Während im Rahmen der Diskussionen über die teilweise zutiefst beunruhigenden Ergebnisse verschiedener internationaler, auf die Evaluierung von Schülerkompetenzen abzielender Studien wie PISA, TIMMS, oder IGLU häufig nur das Verstellen einzelner Stellschrauben innerhalb unseres deutschen Schulsystem eingefordert wird, wirken Maria Montessoris Ideen einer das Individuum in respektvoller Weise bei seiner freien Persönlichkeitsentfaltung unterstützenden Pädagogik trotz deren Alters geradezu revolutionär. Inwiefern die Ansätze Montessoris eine sinnvolle Implementierung in den Mathematikunterricht sein können, ist das tragende Thema dieser Arbeit. Die Vorstellung des Wirkens der während eines Aufenthaltes in Nicaragua von mir besuchten Escuela de Sueños de Luisa soll diese Arbeit mit einem praxispädagogischen Einblick komplettieren.
Zunächst möchte ich durch die Darlegung der von mir als am wichtigsten empfundenen Grundlagen der Montessori-Pädagogik ein solides Fundament schaffen, auf dem die anschließend dargelegten Ausführungen zur Mathematikdidaktik nach Montessori teils als sich logisch daraus ergebende Konsequenzen fußen. Der didaktische Hintergrund hinter dem gezielten Einsatz der umfangreichen Mathematikmaterialien soll hierbei gesondert behandelt werden. Abschließend schildere ich auf Basis der Befragungen der Mitarbeiter der Escuela de Sueños de Luisa und meiner eigenen Beobachtungen die Erfahrungen bezüglich der benannten Schule, insbesondere zu deren unterrichtspraktischer Realisierung der Vorstellungen Montessori hinsichtlich der Kultivierung des mathematischen Geistes. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf die vielfältigen Schriften Maria Montessoris, aber auch auf Publikationen von deren Sohn Mario Montessori sowie Drenckhahn, Klein, Menges und Thom (u.a.).
Inhaltsverzeichnis
I Einführung
II Grundlagen der Montessori-Pädagogik
II.1 Das Kind als Baumeister seiner selbst
II.2 Entwicklungsphasen nach Montessori
II.2.1 Die sensiblen Perioden
II.2.2 Erste Entwicklungs- und Erziehungsstufe
II.2.3 Zweite Entwicklungs- und Erziehungsstufe
II.2.4 Dritte Entwicklungs- und Erziehungsstufe
II.3 Vorbereitete Umgebung
II.4 Freie Arbeit
III Mathematische Bildung nach Montessori
III.1 Didaktische Ansätze
III.2 Materialieneinsatz
IV Escuela de Sueños de Luisa
IV.1 Die Schule – Projekthintergrund
IV.2 Mathematische Bildung
V Fazit
VI Literaturverzeichnis
I Einführung
Während im Rahmen der Diskussionen über die teilweise zutiefst beunruhigenden Ergebnisse verschiedener internationaler, auf die Evaluierung von Schülerkompetenzen abzielender Studien wie PISA, TIMMS, oder IGLU häufig nur das Verstellen einzelner Stellschrauben innerhalb unseres deutschen Schulsystem eingefordert wird, wirken Maria Montessoris Ideen einer das Individuum in respektvoller Weise bei seiner freien Persönlichkeitsentfaltung unterstützenden Pädagogik trotz deren Alters geradezu revolutionär. Inwiefern die Ansätze Montessoris eine sinnvolle Implementierung in den Mathematikunterricht sein können, ist das tragende Thema dieser Arbeit. Die Vorstellung des Wirkens der während eines Aufenthaltes in Nicaragua von mir besuchten Escuela de Sueños de Luisa soll diese Arbeit mit einem praxispädagogischen Einblick komplettieren.
Zunächst möchte ich durch die Darlegung der von mir als am wichtigsten empfundenen Grundlagen der Montessori-Pädagogik ein solides Fundament schaffen, auf dem die anschließend dargelegten Ausführungen zur Mathematikdidaktik nach Montessori teils als sich logisch daraus ergebende Konsequenzen fußen. Der didaktische Hintergrund hinter dem gezielten Einsatz der umfangreichen Mathematikmaterialien soll hierbei gesondert behandelt werden. Abschließend schildere ich auf Basis der Befragungen der Mitarbeiter der Escuela de Sueños de Luisa und meiner eigenen Beobachtungen die Erfahrungen bezüglich der benannten Schule, insbesondere zu deren unterrichtspraktischer Realisierung der Vorstellungen Montessori hinsichtlich der Kultivierung des mathematischen Geistes. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf die vielfältigen Schriften Maria Montessoris, aber auch auf Publikationen von deren Sohn Mario Montessori sowie Drenckhahn, Klein, Menges und Thom (u.a.).
II Grundlagen der Montessori-Pädagogik
II.1 Das Kind als Baumeister seiner selbst
Der zentrale Ausgangspunkt aller Bestrebungen der Montessori-Pädagogik besteht in der Überzeugung, dass sämtliche Entwicklungsprozesse den im inneren Bauplan des Kindes angelegten Potenzialen entspringen. Deren freie Entfaltung muss gewährleistet werden, um eine gesunde Menschwerdung zu ermöglichen, sowohl in physischer, wie vor allem auch in psychischer Hinsicht (vgl. Montessori 1934: 44). Im Inneren des Kindes ist also bereits verankert, in welcher Art und Weise es seine Potenziale ausschöpfen, seine Fähigkeiten ausbilden und seinen Platz in der Welt einnehmen möchte. Es kann insofern „in einem konstruktivistischen Sinne als Schöpfer seines eigenen Lernens und Seins“ (Menges 2009: 3) gesehen werden. Montessori schreibt hierzu:
„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen, und es gibt niemand, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde.“ (Montessori 1978: 13)
Das Kind strebt unbewusst beständig nach Selbstständigkeit und Loslösung vom Erwachsenen, um seine eigene, freie Persönlichkeit auszubilden (vgl. Montessori 1934: 28). Nach Menges gründet sich hierin der Drang, sämtliche Entwicklungsarbeit selbst zu verrichten und die eigene Person auszuformen (vgl. Menges 2009: 3).
Der Ausschöpfung dieser großartigen inneren Potenziale wurde die zu Montessoris Lebzeiten vorherrschende pädagogische Praxis allerdings in keiner Weise gerecht. Vielmehr war der charakteristische Lehransatz jener Zeit vom Bild des sogenannten Nürnberger Trichters geprägt, eben von jenem Versuch, das Kind als das erwähnte leere Gefäß, als von außen formbares, weiches Wachs mit den vermeintlichen Errungenschaften und dem Wissen der Erwachsenenwelt auszustatten und dergestalt zu formen (vgl. Montesssori 1934: 28). Zwar bedient sich die pädagogische Praxis heute wohl kaum noch des Bildes des Nürnberger Trichters, sondern spricht analog der Ideen Montessoris von der Ausgestaltung von Lernumgebungen (vgl. etwa Meyer 2008: 121ff), jedoch bleibt die Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des Kindes weit hinter den Forderungen Montessoris zurück. Insbesondere deutlich wird dies in der pädagogischen Praxis der öffentlichen Schulen Nicaraguas, in denen immer noch ein sehr einseitig Lehrer- und Lehrstoff-dominierter Unterricht vorherrscht, der mit Montessoris Gedanken teils heftig kollidiert. Die Formulierung des „Eintrichterns“ der Lerninhalte ist häufig nicht fehl am Platz und beschreibt das stumpfe Auswendiglernen und Reproduzieren von Lerninhalten bis hinein in den mathematischen Unterricht, dessen innere Struktur eigentlich in besonders hohem Maße Verständnis und Vorstellungsvermögen fordert.
Nach Montessori steht sich das Kind einer von der Erwachsenenwelt geschaffenen menschlichen Gesellschaft völlig fremd gegenüber.
„Es ist also ein Wesen, das ganz und gar abseits der von den Menschen geschaffenen sozialen Organisation lebt, ein Fremdling in der künstlichen Welt, die der Mensch neben der Natur und von ihr getrennt sich aufgebaut hat. In der Welt, in die es hineingeboren wird, ist das Kind vorzüglich ein außergesellschaftliches Wesen […]“ (Montessori 1938 a: 9).
Das Kind befindet sich in einer Situation, in der es nicht an der Gestaltung und Organisation menschlicher Gesellschaft partizipieren kann, und „[…] darum das zustande gebrachte Gleichgewicht stört“ (ebenda). Die Erwachsenen formen eine Umgebung, die an den ganz anders gearteten Bedürfnissen des Kindes wenig Interesse zeigt. Vielmehr wird versucht, das Kind für die vorgefertigte Form der Erwachsenenwelt gefügig zu machen und in diese hineinzupressen.
Montessori wehrt sich mit aller Macht gegen dieses bevormundende Selbstverständnis der Erwachsenen. Das Kind soll aus seiner Fremdbestimmung und unnatürlichen Reglementierung befreit werden. Der Leitgedanke der Montessori-Pädagogik besteht vielmehr darin, dem Kind unter Achtung seiner Würde und Einzigartigkeit bei seiner individuell gestalteten Entwicklung helfend zur Seite zu stehen, während die Lernprozesse des Kindes von dessen Eigenaktivität getragen werden. Der Erwachsene wird zum aufmerksamen Beobachter, zum Gestalter von anregungsreichen Umgebungen, und das Kind zum aktiven Entdecker und zugleich formgebende Kraft seiner Umwelt. Seine Entwicklung verläuft nach seinem immanenten Bauplan anhand seiner physischen und psychischen Entwicklungsphasen. „La[ss]t uns den Menschen erkennen lernen, erhaben in seiner wahren Wirklichkeit, la[ss]t uns ihn im zartesten Kind erkennen lernen“ (Montessori 1910: 48).
II.2 Entwicklungsphasen nach Montessori
Die Montessori-Pädagogik weist den unterschiedlichen psychomotorischen Entwicklungsphasen des Menschen innerhalb ihrer Stufentheorie die jeweils entsprechenden Erziehungsetappen zu, die von verschiedenen pädagogischen Einrichtungen begleitet werden (vgl. Raapke 2003: Punkt 3 und 7). Bevor diese einzelnen Phasen näher vorgestellt werden, soll zunächst die Begrifflichkeit der sogenannten sensiblen Perioden geklärt werden.
II.2.1 Die sensiblen Perioden
Montessori versteht unter sensiblen Perioden bestimmte Phasen in der individuellen Entwicklung des Kindes, in dem es für neue Lerninhalte ganz besonders empfänglich ist, also eine hohe Sensibilität für spezifische Lernprozesse und Umwelteinflüsse besitzt.
„So wie sein Körper in Intervallen wächst und sich entwickelt, so wächst auch seine Persönlichkeit in Perioden bestimmter Sensibilität. Die Entwicklungsarbeit, die das Kind leistet, wird von Gesetzen bestimmt, die wir nicht kennen, und folgt dem Rhythmus einer Aktivität, die uns fremd ist“ (Montessori 1996: 10)
Diese Vorstellung deckt sich weitgehend mit Erkenntnissen der Entwicklungsbiologie. Jene sensiblen Phasen werden von dieser auch als sich temporär öffnende Fenster bzw. kritische Perioden bezeichnet, innerhalb deren bestimmte motorische wie auch kognitive Fähigkeiten besonders leicht erlernt und verfeinert werden, währenddessen es zu anderen Zeitpunkten eventuell kaum noch möglich sein wird, die entsprechenden Fertigkeiten zu erlernen (vgl. Klein 2005: 102). Gleichsam eröffnen sich neue Räume für den weiteren Lernprozess, es bilden sich neue Anknüpfpunkte innerhalb des bestehenden Wissensnetzes, an denen zukünftige neue Lerninhalte angedockt werden können. Als Musterbeispiel für die zeitliche Begrenztheit der sensiblen Perioden führt Montessori den Erwerb der Muttersprache im Kleinkindalter an. Das Kind erlernt die es umgebende Sprachstruktur auf natürliche Weise in einer Vollkommenheit, die später trotz aller Anstrengungen nicht mehr aufzuholen ist. Ältere erlernen neue Sprachen hingegen in vollem Bewusstsein über ihre Lernziele, sind aber nur in seltenen Fällen in der Lage, die zu spät erlernte neue Sprache akzentfrei und ohne grammatikalische bzw. orthografische Fehler zu sprechen (vgl. Montessori 1930: 46).
Da sich kaum voraussagen lässt, wann genau sich die individuell variierenden Zeitfenster des Kindes öffnen, wann also genau jene sensiblen Perioden der entsprechenden Geistesfütterung durch stimulierende Umwelteinflüsse bedürfen, ist ein aufmerksames Beobachten des Kindes durch den Erzieher ein Grundanliegen der Montessori-Pädagogik (vgl. Klein 2005: 103). Aufgrund der vorangehend beschriebenen Erkenntnisse kommt Singer zu folgender Schlussfolgerung:
„Die Existenz zeitlich gestaffelter sensibler Phasen für die Ausbildung verschiedener Hirnfunktionen führt zu dem Postulat, dass das Rechte zur rechten Zeit verfügbar oder angeboten werden muss. Es ist nutzlos, oder womöglich sogar kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, die nicht adäquat verarbeitet werden können, weil die entsprechenden Entwicklungsfenster nicht offen sind. Da bislang nur wenige Daten darüber vorliegen, wann das menschliche Gehirn welche Informationen benötigt, ist wohl die beste Strategie, sorgfältig zu beobachten, wonach Kinder fragen.“ (Singer 2003: 74)
Singer formuliert hier aus der Sicht der Gehirnforschung analog zu den Ansätzen Montessoris die Notwendigkeit einer intensiven und aufmerksamen Begleitung des Kindes durch dessen Erzieher, welchem es obliegt, auf die Äußerungen und Signale des Kindes entsprechend zu reagieren. Montessoris Stufentheorie gibt Pädagogen hierfür einen Leitfaden an die Hand, der verdeutlicht, welche natürlichen Entwicklungsprozesse zu welchen Zeitpunkten in etwa zu erwarten sind und dementsprechend begleitet und angestoßen werden sollten.
II.2.2 Erste Entwicklungs- und Erziehungsstufe
Die erste Phase der Erziehung umfasst die Entwicklungsprozesse des Kindes im Alter bis zu sechs Jahren und wird von Montessori wiederrum in zwei jeweils dreijährige Teilphasen gegliedert. „Nach Montessoris Auffassung, aber auch nach heutigem Forschungsstand, werden beim Kleinkind die Fähigkeiten der Bewegung, Wahrnehmung, Sprache, Sozialität usw. grundlegend aufgebaut“ (Raapke 2003: Punkt 7). Das Grundlegende, das Formative dieser ersten Jahre ist die Basis für sämtliche weiteren Entwicklungsprozesse (vgl. Montessori 1938 b: 19ff). Montessori spricht förderhin vom jungen Kind als einem psychischen Embryo, dem eine zweite, eine gesellschaftliche Geburt bevorsteht. Das Kind reift auf einer neuen Ebene außerhalb des Mutterleibes nach seinem immanenten Bauplan heran. Seine Potenziale sind vorhanden, müssen aber durch seine Umwelt, durch geistige Nahrung, stimuliert werden. Fuchs schreibt:
[...]
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- Georg Langner (Author), 2011, Mathematische Bildung nach Maria Montessori, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270158
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