überwacht werden (vgl. Merkel 2004: 41).
(5) Effektive Regierungsgewalt:
Zu Letzt ist es notwendig, dass die Personen regieren, die auch gewählt worden sind (vgl. Merkel 2004: 41). Dieses Kriterium soll nach Merkel gewährleisten, dass nicht das Militär oder andere Akteure den Staat, anstelle der Gewählten, regieren. Zwar dürfen bestimmte Organisationen wie die Gerichte oder die Zentralbank einzelne politische Entscheidungen treffen, doch diese Macht wird ihnen von den demokratischen Institutionen auferlegt (vgl. Merkel 2004: 42).
Im Fall, dass eines der Regime nicht funktioniert, spricht Merkel also von einer defekten Demokratie, dabei unterscheidet er zwischen vier Arten defekter Demokratien:
(1) Exklusive Demokratie:
Wenn eine oder mehrere Personen von dem aktiven oder passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind, ist das Wahlregime beschädigt, jedoch gilt das Land noch nicht als autoritär (vgl. Merkel 2004: 49).
(2) Delegative Demokratie
Wenn Regierungen mit einem starken Präsidenten das Parlament und die Gerichte beeinflussen und somit das Prinzip der Gewaltenteilung unterlaufen, sowie Machtrelation zu ihren Gunsten verschieben, spricht Merkel von delegativer Demokratie. In diesem Typ defekter Demokratie ist das Teilregime „Gewaltenteilung“ defekt. Die Judikative und Legislative haben weniger Macht um die Exekutive zu beeinflussen (vgl. Merkel 2004: 50).
(3) Illiberale Demokratie
Illiberale Demokratie weist ebenfalls Mängel bei der Gewaltenteilung auf. Die Exekutive und die Legislative werden nur unzureichend von der Judi-kative bewacht. Die Verfassung hat nur wenige Auswirkungen auf die Tätigkeiten der Regierung. Bürger- und Menschenrechte werden miss-achtet oder sind noch gar nicht im Gesetz verankert (vgl. Merkel 2004: 49)
(4) Enklavendemokratie
Enklavendemokratien zeichnen sich durch eine „Veto- Macht“ aus. Diese könnten zum Beispiel das Militär, die Miliz oder Wirtschaftsunternehmen sein. Sie übernehmen bestimmte Bereiche in der Politik von den legitimen Volksvertretern und entscheiden selber oder blockieren zumindest nicht erwünschte Entscheidungen (vgl. Merkel 2004: 50).
2.5. Zwischenfazit
In diesem Teil der Arbeit wurde die direkte Demokratie aus theoretischer Sicht untersucht, dabei flossen auch empirische Befunde ein, um die theoretischen Argumente zu überprüfen. Nach der Definition und der Darstellung der Theoriegeschichte der direkten Demokratie wurden die verschiedenen Arten der direkten Demokratie vorgestellt, die sich in sieben verschiedenen Kriterien unter-scheiden können. Insgesamt konnten sieben verschiedene Arten direkt-demokratischer Verfahren identifiziert werden. Danach wurden die verschiedenen Positionen der einzelnen Demokratietheorien zur direkten Demokratie vorgestellt und erörtert. Während intputorientierte Theorien die direkte Demokratie befürworten, lehnen outputorientierte Theorien diese eher ab. Die verschiedenen Vor- und Nachteile, die die Theorien hervorbringen wurden nachfolgend untersucht und durch empirische Befunde ergänzt, sodass manche bestätigt und manche entkräftet worden sind. Zuletzt wurden die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung direktdemokratischer Verfahren dargestellt. Zu einen müssen die Verfahren selbst bestimmte Voraussetzungen erfüllen und zum anderen müssen die Rahmenbedingungen günstig sein, damit direktdemokratische Verfahren ihre Stärken entfalten können. Auf dieser Grundlage werden im nächsten Abschnitt die direktdemokratischen Verfahren in Russland, ihre legale Ausgestaltung und ihre praktische Anwendung untersucht.
3. Direkte Demokratie und ihre Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation
Gesetzlich verankert waren direktdemokratische Abstimmungen bereits in der Ver-fassung der Sowjetunion aus dem Jahr 1936 und der ihr untergeordneten Verfassung von Russland aus dem Jahr 1937 (vgl. Art. 49 der Verfassung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken). Dabei konnte die Initiative nur vom dem Präsidium des Obersten Rates oder von einer der Republiken der Sowjetunion erfolgen. Die Ergebnisse waren nicht verbindlich. Ab 1977 waren auch verbindliche Abstimmungen möglich. In der Zeit der Sowjetunion wurde dieses Instrument nie angewendet und auch eine ausführlichere Gesetzesakte zur Durchführung solcher Abstimmungen wurde bis zum Jahr 1990 nicht erlassen.
Erst während des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurde die direkte Demokratie zum ersten Mal angewendet. Im Jahr 1991 wurde über den Zusammenbleib der Sowjetstaaten in einer Union abgestimmt. Nach dem Zerfall der Union hat sich Russland für ein demokratisches, föderales System entschieden, dessen Verfassung in einem Referendum 1993 bestätigt worden ist. Boris Jelzin wurde Präsident und regierte das Land bis zur Wahl von Wladimir Putin im Jahr 2000. Im ersten Zeitraum wurde Russland von den meisten Wissenschaftlern als eine Demokratie, die jedoch nicht konsolidiert ist und immer noch Mängel aufweist, gesehen. Mit dem Amtsantritt Putins verschärfte sich die Situation. Freiheiten wurden immer weiter beschnitten und die Regierung nahm, durch Rezentralisierung und Verstaatlichung der Macht, teilweise autoritäre Züge an (vgl. Mommsen, Nussberger 2007: 9; Uffelmann 2011: 1). Jedoch wurden gleichzeitig wirtschaftlich und militärisch Fortschritte gemacht, weshalb Putin in der Bevölkerung beliebt war (vgl. Uffelmann 2011: 1). Nach zwei Amtszeiten durfte Putin nicht mehr als Präsident kandidieren und hat seitdem den Posten des Ministerpräsidenten inne, während Medwedew als Präsident gewählt worden ist. Dieser zeigte und zeigt mehr demokratische Tendenzen, als sein Vorgänger, jedoch ist kein klarer Umbruch erkennbar (vgl. Uffelmann 2011: 2). Nach einer Amtszeit kandidierte Putin erneut als Präsident und gewann die Wahlen. Medwedew bekleidet seitdem das Amt des Minister-präsidenten. Das politische System Russlands wurde seit der Regierung Jelzins von den meisten Wissenschaftlern immer wieder als eine defekte Demokratie oder eine nicht konsolidierte Demokratie eingestuft (vgl. Knobloch 2002; Merkel 2006; Eibel 2010; Uffelmann 2011). In dieser Zeit wurden direktdemokratische Verfahren in der Russischen Föderation über 1000 Mal angewendet. Für den Zeitraum bis Dezember 2003 gibt es zwar keine verlässlichen Daten über die Häufigkeit der Anwendung, es wird aber von mehr als 500 Verfahren ausgegangen. Für die Zeit danach sind alle Abstimmungen in der Datenbank der Russischen zentralen Wahlkommission gelistet und umfassen 13 Abstimmungen auf regionaler Ebene, sowie 400 stattgefundene Abstimmungen auf lokaler Ebene. Auf der nationalen Ebene gab es nur 3 Abstimmungen 1991 und 1993. Nach diesen Abstimmungen wurden von den politischen Organen keine Abstimmungen vorgeschlagen und Initiativen aus der Bevölkerung wurden nicht zugelassen. Es gab jedoch zahlreiche Initiativen, die in dieser Arbeit untersucht werden.
3.1. Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation
Um die Einbindung der direkten Demokratie in ein solches System und die Frage danach, welche Vor- oder Nachteile der direkten Demokratie dabei in Erscheinung treten, zu untersuchen, müssen zuerst die politischen Rahmenbedingungen aus der Perspektive der defekten Demokratie beleuchtet werden. Da viele Abstimmungen die föderale Struktur des Landes betreffen, werden im nachfolgenden Teil der Arbeit auch die föderale Struktur und ihre Entwicklung dargestellt.
3.1.1. Das politische System der Russischen Föderation- zwischen Demokratie und autoritärem Staat
Russland ist ein semipräsidiales System mit einem direktgewählten Präsidenten, der für eine Periode von 4 Jahren gewählt wird (ab 2012 für 6 Jahre). Die Legislative (Föderationsversammlung) besteht aus zwei Kammern, dem Föderationsrat und der Staatsduma. Während die Dumaabgeordneten in direkten Wahlen (durch Verhältniswahl) bestimmt werden, sitzen im Föderationsrat jeweils zwei Vertreter aus jedem Subjekt (entspricht einem Bundesland in Deutschland) Russlands. Die Gesetze werden von der Duma vorgeschlagen und müssen durch den Föderationsrat bestätigt werden und vom Präsidenten unterschrieben werden. Ein Veto des Födera-tionsrates kann durch eine Zweidrittelmehrheit in der Duma überwunden werden, während das Veto des Präsidenten einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern bedarf. Die Exekutive wird von der Regierung der Russischen Föderation gebildet, der der Ministerpräsident vorsteht. Er wird von dem Präsidenten ernannt und von der Duma bestätigt. Verweigert die Duma drei Mal die Bestätigung, darf der Präsident die Duma auflösen und Neuwahlen anordnen. Alle Richter des Verfassungs-gerichtes, des oberen Gerichtshofes und des oberen Schiedsgerichtes, sowie der Generalstaatsanwalt werden vom Präsidenten vorgeschlagen und von dem Födera-tionsrat bestätigt. Weiterhin ernennt der Präsident die Gouverneure der Subjekte Russlands, die wiederum zur Hälfte den Föderationsrat bilden (vgl. Mommsen 2010: 424- 456). Russland teilt sich in 83 Subjekte und zwar 21 Republiken, 46 Gebiete (Oblast), 9 Regionen (Kraj), 4 Autonome Kreise, 2 Städte mit Subjektstatus (Moskau und Sankt Petersburg), und 1 Autonomes Gebiet. Die 83 Subjekte sind wiederum seit 2002 zu 8 Föderationskreisen zusammengefasst, denen jeweils ein vom Präsidenten ernannter Vertreter vorsteht. Die Subjekte werden weiter in Kreise gegliedert (vgl. Heinemann-Grüder 2011: 1).
Diese grundlegenden politischen Strukturen zeigen bereits eine starke Rolle des Präsidenten. Diese wurzelt in dem Kampf zwischen dem ersten Präsidenten Boris Jelzin und den damals noch bestehenden alten sowjetischen Organen der Legislative um die Verfassung und die Kompetenzen politischer Organe, die nach dem Zusammenbruch des UDSSR noch nicht geklärt waren. Der Präsident gewann diesen Kampf mit Hilfe direkter Demokratie, die jedoch fragwürdig eingesetzt worden ist (vgl. Mommsen 2010: 420-424). Mit Hilfe von Dekreten hat sich Jelzin mit seinem Verfassungsvorschlag durchgesetzt, der eine solch starke Stellung des Präsidenten festschrieb. Die präsidialen Kompetenzen unterwandern teilweise die Gewalten-teilung, da der Präsident durch seine Ernennungsbefugnisse einen entscheidenden Einfluss auf alle drei Gewalten besitzt. Auch das Parteiensystem gilt aufgrund des Misstrauens und der starken Stellung des Präsidenten als schwach (vgl. Avtonomov 2001: 166). Trotzdem wird die erste Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991 bis 1999), die durch die Regierung des Präsidenten Boris Jelzin geprägt worden ist, als eine vergleichsweise demokratische Periode des Landes gesehen. Die Wahlen in dieser Zeit werden als grundsätzlich frei und fair eingestuft und die Presse als frei (vgl. Mommsen 2007: 236). Die Verfassung, sowie föderale Gesetze entsprechen den demokratischen Standards und enthalten auch grundlegende Partizipations- und Bürgerrechte (vgl. Mommsen 2010: 424). Auch die Judikative wurde als unabhängig eingestuft. Jedoch waren die starke Stellung des Präsidenten, die Verbindung zwischen der Regierung und den russischen Wirtschaftseliten, sowie starke Korruption gravierende Probleme, weshalb Merkel (2006: 170, 322f) Russland als eine delegative Demokratie einstufte. Auch stufte Jörn Knobloch bereits 2002 Russland, in einer der ersten Studien zur defekten Demokratie in Russland, aufgrund der vorher genannten Probleme als eine delegative und illiberale Demokratie ein (vgl. Knobloch 2002).
Mit dem Amtsantritt Putins begann die 2. Phase, die durch eine Zentralisierung der Macht und den autoritären Regierungsstil von Putin bis heute geprägt wird. Putin brachte jedoch neue Stabilität und Wirtschaftswachstum für Russland, das 1998 Bankrott anmelden musste (vgl. Mommsen, Nussberger 2007: 9f; Mommsen 2007; Uffelmann 2011: 1). Von den meisten Autoren wird die Regierungszeit Putins im Vergleich zu Jelzin negativer bewertet. Putin, seinen Unterstützern, aber auch anderen Politikern auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene wird eine Ent-demokratisierung des Landes vorgeworfen. Die Gewaltenteilung ist weiterhin nur zum Teil gegeben und die Judikative, sowie Legislative werden von der Exekutive gelenkt. Die Staatsduma wird durch die regimetreue Partei Einiges Russland, die eine absolute Mehrheit besitzt, kontrolliert. Einschränkung der Medien und der Ver-sammlungsfreiheit werden immer wieder bekannt und die Wahlen gelten nicht mehr als uneingeschränkt frei und fair. Es wird von Betrug bei der Stimmenauszählung und von einseitiger Berichterstattung in den Medien gesprochen. Das neuste Beispiel sind die in diesem Jahr wiedereingeführten Wahlen der Gouverneure der Subjekte der Russischen Föderation, die am 08.09.2013 stattfanden. In Moskau, wo der Gouverneur gleichzeitig auch das Amt des Bürgermeisters inne hat, wurde der Kandidat der Opposition Alexej Nawalny nur weniger Monate vor der Wahl wegen Veruntreuung festgenommen und zu 5 Jahren Haft verurteilt, er bleibt jedoch bis zum endgültigen Ergebnis des Berufungsverfahren in Freiheit. Zusätzlich versuchte Kreml ihn durch Behauptungen in dem Medien weiter zu schwächen. unter-schiedlichste Vorwürfe zu seiner Wahlkampagne und seinem Leben wurden öffentlich gemacht. Dabei versprach sich die Regierung, dass Nawalny dadurch geschwächt wird und bei der Wahl eine Niederlage einfährt. Damit würde er sich selbst diskreditieren. Nawalny konnte jedoch 27% der Stimmen auf sich vereinigen, was den Kreml schwach aussehen lässt. Unabhängige Beobachter berichten bei dieser Wahl von einseitiger Berichterstattung und von Betrug bei Stimmabgaben. So sollen Soldaten massenhaft zu Wahllokalen gefahren worden sein, um ihre Stimmen für Putins Kandidaten Sergej Sobjanin abzugeben, der am Ende die Wahl mit 51% gewonnen hat (vgl. Zeit Online 08.09.2013: 1; Spiegel Online 09.09.2013: 1). Diese Beeinflussung wurde auch bei Wahlen auf nationaler und lokaler Ebenen festgestellt. Sie offenbart auch das System Putins und seiner Regierungspartei, die nicht gerne offensichtlich manipulieren, sondern versuchen, die Geschicke so zu lenken, um scheinbar demokratisch zum von ihnen gewünschten Ergebnis zu kommen. Dabei berufen sie sich immer wieder auf demokratische Werte und beteuern die Einhaltung dieser wäre von hoher Bedeutung.
Weiterhin werden die staatlichen Strukturen und Prozesse umgebaut. So wurde zum Beispiel die Sperrklausel für die Staatsduma von 5 auf 7% angehoben und der Wahlkampf wird auf einen Monat vor der Wahl beschränkt. Die Amtszeit des Präsidenten wurde von 4 auf 6 Jahre verlängert. Auch bei direktdemokratischen Ver-fahren wurden die gesetzlichen Grundlagen ebenso zunehmend restriktiv, wie in der folgenden Untersuchung deutlich wird. Von manchen Autoren wird dieses System sogar als nicht mehr demokratisch gewertet. Sie sprechen von einem autoritären System oder gelenkter Demokratie (vgl. Mommsen, Nussberger 2007; Mommsen 2007; Eibel 2010: 9; Uffelmann 2011: 9f). Andere, wie zum Beispiel der Bertels-mannindex, ordnen Russland immer noch als eine defekte Demokratie ein (BTI 2012). Nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit konnte Putin nicht mehr auf das Amt des Präsidenten kandidieren und überließ die Kandidatur seinem Wunschkandidaten Dmitri Medwedew, der die Wahl gewann. Er wiederum ernannte Putin zum Ministerpräsidenten. Aktuelle Untersuchungen sprechen trotzdem von einer Neu-ausrichtung der Politik nach der Wahl 2008. Der neue Präsident würde mehr Wert auf demokratische Freiheiten legen (vgl. Uffelmann 2011: 1). Aber auch in seiner Amtszeit wurden keine Korrekturen in der Struktur des politischen Systems gemacht, um die Macht besser zu verteilen. Gerade in seiner Amtszeit wurde die Dauer der Präsidentschaft von 4 auf 6 Jahre ausgedehnt. Nach seiner Amtszeit wurde Wladimir Putin im Jahr 2012 wiedergewählt, da die Verfassung nur mehr als 2 Amtszeiten nacheinander verbietet, was zu Putins Interpretation führte, dass nach einer Pause eine dritte Amtszeit als Präsident möglich sei. Auch diesmal berichteten unabhängige Beobachter von massiven Wahlmanipulationen. Seit dem Amtseintritt beschränkt er zunehmend die bürgerlichen Freiheiten, indem er wie auch bereits vorher NRO (Nichtregierungsorganisationen), insbesondere ausländisch finanzierte, verschärft kontrolliert und die Gesetzgebung bezüglich dieser restriktiver gestaltet. Auch ein Gesetz, das öffentliche positive Äußerungen über Homosexualität verbietet, wurde in dieser Zeit erlassen. Demonstrationen der Oppositionellen oder von Minderheiten, wie Homosexuelle, werden regelmäßig auseinandergetrieben und verboten. In letzter Zeit machte er aber auch Zugeständnisse, zum Beispiel an die NROs in dem er das Angebot machte, Vorschläge für die Anpassung der NRO-Gesetzgebung anzunehmen (vgl. Russia beyond the headlines 09.09.2013: 1). Auch die Bürger erhielten, nach zahlreichen Protesten und eingereichten Initiativen für die Direktwahl von Bürgermeistern und Gouverneuren, die Möglichkeit ihre Gouverneure wieder direkt zu wählen (vgl. Zeit Online 08.09.2013: 1). Sichtbar wird, dass Russland im Bereich der Bürgerrechte und des Wahlregimes auf der Linie zwischen Demokratie und Diktatur ständig hin und her schwankt und in verschiedenen Bereichen mal mehr und mal weniger demokratisch agiert, aber trotzdem versucht zum Teil einen demokratischen Schein zu wahren.
Unabhängig davon, ob bürgerliche Rechte missachtet werden oder nicht und ob Wahlen frei und fair ablaufen, liegt das grundlegende Problem der russischen Demokratie in ihrer politischen Struktur und der starken Stellung des Präsidenten. So ist Russland als eine illiberale und delegative Demokratie zu sehen, die seit 2000 eine Veränderung hin zum autoritären System erfahren hat. Ob Russland zu Zeit ein autoritärer Staat ist, hängt von der Auslegung der Befunde ab. Eine umfassende Untersuchung der Demokratie in Russland kann und soll in dieser Arbeit nicht geleistet werden, da der Schwerpunkt bei der direkten Demokratie liegt. Bei der Zentralisierungspolitik Putins spielt die direkte Demokratie eine sehr wichtige Rolle und in diesem Zusammenhang wurden besonders viele direktdemokratische Abstimmungen durchgeführt, weshalb die Zentralisierungspolitik an dieser Stelle nochmal genauer betrachtet wird, bevor die Analyse der direkten Demokratie selbst erfolgt.
3.1.2. Die föderale Struktur Russlands und ihre Zentralisierung
Die föderale Struktur Russlands ist weltweit besonders. Sie ist durch die multi-ethnische und multireligiöse Zusammensetzung Russlands, sowie wirtschaftliche Gebietseinteilungen aus der sowjetischen Zeit geprägt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 03.02.2011: 1; Informationsagentur Regnum 14.10.2008. 1; Badschenow 2007: 1). Während in anderen föderalen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland oder der USA, alle föderalen Subjekte, also Bundesländer bzw. Bundesstaaten den gleichen rechtlichen Status und gleiche Befugnisse besitzen, gibt es in Russland laut der Verfassung sechs verschiedene Arten von föderalen Subjekten, die jeweils mit verschiedenen Rechten ausgestattet sind, obwohl sie formal gleichgestellt sein sollen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 03.02.2011: 2). So besitzen die Republiken die größte Unabhängigkeit. Sie haben das Recht sich eine eigene Verfassung zu setzen und werden darüber hinaus nur von der russischen Verfassung geregelt. Sie haben ebenfalls das Recht eigene Amtssprachen zu bestimmen und internationale Verträge zu unterschreiben (vgl. Art. 5, Abs. 2; Art. 66, Abs. 1; Art. 68, Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation). Gebiete, Regionen und Städte mit Subjektstatus werden ebenfalls von der russischen Verfassung bestimmt und die Legislative dieser Subjekte stimmt über eine eigene Satzung ab (vgl. Art. 5, Abs. 2; Art. 66, Abs. 2 der Verfassung der Russischen Föderation). Autonome Gebiete und autonome Kreise können zusätzlich durch ein föderales Gesetz eingeschränkt werden (vgl. Art. 66, Abs. 3 der Verfassung der Russischen Föderation). Autonome Kreise können weiterhin durch Verträge mit ihrer Region oder ihrem Gebiet ihre Kompetenzen konkretisieren oder bestimmte Kompetenzen an die Region/ das Gebiet abgeben (vgl. Art. 66, Abs. 4 der Verfassung der Russischen Föderation). Insgesamt gab es nach dem Zerfall der Sowjetunion 89 Subjekte. Seit dem Amtseintritt Putins verändert sich die föderale Struktur des Landes zunehmend. Seit dem Jahr 2000 verfolgt die Regierung Putins eine Politik der Zentralisierung, um die Regierbarkeit des Landes zu verbessern (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 03.02.2011: 3; Businesspress.ru 06.02.2003: 1). Ein weiteres Problem sind auch die Transferzahlungen an Subjekte, die ihre Ausgaben nicht decken können und Transferzahlungen von der Zentralregierung erhalten. Diese Schwäche schlägt sich auch im Lebensstandard der Menschen nieder. Je nach Region schwankt dieser stark (vgl. Badschenow 2007: 1). Durch den Zusammenschluss mit reichen Regionen, die einen Überschuss erwirtschaften, versprach sich die Zentralregierung einen Rückgang der Transferzahlungen (vgl. Informationsagentur Regnum 14.10.2008: 1). Zunächst wurden die damals noch 89 Subjekte in acht Föderationskreise zusammengefasst, denen vom Präsidenten ernannte Vertreter vorstehen. Eine Verankerung dieser Struktur in der russischen Verfassung wurde nicht vorgenommen. Die Vertreter üben eine Kontrollfunktion aus. Dazu gehören die Durchsetzung der Politik der Zentralregierung, sowie die Überwachung der Gouverneure und der Legislative der Subjekte der Russischen Föderation (vgl. Businesspress.ru 06.02.2003: 1).
Ein weiterer Schritt war die Planung der Zusammenlegung von kreisen auf lokaler Ebene und von Subjekten auf regionaler Ebene. Das wichtigste Argument für diese Politik ist die Vereinfachung der politischen Strukturen, was zur besseren Regierbarkeit führen sollte (vgl. Businesspress.ru 06.02.2003: 1). Weitere Argu-mente sind die Verkleinerung des Verwaltungsapparates, Übergang von Konkurrenz zur Kooperation der Regionen und Verkleinerung der Transferleistungen (vgl. Sanktpetersburger Nachrichten 18.07.2007: 1). Dieser Schritt ist besonders relevant für die Bewertung der direkten Demokratie in Russland, da jede Zusammenlegung auch mit einem obligatorischem Plebiszit verbunden ist, in dem Bürger aller beteiligten Gebiete der Zusammenlegung zustimmen müssen. Dies wird durch das Gesetz vom 17. Dezember 2001 Nr. 6-FKZ "Über das Verfahren der Aufnahme in die Russische Föderation und der Neubildung eines neuen Subjektes der Russischen Föderation in ihrem Gebiet" geregelt. Dies führte zur Zusammenführung von elf Subjekten zu insgesamt fünf neuen Subjekten, sodass seit dem 1. März 2008 nur noch 83 Subjekte existieren.
Die Politik der Zentralisierung wird von Machtkämpfen zwischen den nationalen und regionalen Ebenen, sowie zwischen einzelnen Subjekten überschattet. Es scheint nur schwer möglich zu sein einen einheitlichen Plan nach wissenschaftlichen Maßstäben auszuarbeiten, der die ökonomischen, ethnischen, religiösen und geographischen Besonderheiten der Subjekte berücksichtigen würde (vgl. Informationsagentur Regnum 14.10.2008: 1; Businesspress.ru 06.02.2003: 1). Es gibt mehrere Vor-schläge, die sich auf alle Subjekte der Republik beziehen und vorsehen, dass sie zu 28 oder zu 12 oder auch zu 60 neuen Subjekten zusammengelegt werden (vgl. PLN Pskow 10.01.2002; Informationsagentur Moscow IT-kernel 26.05.2004: 1; Komso-molskaia Prawda 14.04.2005: 1). Ebenfalls gibt es Vorschläge zur rechtlichen Gleichstellung der Subjekte (vgl. Badschenow 2007: 1; Prawda 21.01.2010: 1). Das Ziel der Regierung lag zu Anfang bei 40 Subjekten (vgl. Sanktpetersburger Nachrichten 18.07.2007: 1). Es gibt auch Vorschläge für die Zusammenlegung von 2 oder 3 Subjekten zu einem, die keine umfassende Analyse der gesamten Situation bieten.
So werden zum Beispiel oft Vorschläge zur Zusammenlegung der zwei Städte mit Subjektstatus (Moskau und St. Petersburg) und der umliegenden Gebieten (Gebiet Moskau bzw. Leningrad) gemacht (vgl. Expert 23.07.2007: 1). Im Jahr 2007 schlug die damals amtierende Bürgermeisterin von Sankt Petersburg Walentina Matwienko die Zusammenlegung beider Städte mit ihren Gebieten. Dies hätte Vorteile für die Städte, da zum Beispiel günstige Produkte aus der Region eingeführt werden könnten und die Stadt und die Region nicht mehr um Investitionen konkurrieren würden (vgl. Expert 23.07.2007: 1; Sanktpetersburger Nachrichten 18.07.2007: 1). Die Regierung des Gebietes Leningrad befürchtet dagegen negative soziale Folgen des Zusammen-schlusses. Die Zahl der Armen und der Rentner ist im Gebiet Leningrad viel höher als in Sankt Petersburg selbst. Die soziale Entwicklung müsste von der Stadt mitgetragen werden (vgl. Sanktpetersburger Nachrichten 18.07.2007: 1). Bereits 2006 gab es einen solchen Vorschlag für Moskau. Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow unterstützte das Vorhaben, da Moskau und das Gebiet Moskau bereits zu einem ökonomischen System gehören würden (vgl. Newsru.com 26.05.2006: 1). Der Gouverneur des Gebietes Moskau lehnte diesen Vorschlag jedoch ab. Eine Zusammenlegung würde ein Monstrum schaffen, das nur schwer zu regieren sei, da die zwei Subjekte sich ökonomisch auf dem ersten (Moskau) bzw. zweiten Platz (Gebiet Moskau) in der Föderation befinden. Ein weiteres Mitglied der regionalen Duma Waleri Aksakow befürchtete die Ablehnung des Vorhabens durch die Bürger Moskaus, da ein großer Teil des Moskauer Budgets in die Kasse des Gebietes fließen würde (vgl. Newsru.com 26.05.2006: 1). 2007 wurde das Thema erneut in der Moskauer Duma diskutiert und beschlossen, sich nach den Wahlen 2008 an den neuen Präsidenten mit dem Vorschlag der Zusammenführung zu wenden (vgl. Newsru.com 11.12.2007: 1). Im Jahr 2011 wurde diese Idee auch offiziell vom Präsidenten der Föderation Dmitri Medwedew aufgegriffen, mit der Begründung, dass dies ökonomische Vorteile schaffen würde. Zusätzlich könne man die administ-rativen Organe außerhalb des Zentrums der Metropole bringen, was die prekäre Verkehrssituation der Stadt verbessern würde (vgl. RBC daily 17.06.2011: 1).
Auf Grund der vielen Akteure ist es jedoch sehr schwierig einen solchen Vorschlag auch nur für zwei Subjekte umzusetzen. Regionale Eliten suchen eigene Vorteile in der Zusammenlegung von Subjekten (vgl. Businesspress.ru 06.02.2003: 1). Öfter ist es aber so, dass die Regierungen oder die Gouverneure der Subjekte auf Grund von geschichtlichen, ethnischen oder ökonomischen Besonderheiten oder aufgrund der Angst vor einem Machtverlust, nicht bereit sind diese Vorschläge zu diskutieren und eine ablehnende Position einnehmen (vgl. Businesspress.ru 06.02.2003: 1). Arme Subjekte befürchten eine ökonomische und politische Bevormundung durch reiche Subjekte und reiche Subjekte befürchten eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung durch die armen Nachbarn (vgl. Informationsagentur Regnum 14.10.2008: 1). Auch führen die Zusammenlegung zum Machtverlust der Eliten der Subjekte, die anstatt von zwei oder drei Regierungen und Gouverneuren, nur noch einen Gouverneur und eine Regierung benötigen würden. Die Zusammenlegung führt zur Verkleinerung des gesamten Regierungsapparates. Auch kann sie einen Machtverlust für einen der zusammenzulegenden Subjekte bedeuten, da die Regierung des ökonomisch oder politisch schwächeren Subjektes befürchten muss von dem anderen Subjekt nach der Zusammenlegung bevormundet zu werden. Oder das ökonomisch stärkere Subjekt befürchtet eine Stagnation durch die schwache Wirtschaft des Anderen. So ist es zum Beispiel zwischen der Republik Altai und dem Gebiet Altai. Ein Vorschlag des Präsidenten Putin diese zwei Subjekte zusammenzulegen, entfachte eine große Diskussion zwischen den regionalen Machthabern beider Subjekte, die sich im Jahr 2006 zuspitzte (vgl. Informationsagentur Regnum 09.09.2003: 1; Newsru.com 01.11.2006: 1). Die Republik Altai war bereits während der Sowjetunion ein Teil des Gebiets Altai und wurde ab 1991 selbstständig. Seit dem entwickelt sie sich wirtschaftlich, vor allem wegen des zunehmenden Tourismus, sehr gut. Der Sprecher der Regierungsversammlung der Republik Iwan Belekow verkündete in diesem Zusammenhang, dass er eine Ausbremsung des wirtschaftlichen Wachstums durch den Zusammenschluss befürchtet. Auch die Bürger der Republik Altai demonstrierten gegen diesen Vorschlag. Über 5 000 Bürger gingen auf die Straßen der Hauptstadt der Republik (vgl. Newsru.com 01.11.2006: 1). Daraufhin stimmten die Abgeordneten der Versammlung für eine Resolution, die den Verlust des Republikstatus und einen Zusammenschluss mit anderen Subjekten verbietet. Dies führte zum Abbruch des Vorhabens (vgl. newru.com 28.11.2006: 1). Einen ähnlichen Schritt machte auch die Regierung der Republik Adygeia. Eine Resolution bestimmte, dass sie nie in die Region Krasnodar eingegliedert werden können (vgl. Newsru.com 28.11.2006: 1; Newsru.com 12.04.2007). Auch bei der Zusammen-legung der Städte mit Subjektstatus und ihrer angrenzenden Gebiete gibt es ähnliche Befürchtungen. Zudem würden die Städte ihren Subjektstatus verlieren und ihre Bürgermeister müssten erneut in einer Direktwahl der Bevölkerung gewählt werden. Dies versuchen die städtischen Regierungen und die Zentralregierung zu verhindern.
Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele, wo die Zusammenlegung von zwei oder drei Regionen diskutiert wird. So gibt es Pläne die Gebiet Orenburg und die Republik Baschkortostan zusammenzuführen, wobei die Orenburger befürchten als schwä-chere Region eingenommen und durch eine andere Amtssprache (Baschkirisch) im öffentlichen Leben benachteiligt zu werden (vgl. Orenburgskie Nowosti 24.02.2011: 1). Auch für die Republik Tatarstan und die Gebiete Kirow und Ulianow gibt es seit 2010 Pläne der Zusammenlegung zu denen sich die Gouverneure der Gebiete Kirow und Ulianow negativ geäußert haben (vgl. Nesawisimaia Gaseta 21.12.2010: 1; Ulpressa 10.12.2010: 1). Ein anderer Vorschlag aus dem Jahr 2005 sah vor das Gebiet Kirow mit das Gebiet Nischegorod zu vereinen. Auch hier äußerte sich die Regierung Kirows gegen den Vorschlag (vgl. Businesspress.ru 01.06.2005: 1).
Es wird sichtbar, dass es bei so vielen Subjekten sehr viele Kombinations-möglichkeiten gibt, die durchdacht und, aufgrund des Widerstandes einzelner Regierungen, wieder verworfen werden. Insgesamt führten diese Machtkämpfe dazu, dass kein umfassender Plan zur Zentralisierung verfolgt werden kann und die nationale Regierung den Weg des geringsten Widerstandes geht, sodass Subjekte nicht nach ökonomischen, geographischen, ethnischen oder religiösen Kriterien zusammengelegt werden. Bisher wurden also nur die Subjekte vereint, deren Machthaber überhaupt zu diesem Schritt bereit waren (vgl. Newsru.com 28.11.2006: 1). Dies sind 11 Subjekte, die sich zu 5 Subjekten vereinigt haben. Dabei musste jede Vereinigung durch ein Referendum von der Bevölkerung der Subjekte bestätigt werden. Eine Untersuchung des Institutes für zeitgenössischen Entwicklung zeigte, dass die Zusammenlegung der 11 Subjekte negative ökonomische Folgen für die schwachen Subjekte hatte, da sie aus dem Blickfeld der Zentralregierung verschwanden und dass ethnischen Konflikte dadurch verstärkt wurden (vgl. BBC Russia 08.04.2010: 1). Eine ausführliche Analyse dieser und anderer Referenden, die in diesem Zusammenhang durchgeführt worden sind, erfolgt im nächsten Teil der Arbeit, in den Kapiteln über die praktische Umsetzung von Referenden auf regionaler und lokaler Ebene (3.2.2.2 und 3.2.3.2).
3.1.3. Zwischenfazit
In diesem Teil der Arbeit wurden die Rahmenbedingungen in Russland für die Anwendung direktdemokratischer Verfahren untersucht. Dabei wurden anhand der Theorie der defekten Demokratie die fünf Bereiche, also das Wahlregime, die Gewaltenteilung, politische und bürgerliche Rechte, sowie die effektive Regierungs-gewalt untersucht. Es wurde deutlich, dass das demokratische System von vielen Fehlern behaftet ist, die seine Qualität senken. Bereits der gesetzliche Rahmen bietet keine guten Bedingungen für die Umsetzung der Demokratie, da die Gewalten-teilung nur zum Teil gegeben ist und die Exekutive eine sehr starke Stellung besitzt. Dies wird weiter durch die praktische Umsetzung verschlimmert, in dem das Wahlrecht und die existierenden Gewaltenteilung meist durch die Exekutive missachtet werden und die Legislative und Judikative dem starken Einfluss der Regierungspartei unterstehen. Die Medien werden ebenfalls durch die Eliten be-einflusst und können nicht unabhängig berichten. Freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit sind nur bedingt gegeben. Auch die Politik auf regionaler und lokaler Ebene ist davon betroffen. Die verschiedenen Interessen der nationalen, regionalen und lokalen Machteliten konkurrieren zusätzlich untereinander und die Politik wird möglichst im eigenen Sinne beeinflusst, wie man am Beispiel der Zentralisierungspolitik gut sehen kann. Nach der Untersuchung der Rahmen-bedingungen werden im Folgenden die legale Ausgestaltung und praktische Umsetzung der direkten Demokratie auf nationaler, regionaler und lokaler Ebenen untersucht.
3.2. Direkte Demokratie in der Russischen Föderation
Die direkte Demokratie in der Russischen Föderation hat zwar keine lange Tradition, ist aber formal in Gesetzen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene stark verankert. Durch die Verfassung wird geregelt, dass die Grundsätze der Durch-führung von Abstimmungen auf allen Ebenen durch nationale Gesetze geregelt werden. Die Durchführung regionaler und lokaler Abstimmungen ist weiterhin durch regionale und lokale Gesetzgebung geregelt. Auch praktisch konnte Russland bereits sehr viele Erfahrung mit direktdemokratischen Abstimmungen sammeln. So wurden zwar auf der nationalen Ebene nur 3 Abstimmungen durchgeführt, dafür erfolgten auf regionaler und lokaler Ebene insgesamt mehr als 1000 Referenden seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. An dieser Stelle werden deshalb zuerst die gesetzlichen Regelungen beschrieben und daraufhin untersucht, ob sie die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung erfüllen, um dann die praktische Umsetzung dieser Gesetze zu untersuchen, um zu sehen, wie direkte Demokratie in der Russischen Föderation genutzt wird und welche Auswirkungen sie auf das gesamte politische System hat.
3.2.1. Nationale Ebene
Alle 3 Abstimmungen auf der nationalen Ebene fanden während des Zusammen-bruches der Sowjetunion und der Gründung der Russischen Föderation statt. Seitdem gab es keine Abstimmung mehr auf der nationalen Ebene, dafür aber 9 Initiativen von verschiedenen Initiativgruppen und 2 sogenannte Volksreferenden. Eine Liste der Referenden und Initiativen, sowie Quellenangaben sind im Anhang I zu finden.
In diesem Abschnitt der Arbeit werden zunächst die legale Ausgestaltung der direktdemokratischen Abstimmungen auf nationaler Ebene, danach die 3 stattgefunden Abstimmungen und zuletzt die Initiativen, die seitdem erfolgten.
3.2.1.1. Legale Ausgestaltung
Direktdemokratische Verfahren werden, zusammen mit Wahlen, bereits durch die russische Verfassung als die höchste Willensbekundung festgelegt. Artikel 3, Absatz 3 der russischen Verfassung lautet: „Höchster unmittelbarer Ausdruck der Volks-macht sind das Referendum[1] und freie Wahlen“. Weitere Bestimmungen werden durch die Verfassung nicht gemacht. Die Konkretisierung dieses Rechts erfolgt durch das nationale Gesetz "Über das Referendum der Russischen Föderation“ vom 28.06.2004, sowie das „Rahmengesetz über grundlegende Garantien des Wahlrechts und des Rechts auf die Teilnahme der Bürger Russischer Föderation am Referendum“ vom 12.06.2002. Das erste Gesetz über die Durchführung von Referenden, das in der Russischen Föderation angewendet wurde, wurde noch in der sowjetischen Zeit am 27.12.1990 beschlossen. Im Jahr 1995 wurde ein neues Gesetz über das Referendum der Russischen Föderation erlassen, das am 25.09.2002 geändert wurde. Das Gesetz von 2004 wurde nochmal am 24.4.2008 angepasst. Über die inhaltlichen Änderungen wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitts geschrieben. Das Rahmengesetz wurde zum ersten Mal 1997 erlassen und weiter 1999 und 2002 abgeändert.
Die Initiative kann durch den Präsidenten, ein Drittel der Duma- Abgeordneten oder durch die Bevölkerung erfolgen. Auch ein Verfassungsreferendum (Art 135. Abs. 3 der Verfassung der Russischen Föderation) ist vorgesehen, jedoch ist es nur fakultativ und die Verfassung kann auch durch die Duma, ohne die Einbindung des Volkes, verabschiedet werden. Die Tatsache jedoch, dass die letze Verfassung durch ein Referendum beschlossen worden ist, würde ein Referendum zur Bedingung machen. Was vor allem die Initiative der Bürger betrifft, muss der Prozess, entsprechend den Anforderungen des IRI, bestimmte Voraussetzungen erfüllen, damit die Umsetzung auch möglich ist und positive Auswirkungen zeigt. Die Erfüllung der Voraus-setzungen durch die gesetzlichen Normen der Russischen Föderation wird an dieser Stelle überprüft.
Anzahl der Unterschriften
Auf der nationalen Ebene müssen die Initiatoren 2 % der Stimmen aller Wahl-berechtigten sammeln. Wenn man dies mit der Bevölkerung Russlands (141,9 Mio. Einwohner) vergleicht, ist dies keine große Zahl. Ungefähr 2 200 000 Wahlberechtigte (108 Mio. Wahlberechtigte gab es insgesamt in 2009 (vgl. Russland.ru 2009) müssten unterschreiben. Jedoch gibt es eine weitere Regelung, die bestimmt, dass aus einem Subjekt Russlands nicht mehr als 50.000 Unterschriften kommen dürfen. Dies erschwert die Unterschriftensammlung, da zum Beispiel in Moskau viele Unterschriften gesammelt werden könnten, dies aber durch die Regelung unmöglich wird. Eine solche Regelung war vor 2004 nicht vorgesehen. Zwischen 1990 und 2004 mussten lediglich 2% der Unterschriften gesammelt werden. Zusätzlich wird das Sammeln durch eine besondere Klausel erschwert, da nicht mehr als 5% Prozent der Unterschriften nicht den formalen Anforderungen (zum Beispiel: handschriftlich ausgefüllt, aber nicht mit Bleistift, falsche oder unvollständige Angaben, doppelte Eintragungen, etc. (Art. 19 Abs. 9 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation) entsprechen dürfen. Falls es der Fall ist, wird die Initiative eingestellt (Art. 20, Abs. 3 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation).
Interessant ist auch eine weitere Beschränkung, die bestimmt, dass mehr Unter-schriften als benötigt eingereicht werden dürfen, jedoch nicht mehr als 10% von der gesamtbenötigten Unterschriften zusätzlich. Diese Bestimmung erscheint zunächst wichtig, da sie dafür sorgt, dass der bürokratische Aufwand der Wahlkommission nicht extrem ansteigt, zugleich könnte diese Vorschrift aber auch eine Absage des Referendums bedeuten, wenn denn aus Versehen zu viele Unterschriften abgegeben werden. Aus der Sicht der direkten Demokratie würde dies keinen Sinn ergeben, weil die zusätzlichen Unterschriften eine größere Unterstützung durch die Bevölkerung bedeuten. Der Wunsch über diese Frage abzustimmen wird noch stärker geäußert, was aber im Endeffekt durch die Gesetzgebung nicht anerkannt, sondern bestraft wird, indem das Referendum nicht stattfindet. Es ist auch davon auszugehen, dass die Initiatoren, aufgrund ihrer begrenzten Mittel, ebenfalls nicht den Aufwand betreiben würden deutlich mehr Unterschriften zu sammeln, als sie müssen.
Zeit zum Unterschriftensammeln
Die Zeit für das Sammeln für Unterschriften ist relativ knapp bemessen, was die Initiative zusätzlich erschwert. Nach Art. 17, Abs. 2 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation müssen ausreichend Unterschriften in 45 Tagen nach der Registrierung der Initiative gesammelt werden. Bis 2004 waren es 3 Monate (vgl. Lübarew 2005:1).
Art der Unterschriftensammlung
Unterschriften dürfen überall gesammelt werden, außer auf Arbeitsplätzen, an Orten wo Lohn, Renten, Stipendien oder andere soziale Auszahlungen vorgenommen werden oder dort, wo soziale Unterstützung angeboten wird. Dies ist zwar eine Einschränkung, die aber immer noch genug Raum zum Unterschriftensammeln bietet. Eine andere Regelung erschwert jedoch die Unterschriftensammlung, da Unterschriften nur in Subjekten Russlands gesammelt werden dürfen, wo regionale Initiativgruppen registriert sind. Dabei müssen mindestens in der Hälfte der Subjekte Initiativgruppen registriert werden. Das ist bereits ein großer Aufwand. Zusätzlich wird die Unterschriftensammlung dadurch erschwert, dass dort, wo keine Initiativgruppe gemeldet ist, auch keine Unterschriften gesammelt werden dürfen.
Wortlaut der Initiative und Referendumsfrage
Das Gesetz "Über das Referendum der Russischen Föderation" bestimmt, dass die Referendumsfrage klar formuliert werden muss, sodass sie nur mit ja oder nein beantwortet werden kann.
Formale Anforderungen und Ausschluss bestimmter Themen
Als Initiatoren dürfen die Bürger, der Präsident und die Staatsduma auftreten. Die Abstimmung kann durch ein Drittel der Abgeordneten initiiert werden. Die Überprüfung der Unterlagen erfolgt zunächst durch die zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (Art. 15, Abs. 13 des Gesetzes "Über das Referendum der Russischen Föderation"). Dabei werden folgende formale Anforderungen überprüft (Art. 15 des Gesetzes "Über das Referendum der Russischen Föderation"). Bei einer Bürgerinitiative muss die Initiativgruppe aus regionalen Untergruppen bestehen, die in mehr als der Hälfte der Subjekte der Russischen Föderation gebildet und registriert werden müssen und jede mindestens 100 Bürger umfassen muss. Diese Bedingung besteht ebenfalls erst seit der Gesetzesänderung im Jahr 2004. Diese Gruppen müssen jeweils eine Versammlung durchführen, die angekündigt wird und bei der Vertreter der Regierung anwesend sein dürfen. Zusätzlich muss ein Protokoll angefertigt werden mit notariell beglaubigten Unterschriften der Anwesenden. Am Ende der Versammlung muss ein Beschluss über die Unterstützung der Initiative gefasst und an die regionale Wahlkommission weitergeleitet werden, die die Beschlüsse an die zentrale Wahlkommission weiterleitet. Weiterhin müssen Listen der Gruppenmitglieder und ein Einverständnis über die Mitgliedschaft jedes Mitglieds an die Wahlkommission geleitet werden. Auch dies sind neubestimmte Bedingungen aus dem Jahr 2004. Der Fragenkatalog wird dann an die Staatsduma weitergeleitet, die die Fragen auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüft. Am Ende stimmen die Abgeordneten über die Gesetzmäßigkeit der Fragen ab und eine einfache Mehrheit der Abgeordneten reicht zur Zulassung aus. Bei einer Initiative der Staatsduma müssen keine Stimmen gesammelt werden.
Das Referendum wird vom Präsidenten einberufen, er bestimmt also, wann es stattfindet. Er übergibt alle Unterlagen binnen 10 Tage an das Verfassungsgericht, das einen Monat hat, um die Verfassungsmäßigkeit der Fragen zu prüfen. Falls die Initiative erfolgreich ist, muss der Präsident 15 Tage nach dem Erhalt der Unterlagen ein Datum für das Referendum festlegen (vgl. Avtonomov 2001: 158). Auch ein Gericht darf nach dem nationalen Gesetz über Referenden ein Referendum einberufen, falls sich das zuständige Organ weigert dies zu tun, auch wenn alle Voraussetzungen erfüllt worden sind (vgl. Avtonomov 2001: 331). Die Entscheidung muss mindestens 60 Tage und höchstens 100 Tage vor dem Abstimmungstag veröffentlicht werden. Dadurch bleibt nicht genug Zeit für eine Diskussion der Referendumsfrage in der Bevölkerung. Die Ergebnisse sind verbindend und können nur durch ein erneutes Referendum abgeändert werden.
Neben den formalen Anforderungen gibt es mehrere Ausschlusskriterien, die die Referendumsfragen betreffen (Art. 6 des Gesetzes "Über das Referendum der Russischen Föderation"). Grundsätzlich dürfen nur Referenden zu Themen initiiert werden, die durch die Verfassung der Russischen Föderation zugeteilt worden sind, oder gemeinsam von der Russischen Föderation und den Subjekten verwaltet werden. Davon ausgenommen sind Fragen (1) zur Änderungen des Status der Subjekte, die durch die Verfassung bestimmt sind, (2) zur Verkürzung oder Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten, der Duma oder der vorzeitigen Neuwahl der Abgeordneten der Duma, (3) über die Wahl, die Ernennung, vorzeitige Ent-lassung oder Verlängerung der Tätigkeit einer Vertretung eines Amtsträgers, (4) zur personellen Zusammensetzung eines Regierungsorgans, (5) zur Wahl, vorzeitigen Auflösung, Pausierung oder Verlängerung der Tätigkeit eines Organs, das durch internationale Verträge der Russischen Föderation entstanden ist, oder von Amtsträgern, die auf Grund internationaler Verträge der Russischen Föderation gewählt oder ernannt worden sind, ebenso wie zur Erschaffung von Organen oder Ernennung von Personen, falls dies durch internationale Verträge nicht anders geregelt ist, (6) zur Annahme und Veränderung des föderalen Budgets und zur Ausführung und Änderung finanzieller Befugnisse der Russischen Föderation (gültig bis 2008), (7) nicht mehr gültig (8) zum Ergreifen von Notmaßnahmen zur Absicherung der Volksgesundheit und der Sicherheit, (9) nicht mehr gültig, (10) zur durch Verfassung nur unter die ausschließliche Kompetenz der föderalen Organe zugeordneten Sachverhalte (gültig seit 24.04.2008).
Das erste Gesetz von 1990 erhielt eine weniger restriktive Regelung bezüglich der Fragen. Insgesamt gab es 4 Typen von Fragen, die gestellt werden durften: Zwei bezogen sich auf die Annahme, Änderung oder Abschaffung eines Gesetzes. Die dritte Art diente der Vorbestimmung des grundlegenden Inhaltes von Gesetzen und die vierte bezog sich auf die Befragung der Bürger bei anderen wichtigen Fragen, die sich in der Verantwortung der Regierung befinden. Die ersten drei entfalteten eine unmittelbare Wirkung, während der vierte Typ nur einen Empfehlungscharakter hatte (vgl. Lübarew 2005: 1). Mit dem Gesetz von 1995 wurden nicht mehr die Fragen, die gestellt werden dürfen, reguliert, sondern das Gesetz schloss bestimmte Fragen aus (vgl. Lübarew 2005: 1). Diese Regelung entsprach der Regelung von 2004, die bereits beschrieben worden ist.
Die Übersicht zeigt deutlich, dass die formalen Anforderungen relativ umfangreich sind und wenn man die bürokratischen Hürden betrachtet, schnell klar wird, dass die Initiative einen großen Aufwand bedeutet, der zuerst aus der eigenen Tasche bezahlt werden muss (siehe Finanzierung) und dort auch schnell Fehler unterlaufen können, die zum Ausschluss führen würden. Was die Eingrenzung der Fragen betrifft, sind die Eingrenzungen bei den Wahlen und Ernennungen noch nachvollziehbar, da diese eventuell die Gewaltenteilung unterwandern könnte. Der 10. Punkt, der in 2008 hinzugekommen ist, ist jedoch unklar formuliert, in dem jedes Ressort potenziell unter die ausschließliche Kompetenz der föderalen Organe fallen könnte. So behaupten zumindest die Kritiker, dass das Referendum dadurch unmöglich gemacht worden sind.
Interaktion mit der Regierung
Die politischen Organe haben keine Möglichkeit einen Gegenvorschlag zu machen.
Mindestwahlbeteiligung
Die Mindestwahlbeteiligung liegt bei 50% (vgl. Art. 80 Abs. 7 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation). Dies entspricht nicht den Forderungen des IRI, da die Hürde zu hoch ist. Auch aufgrund der Größe des Landes und der Abgelegenheit mancher Regionen und damit verbundener Schwierigkeiten für die Wähler, ist diese Hürde recht hoch gesetzt.
Beratung
Eine unabhängige Beratungsinstanz ist in den Gesetzen nicht vorgesehen. Durch das „Gesetz über grundlegende Garantien des Wahlrechts und des Rechts auf die Teilnahme der Bürger Russischer Föderation am Referendum“ (Art. 20, 21 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation) und das Gesetz über das Referendum der Russischen Föderation“ wird die Formierung einer Referendums-kommission auf nationaler, regionalen und lokalen Ebenen mit einem Mandat für 5 Jahre festgelegt. Auf nationaler Ebene werden jeweils fünf Vertreter durch die Duma, den Präsidenten und den Föderalen Rat der Föderalen Versammlung Russischer Föderation festgelegt. Ein solches Gremium kann jedoch keine unabhängige Beratung anbieten. Die zentrale Wahlkommission stellt im Internet eine Power Point Präsentation mit Beschreibung einzelner Schritten einer Initiative zur Verfügung (vgl. Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation 2008).
Finanzierung
Die Finanzierung des Antrags und der Unterschriftensammlung erfolgt ohne Rückzahlung, mit Mitteln der Initiatoren und weiter durch Spenden von Privatpersonen und juristischen Personen, wobei diese nicht 1%, respektive 7% (für juristische Personen) des Gesamtbudgets der Initiative übersteigen dürfen. Die Obergrenze der Kosten liegt bei 250 Mio. Rubel (ca. 6,4 Mio. Euro) (vgl. Art. 4; Art. 48 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation). Diese Regelung erscheint zunächst als ein gutes Mittel gegen den Missbrauch der Abstimmung durch die Eliten, jedoch müsste dafür untersucht werden, ob 250 Mio. Rubel ausreichen, um eine Initiative erfolgreich durchzuführen. Wenn die Hürde zu niedrig gesetzt ist, könnt dies auch eine Behinderung der Initiative darstellen. Die Kosten des Referendums werden aus dem föderalen Budget beglichen (vgl. Art 45 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation). So ist die Finanzierung des Referendums ebenfalls eine große Hürde, die genommen werden muss, da die Bürger bereit sein müssen, für das Anliegen Geld zu spenden. Ansonsten ist die Initiierung nur großen Akteuren mit entsprechendem Budget oder Mobilisierungsvermögen möglich.
Beschränkung der Durchführung von Initiativen
Was von der Systematisierung von IRI nicht berücksichtigt worden ist, aber in Russland eine wichtige Rolle spielt, sind die Beschränkungen der Durchführung von Referenden während wichtiger Ereignisse. So können Referenden in Zeiten von Notständen, während der nationalen Wahlkampagne und im letzten Jahr vor eine Präsidentschafts- oder Parlamentswahl, nicht initiiert oder durchgeführt werden (vgl. Art. 7 des Gesetzes über das Referendum der Russischen Föderation). Da die Regierungsperioden jeweils 4 Jahre betragen und die Präsidentschafts- und Duma-wahlen im Abstand von einem Jahr stattfinden, bleiben insgesamt nur 2 Jahre für die Durchführung von Referenden. Dies ist ein unbegründeter Eingriff, der die Durchführung stark einschränkt, da Anliegen, die während der zwei Jahre entstehen, wenn kein Referendum stattfinden darf, aufs Eis gelegt werden müssen und so eventuell gar nicht mehr angesprochen werden können.
Insgesamt kann man erkennen, dass das ursprüngliche Gesetz über die Durchführung von Referenden von 1990 und das nachfolgende Gesetz von 1995 durchaus den normativen Ansprüchen genügen. Im Verlauf wird jedoch deutlich, dass das Gesetz durch die ersten Änderungen und die Neufassung in 2004 immer restriktiver wird. Die neuen Normen entsprechen nicht mehr den normativen Ansprüchen. Die letzten Änderungen von 2008 sollen das Referendum sogar unmöglich machen (vgl. Komarowa 2006: 26). Diese Entwicklung fügt sich in die allgemeine Verschärfung der Regierungsweise seit dem Amtsantritt Putins ein. Es scheint so, als würde man versuchen den demokratischen Schein zu wahren, in dem man die Möglichkeit eines Referendums einräumt, jedoch die praktische Umsetzung vermeidet. Dies wird im nächsten Teil an Beispielen aus der praktischen Umsetzung weiter untersucht.
3.2.1.2. Praktische Umsetzung
Insgesamt fanden auf der nationalen Ebene 3 Referenden statt (siehe Anhang I, Tabelle 1). Die erste Volksabstimmung fand am 17. März 1991 statt unter der Geltung des Gesetzes vom 27.12.1990. Theoretisch würde dieses Gesetz den direkt-demokratischen Anforderungen des IRI entsprechen. Abgestimmt wurde UDSSR- weit über den Erhalt der Sowjetunion und in Russland über die Einführung des Amtes eines vom Volk gewählten Präsidenten. Es handelte sich hierbei um ein fakultatives Plebiszit, das von der Volksversammlung der Sowjetunion eingeleitet worden ist. Das Referendum hatte in beiden Fällen einen positiven Ausgang. Während jedoch das Amt des Präsidenten eingeführt und Präsident Boris Jelzin gewählt worden ist, ist die UDSSR 10 Monate später zerfallen, was eine Missachtung des Volkswillen bedeuten würde (vgl. LeDuc 2003: 58f).
Das zweite Referendum erfolgte zunächst durch ein Dekret des Präsidenten am 25.04.1993, es handelte sich also ebenfalls um ein fakultatives Plebiszit. Aus meisten Quellen wird ersichtlich, dass das Referendum auf den Kampf zwischen dem Präsidenten Jelzin und den alten Gesetzgebungsorganen der Sowjetunion, vor allem der Volksversammlung, zurückzuführen ist. Während die Volksversammlung Jelzin im Jahr 1991 noch im Kampf gegen Michail Gorbatschow, den Staatspräsidenten der Sowjetunion unterstützte und Jelzin mit weitreichenden Befugnissen ausstattete, war dies im Jahr 1992 nicht mehr der Fall. Nachdem die Sowjetunion zerfallen war, musste eine neue Verfassung erarbeitet werden. Während die Volksversammlung die Legislative stärken wollte, ging es Jelzin um die Stärkung des Präsidialamtes und die Beibehaltung seiner Befugnisse (vgl. Butler, Ranney 1994: 205; LeDuc 2003: 58; Walker 2004: 96; International Republican Institute 2012: 12). Doch dafür wäre eine neue Verfassung notwendig, die damals nur von der Volksversammlung beschlossen werden konnte, diese hielt sich aber an der alten Verfassung fest (vgl. International Republican Institute 2012: 13). Zunächst stimmten die Abgeordneten einem Dekret des Präsidenten zu, das bestimmte, dass eine Abstimmung über eine neue Verfassung stattfindet sollte. Im März 1993, kurz vor der Abstimmung, haben sie jedoch die alte Abstimmung abgesagt und eine neue mit ihren eigenen Fragen für den 25.04.1993 bestimmt. Den Bürgern wurden vier Fragen gestellt.
[...]
[1] An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass in der russischen Gesetzgebung alle direkt-demokratische Verfahren als Referendum bezeichnet werden, unabhängig davon durch wen sie initiiert werden. Es gibt also keine Unterscheidung zwischen Referenden und Plebisziten. Dieser Begriff steht deshalb im Folgenden für alle Abstimmungsarten in der Russischen Föderation. Zusätzlich wird für jede Abstimmung bestimmt, welche Art der direkten Demokratie nach Altman sie darstellt.
- Citar trabajo
- Anna Kazakova (Autor), 2013, Direkte Demokratie in der Russischen Föderation, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271129
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