Der Begriff der Lebensqualität ist schwer zu greifen. Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert ihn aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als einen „mehrdimensionalen Wohlfahrtsbegriff, der vornehmlich auf die individuelle Wohlfahrt zielt“. Verschiedenste Lebensbereiche werden zur Qualifizierung und Quantifizierung einbezogen (genannt werden hier z.B. Ar-beitsbedingungen, Gesundheit, Bildung, politische Beteiligung, Sozialbeziehungen, natürliche Umwelt). Lebensqualität besitzt eine objektive und eine subjektive Dimension; sie transportiert zudem kollektive Werte und gesellschaftspolitische Zielsetzungen. Beides gilt es insbesondere in historisch-vergleichender Perspektive im Blick zu behalten.
Der erste Definitionsversuch eines Kommilitonen versuchte dem komparativen Anliegen des Seminars weiter Rechnung zu tragen: „Lebensqualität ist die tatsächlich mögliche Inanspruchnahme von sozio-geographischen Umfeldstrukturen durch den Menschen (als Individum wie auch als Kollektiv) in der jeweiligen Ausprägung der kreatürlichen und zivilisatorisch-kulturellen Bedürfnisse“. Als Beispiele für „sozio-geographische Umfeldstrukturen“ von Antike und Moderne wurden im Seminar jeweils urbane Gesellschaft und Politik, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Sozialfürsorge, Umweltverschmutzung, Ess- und Trinkkultur sowie Architektur-, Wohnungs- und Städtebau einer genaueren Untersuchung unterzogen. Im Vordergrund stand die Bestimmung der Charakteristika der „kreatürlichen und zivilisatorisch-kulturellen Bedürfnisse“ und der Art ihrer Befriedigung im historischen Kontext; weiterhin die Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe an der jeweiligen Ausprägung von Lebensqualität zugestanden wurde.
Die vorliegende Hausarbeit fokussiert vor diesem Hintergrund den Blick auf einen Teilbereich kollektiver Lebensqualität im „klassischen“ Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus: Untersucht wird das zeitgenössische Theaterwesen. Inwiefern trug es zur Lebensqualität der Bevölkerung bei, welche kollektiven und individuellen Bedürfnisse wurden im Rahmen der Aufführungen bedient und befriedigt, wer partizipierte inwiefern? [...]
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung: Lebensqualität im historischen Vergleich
II. Kult und Politik – Theaterfestlichkeiten der demokratischen Polis Athen
a) Dionysos – Fruchtbarkeit, Verwandlung, Wahnsinn
b) Die Theaterfestlichkeiten
c) Die Beteiligung der Bürgerschaft
III. „ ... wie dem Mensch sauwohl seyn kann“ – Die Alte Komödie
IV. Schlussbetrachtung: Lebensqualität im Theater des demokratischen Athen
Quellen- und Literaturverzeichnis
I. Einleitung: Lebensqualität im historischen Vergleich
Der Begriff der Lebensqualität ist schwer zu greifen. Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert ihn aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als einen „mehrdimensionalen Wohlfahrtsbegriff, der vornehmlich auf die individuelle Wohlfahrt zielt“[1]. Verschiedenste Lebensbereiche werden zur Qualifizierung und Quantifizierung einbezogen (genannt werden hier z.B. Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Bildung, politische Beteiligung, Sozialbeziehungen, natürliche Umwelt). Lebensqualität besitzt eine objektive und eine subjektive Dimension; sie transportiert zudem kollektive Werte und gesellschaftspolitische Zielsetzungen. Beides gilt es insbesondere in historisch-vergleichender Perspektive im Blick zu behalten.
Der erste Definitionsversuch eines Kommilitonen versuchte dem komparativen Anliegen des Seminars weiter Rechnung zu tragen: „Lebensqualität ist die tatsächlich mögliche Inanspruchnahme von sozio-geographischen Umfeldstrukturen durch den Menschen (als Individum wie auch als Kollektiv) in der jeweiligen Ausprägung der kreatürlichen und zivilisatorisch-kulturellen Bedürfnisse“. Als Beispiele für „sozio-geographische Umfeldstrukturen“ von Antike und Moderne wurden im Seminar jeweils urbane Gesellschaft und Politik, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Sozialfürsorge, Umweltverschmutzung, Ess- und Trinkkultur sowie Architektur-, Wohnungs- und Städtebau einer genaueren Untersuchung unterzogen. Im Vordergrund stand die Bestimmung der Charakteristika der „kreatürlichen und zivilisatorisch-kulturellen Bedürfnisse“ und der Art ihrer Befriedigung im historischen Kontext; weiterhin die Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe an der jeweiligen Ausprägung von Lebensqualität zugestanden wurde.
Die vorliegende Hausarbeit fokussiert vor diesem Hintergrund den Blick auf einen Teilbereich kollektiver Lebensqualität im „klassischen“ Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus: Untersucht wird das zeitgenössische Theaterwesen. Inwiefern trug es zur Lebensqualität der Bevölkerung bei, welche kollektiven und individuellen Bedürfnisse wurden im Rahmen der Aufführungen bedient und befriedigt, wer partizipierte inwiefern ?
Es wird deutlich werden, dass die Aufführung von Tragödien und Komödien für den athenischen Bürger des 5. Jahrhunderts v. Chr. eine gänzlich andere, ungleich tiefere Bedeutung innehatten, als für einen Theaterbesucher in heutiger Zeit. Die Theaterfestlichkeiten Athens waren praktizierte Götterverehrung, Identitätsstiftung nach innen, politische Repräsentation nach aussen, sie dienten der Bildung und Volkserziehung und boten doch gleichsam die Möglichkeit, karnevalistisch mal richtig „die Sau rauszulassen“. Diese Besonderheiten athenischer „Lebensqualität im Theater“ gilt es im folgenden herauszuarbeiten.
Die Annäherung erfolgt in zwei Schritten. Der erste Teil der Arbeit widmet sich den strukturellen Gegebenheiten von Dramenaufführungen: Hier geht es um die Rahmenbedingungen von Theater. Der kultische und politische Bezug, das Procedere und die Partizipation der Menschen wird dargelegt – stets vor der Fragestellung, welche Funktionen die Theaterfestlichkeiten im Hinblick auf individuelle und kollektive Bedürfnisbefriedigung erfüllten. Der zweite Teil widmet sich stärker der Darbietung und den Inhalten: Skizziert wird die zeitgenössische Dramengattung „Alte Komödie“ am Beispiel ihres Hauptvertreters Aristophanes. Sie gilt als typisches Theater der demokratischen Polis, die mit den Umwälzungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. verschwindet. Das religiöse, politische und soziale Bezugssystem, in welches die Dramenaufführungen im „klassischen“ Athen und ihr Beitrag zur Lebensqualität eingebettet waren, gewinnt durch die Spezifika der aristophanischen Komödie weiter an Schärfe.
Aus dem Arbeitsvorhaben ergibt sich die Literaturgrundlage. Als Quellen wurden die elf erhaltenen Komödien des Aristophanes in der Übersetzung von Ludwig Seeger genutzt[2]. Weite Teile insbesondere des ersten Abschnitts stützen sich auf theater- und literaturhistorische Sekundärliteratur, die das antike Theaterwesen Athens, die Alte Komödie und den Dichter in weiteren Zusamenhängen darstellen[3]. Die Breite der Thematik – das Theater wies Bezüge in alle Lebensbereiche der Polis auf – sowie die Auswertung des archäologischen Materials, die für die Darstellung des antiken Theaterwesens vonnöten ist, führte im Rahmen des Vorhabens zwangsläufig zu einer Einschränkung der eigenständigen Quellenauswertung. Über Aristophanes ist zudem abgesehen von den Informationen, die er selbst mit seinen Stücken gibt (den ersten vollständig erhaltenen Komödien überhaupt), sowie den Platzierungen im Dichterwettbewerb kaum etwas bekannt.
Schließlich sollen die Fäden zusammengezogen werden: Welche Aussagen lassen sich aus dem umrissenen Theaterwesen des 5. Jahrhunderts über das athenische Verständnis von Lebensqualität gewinnen ? Welche individuellen und kollektiven Bedürfnisse werden im historischen Kontext der demokratischen Polis durch das Theaterwesen befriedigt ?
II. Kult und Politik – Theaterfestlichkeiten der demokratischen Polis Athen
In der von Thukydides überlieferten „Leichenrede des Perikles“ stellt der Politiker die aus seiner Sicht charakteristischen Merkmale des Lebens in der Polis Athen zu klassischer Zeit (hier: Winter 431/30 v. Chr.) dar. Es findet sich eine Bemerkung, die im Zusammenhang mit dem Theater wie auch dem Verständnis von „Lebensqualität“ im historischen Kontext aufhorchen lässt: „Dann haben wir uns bei unsrer Denkweise auch von der Arbeit die meisten Erholungen geschaffen: Wettspiele und Opfer, die jahraus, jahrein bei uns Brauch sind, und die schönsten häuslichen Einrichtungen, deren tägliche Lust das Bittere verscheucht“[4]. Perikles benennt Agone und Götterverehrung als Teil der öffentlichen Aufgaben (im Gegensatz zu privaten „häuslichen Einrichtungen“), die der Entspannung der Bürger von den Belastungen des Alltags (und somit der Steigerung ihrer Lebensqualität) dienen sollen[5].
Der Begriff des Agon bezeichnet eine besondere zeitgenössische Vorliebe: In seiner ursprünglichen Bedeutung die öffentliche Zusammenkunft, bald jedoch hauptsächlich den Wettkampf. „Die Griechen liebten den Wettstreit, und so gestalteten sie ihre „Zusammenkünfte“ häufig in Form von „Wettkämpfen““[6]. Das agonale Prinzip bestimmte in mehrfacher Hinsicht auch die dramatischen Aufführungen. Einerseits traten hier mehrere Dichter mit ihren Stücken gegeneinander um die Gunst einer Jury an, andererseits findet sich der Wettkampf im Agon vielfach als Strukturprinzip der Dichtung und als inhaltliches Motiv[7]. Kulturelle und sportliche Wettkämpfe standen zudem in enger Verbindung mit Götterkult und Selbstverständnis der Polis. Sie wurden oftmals an Festtagen zu Ehren der Götter organisiert und ausgetragen. Gerade die dramatischen Agone stehen in vielfacher Verbindung zu Kult, Mythos und Ritus.
Sie bildeten damit einen wesentlichen Beitrag zur spezifisch-athenischen Lebensqualität im Sinne der Perikles-Überlieferung. „Athen hingegen [im Kontrast zu Sparta, J.J.] verfügte über einen Lebensrythmus des Ein- und Ausatmens, der vollen Einsatzbereitschaft im friedlichen Alltagsleben und in den Kriegsnotwendigeiten, der jedoch als Ventil-Alternativen zur täglichen Sorgenbeladenheit, zu Verlust, Kummer und Trauer eine über das ganze Jahr verteilte Kette der Festlichkeiten gegenüberstand: eine Quelle gemeinsamen erregenden Erlebens des Großen oder des Erheiternden, des Nachdenkens und des Selbsterkennens im Spiegel der Spiele, der Wettkämpfe oder der Opfer für den Gott der Verwandlung“[8].
Das Theaterwesen in Athen war fest eingebunden in die „Kette der Festlichkeiten“. Zwei Mal im Jahr wurden Tragödien und Komödien im Wettstreit auf die Bühne gebracht. Die Dramenaufführungen fanden statt im Rahmen von mehrtägigen Feierlichkeiten: Den älteren, dreitägigen Lenäen sowie anlässlich der fünftägigen, Städtischen oder Grossen Dionysien. Beide Feste wurden zu Ehren des Dionysos veranstaltet.
a) Dionysos – Fruchtbarkeit, Verwandlung, Wahnsinn
Dionysos steht für das „Andere“, „die erschütternde und unbegreifliche Seite des Heiligen“[9]. Er stand scheinbar der aristokratischen Gesellschaft fern (in den Epen Homers findet er kaum Erwähnung), und wurde bereits vor der dorischen Wanderung in Griechenland verehrt[10]. Sein Kult war weit verbreitet; ab dem 6. Jahrhundert vor Christus wurde er wohl in ganz Griechenland gepflegt[11].
Dem Mythos zufolge wurde Dionysos zwei Mal geboren: Mutter Semele wird beim Versuch, ihren Liebhaber Zeus zu betrachten, von ihm mit dem Blitz erschlagen – Vater Zeus verpflanzt Dionysos in seinen Schenkel und beschert ihm eine zweite, göttliche Geburt. Schon als Kind muss er Mädchenkleider tragen, um der Verfolgung durch Hera zu entgehen. Später durchstreift er Griechenland und den Osten. Nach einigen Quellen wurde Dionysos von seinen Jägern bis zum Wahnsinn getrieben[12]. Die Ankunft bzw. die Rückkehr des in der Fremde umherziehenden Gottes in die Polis ist ein zentrales Motiv des Kultes, das auch in den Festlichkeiten ihm zu Ehren ihren Ausdruck findet.
[...]
[1] Art. „Lebensqualität“, in: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 13, Mannheim 199019, S.180-183.
[2] Newiger, H.-J. (Hg.), Aristophanes, übers. v. L. Seeger, München 1968.
[3] Hervorzuheben sind hier besonders: Blume, H.-D., Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1978; Ehrenberg, V., Aristophanes und das Volk von Athen, Zürich / Stuttgart 1968; Kindermann, H., Das Theaterpublikum der Antike, Salzburg 1979; Newiger, H.-J., Drama und Theater, Stuttgart 1996; Pickard-Cambridge, A., The Dramatic Festivals of Athens, Oxford 1968²; Zimmermann, B., Die griechische Komödie, Düsseldorf / Zürich 1998.
[4] Thuk. II, 38.
[5] Vgl. Zimmermann, S.16.
[6] Segal, C., Zuschauer und Zuhörer, in: Vernant, J.-P. (Hg.), Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt am Main / New York 1993, S.219-254, hier: S.226.
[7] In den Komödien des Aristophanes kommt es ständig zu agonalen Wortgefechten: Als Beispiele seien die Auseinandersetzung zwischen Wursthändler und Paphlagonier in den „Rittern“ (Ar. Equ. 314-481), den Anwälten der guten und der schlechten Sache in den „Wolken“ (Ar. Nub. 889-1111) und der Wettkampf zwischen Euripides und Aischylos vor dem Schiedsrichter Dionysos in den „Fröschen“ (Ar. Ran. 906-1478) genannt. Vgl. Brauneck, M., Die Welt als Bühne, Bd. 1, Stuttgart 1993, S. 164 f.; Zimmermann, S. 42.
[8] Kindermann, S.13.
[9] Vegetti, M., Der Mensch und die Götter, in: Vernant, J.-P. (Hg.), Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt / New York / Paris 1993, S.295-333, hier: S. 311.
[10] Blume, S.14.
[11] Kern, O., Art. „Dionysos“, in: RE IX,1 (1903), Sp. 1010-1046, hier: Sp. 1011.
[12] Bruit Zaidman, L., Die Religion der Griechen: Kult und Mythos, München 1994, S. 201.
- Quote paper
- Jan Jansen (Author), 2000, Lebensqualität im Theater des demokratischen Athen , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27040
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