Es ist schon eine interessante Angelegenheit, dieses Mitleid: Spricht man mit Menschen über das Thema Mitleid und ihre Erfahrungen damit, berichtet die überwältigende Mehrheit von einem unguten Gefühl. Trotzdem wird es von fast allen als eine jener Tugenden angesehen, die es am meisten zu bewahren gilt. Das Mitleid wird als jene große Empfindung angesehen, die uns Menschen zu Menschen macht, die uns über Nationalitäten, Rassen und Sprachen hinaus als gemeinsame Menschheit Menschen sein lässt.
Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) sah das ähnlich und baute seine gesamte Ethik auf dem Mitleid als Fundament auf. Der eine übertritt seinen Nahbereich, überwältigt seinen Egoismus und leidet quasi dieselben Qualen wie derjenige, der das Mitleid empfängt – geteiltes Leid ist halbes Leid. Selbstzwecklose Hilfe in der sonst von Trieb und Egoismus geprägten Welt des Willens, Trachtens und Strebens.
Umso verwunderlicher erscheint es einem dann, wenn man bei Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) auf einmal hört: Mitleid ist Schwäche! Mitleid ist schädlich! Wie kann man eine solche Aussage treffen? Doch genau ist das radikale an einem Denker wie Nietzsche: Bewährtes und Eingefahrenes wird von ihm vom Sockel herab auf Augenhöhe gerissen und neu geprüft. Egal, ob dies das altbewährte und vielgeachtete Mitleid ist, oder die Relevanz Gottes. Nichts scheint ihm heilig zu sein – und genau das ist der Grund, warum er ein Denker war, der seiner Zeit voraus war.
Die Frage, die sich bei der Überlegung über Mitleid nun natürlich aufdrängt kann nur sein: Ist das Mitleid ein Wolf im Schafspelz? Überlegt man dann einen Schritt weiter und begibt sich in dieses zunächst absurd scheinende Gedankenspiel, kommt man schnell zur nächsten Frage: Wenn dem tatsächlich so sei, was soll dann an die Stelle des Mitleids treten? Schließlich kann die Autorität der Empfindung des Mitleids nach einer solchen Degradierung und des Vorwurfs des Betrugs und der Sabotage keine weitere Gültigkeit.
Mit diesen Fragen wird sich diese Arbeit beschäftigen. Die Arbeit soll darüber hinaus zeigen, dass Nietzsche eben keine böswillige misanthropische Philosophie vertrat, bei der jeder nur nach Macht über andere strebt und das Mitleid per se verteufelt wird. Es soll gezeigt werden, wie es Nietzsche vor allem um den menschlichen Umgang mit Mitleid geht.
Inhalt
1. Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Wille zur Macht
1.1. Schopenhauers Philosophie des Leidens
1.1.1. Bejahung des Willens und der Zirkel des Leidens als Folge
1.1.2. Auswege aus dem Zirkel des Leidens
1.2. Nietzsches Beurteilung der Erlösungslehre Schopenhauers und sein Gegenentwurf im Zeichen des Willen zur Macht“
1.2.1. Kritik an der leidenschaftslosen Kontemplation
1.2.2. Kritik an der Mitleidsmoral
1.2.3. Kritik an den asketischen Idealen
1.2.4. Nietzsches Gegenentwurf im Zeichen des Willen zur Macht
2. Mitleid überwinden
2.1. Mitleid in der Bewertung
2.2. Das Gefahrenpotential von Mitleid
2.3. Mitleid und Großzügigkeit
2.4. Mitwissen
2.5. Mitfühlen und Mitleid überwinden
Quellen
Vorwort
Es ist schon eine interessante Angelegenheit, dieses Mitleid: Spricht man mit Men- schen über das Thema Mitleid und ihre Erfahrungen damit, berichtet die überwälti- gende Mehrheit von einem unguten Gefühl. Trotzdem wird es von fast allen als eine jener Tugenden angesehen, die es am meisten zu bewahren gilt. Das Mitleid wird als jene große Empfindung angesehen, die uns Menschen zu Menschen macht, die uns über Nationalitäten, Rassen und Sprachen hinaus als gemeinsame Menschheit Men- schen sein lässt.
Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) sah das ähnlich und baute seine gesamte Ethik auf dem Mitleid als Fundament auf. Der eine übertritt seinen Nahbereich, überwältigt seinen Egoismus und leidet quasi dieselben Qualen wie derjenige, der das Mitleid empfängt - geteiltes Leid ist halbes Leid. Selbstzwecklose Hilfe in der sonst von Trieb und Egoismus geprägten Welt des Willens, Trachtens und Strebens.
Umso verwunderlicher erscheint es einem dann, wenn man bei Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) auf einmal hört: Mitleid ist Schwäche! Mitleid ist schädlich! Wie kann man eine solche Aussage treffen? Doch genau ist das radikale an einem Denker wie Nietzsche: Bewährtes und Eingefahrenes wird von ihm vom Sockel herab auf Augenhöhe gerissen und neu geprüft. Egal, ob dies das altbewährte und vielgeachtete Mitleid ist, oder die Relevanz Gottes. Nichts scheint ihm heilig zu sein - und genau das ist der Grund, warum er ein Denker war, der seiner Zeit voraus war.
Die Frage, die sich bei der Überlegung über Mitleid nun natürlich aufdrängt kann nur sein: Ist das Mitleid ein Wolf im Schafspelz? Überlegt man dann einen Schritt wei- ter und begibt sich in dieses zunächst absurd scheinende Gedankenspiel, kommt man schnell zur nächsten Frage: Wenn dem tatsächlich so sei, was soll dann an die Stelle des Mitleids treten? Schließlich kann die Autorität der Empfindung des Mitleids nach einer solchen Degradierung und des Vorwurfs des Betrugs und der Sabotage keine wei- tere Gültigkeit besitzen.
Mit diesen Fragen wird sich diese Arbeit beschäftigen. Die Arbeit soll darüber hinaus zeigen, dass Nietzsche eben keine böswillige misanthropische Philosophie vertrat, bei der jeder nur nach Macht über andere strebt und das Mitleid per se verteufelt wird. Es soll gezeigt werden, wie es Nietzsche vor allem um den menschlichen Umgang mit Mit- leid geht.
Hierzu soll zunächst ein Blick auf Schopenhauers Ethik des Mitleids geworfen werden (1.1.), um die Ausgangslage für die Überlegungen und Entwicklungen Nietzsches nachvollziehen zu können. Dazu kontrastierend wird sich Kapitel 1.2. mit der Kritik Nietzsches an den für den Gedankengang entscheidenden Stellen Schopenhauers befassen, sowie seine entsprechenden Gegenentwürfe skizzieren. Der nächste gedankliche Schritt wird dann in Kapitel 2 Vollzogen: Das Mitleid wird überwunden und sein Wert wird neu, und vor allem neuartig, zugeteilt.
Mit Nietzsche das Mitleid überwinden
Wie Friedrich Nietzsche das Mitleid überwindet und den Wert des Mitleids neuartig zuteilt
1. Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Wille zur Macht
Zwischen Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches ethischen Entwürfen lassen sich fundamentale Unterschiede und unverkennbare Gemeinsamkeiten gelichermaßen feststellen. Als Schopenhauer 1860 im Alter von 72 Jahren in Frankfurt am Main starb, wird Friedrich Nietzsche gerade 16 Jahre alt. Als Student in Leipzig wendet sich dieser der Philosophie Arthur Schopenhauers zu und vertritt dessen Ideen entschieden, um sich später von ihnen zu lösen und sich vehement von ihrem Schöpfer zu kontrastie- ren. Eine Vielzahl der Ideen Nietzsches bauen zwar grundsätzlich auf dem Fundament Arthur Schopenhauers Philosophie auf, der generelle Blick auf das menschliche Leben und seine Umstände unterscheidet sich, neben vielen anderen Aspekten, jedoch grundlegend.
Schopenhauer entwirft das menschliche Leben als Zirkel des Leidens. Gleichzeitig hat der Philosoph des metaphysischen Pessimismus jedoch auch unentwegt nach Auswegen aus diesem Zirkel des Leidens, der den Menschen in seinem Leben quält, gesucht. Gefunden hat er diese in der Lehre der Verneinung des Willens und der Überwindung des Egoismus im Mitleid.1
Nietzsche hingegen wandte sich von der pessimistischen Philosophie Schopen- hauers ab und richtete seine eigene Philosophie hin zum Leiblich-Vitalen, zum das Le- ben bejahenden. Er sprach vom Willen zur Macht, von der Befreiung durch Selbst- überwindung und von Trieb-Gestaltung anstelle von Trieb-Abtötung.2 Das Mitleid, auf dem Schopenhauer seine gesamte Ethik aufbaut, sieht Nietzsche als Schwäche und als potentielle Waffe - verdammt es zu einem der größten Übel. Entgegen seinem einsti- gen geistigen Lehrer Schopenhauer, entwirft Nietzsche keine systematische Ethik. Sehr wohl jedoch entwirft er eine in sich schlüssige Idee von Moral in der das Mitleid eine untergeordnete Rolle spielt. Eine Moral in der das Mitleid vielmehr überwunden wer- den muss.
Um die Systematik und die ideologische Entwicklung hin zu Nietzsches Appell der Selbstüberwindung im Kontext der Frage des Mitleids nachvollziehen zu können, soll zunächst Arthur Schopenhauers Philosophie des Leidens umrissen und sein Begriff von Mitleid erörtert werden, um im Anschluss zu sehen, wie Nietzsche diesem ethischen Entwurf entgegnet.
1.1. Schopenhauers Philosophie des Leidens
Für Arthur Schopenhauer geht es vor Allem darum zu begreifen, weshalb wir zwischen zwei Welten zerrissen sind und zerrissen sein müssen:3 Für Schopenhauer waren diese zwei Welten die eine der Vorstellung, also dem Bewusstsein, dem Intellekt und dem Geist und zum Anderen die Welt des Willens, also die Welt der Triebnatur, dem Leib, dem Triebunbewussten. In Freuds Worten kann man sagen: Der Zwiespalt zwischen Ich und Es.4
1.1.1. Bejahung des Willens und der Zirkel des Leidens als Folge
Diese Zerrissenheit zwischen zwei Welten ist für ihn grundlegend für jede menschliche Existenz. Die Welt des Willens sei dabei das Primäre und eigentlich reale. Die Welt der Vorstellung hingegen sei nur von sekundärer Bedeutung.5 Unser wahres Selbst, so Schopenhauer, stecke hinter jenem, was nichts anderes kenne, als Wollen und Nicht- wollen, als Zufriedenheit und Unzufriedenheit.6 Unser wahres Selbst finden wir in der Welt des Willens.
Wie soll man sich die Welt des Willens jedoch vorstellen? Es gibt in Schopenhauers Philosophie keine Welt als ein in sich stimmendes Sinngebilde, das einer planenden Schöpferkraft folgt. Vielmehr versteht er die Welt als eine Objektivation, eine Verge- genständlichung, eines irrationalen kosmischen Willens.7 Dieser kosmische Wille lasse den Menschen in zwei Hauptrichtungen zerren: Selbsterhaltung und Fortpflanzung.
Der Wille hat die Menschen dabei fest in der Hand: Aus ebendiesen Motiven der Selbsterhaltung und Fortpflanzung, entfacht er den Drang zur Selbstbehauptung. Die- ser Wille ist dadurch dasjenige was uns voneinander trennt, uns auf berechnender Dis- tanz zueinander hält und hierarchische Strukturen etabliert. Gleichzeitig ist er jedoch auch dasjenige, das uns mit allen anderen Menschen verbindet, da an uns allen glei- chermaßen vom Willen gezerrt wird. Gibt sich der Mensch diesem Willen nun hin, bei den meisten Menschen sei ebendies der Fall, entsteht der für das menschliche Leben charakteristische Zirkel des Leidens durch ebendiese Bejahung des Willens.8 Wie kommt es jedoch dazu, dass der Mensch durch Bejahung des Willens in einen Zirkel des Leidens gerät? Der Berliner Psychotherapeut Günter Gödde (Schopenhauer und Nietzsche, 2003) dazu: ͣLeben bejahen ist Wollen, Wollen ist Streben, Streben ist Ausdruck von Mangel, Mangel besagt, dass der Wille gehemmt ist, Hemmung des Wil- lens führt zu Leiden.“9 Leiden an sich macht jedoch keinen Menschen glücklich. Bejaht man das Leben, so strebt man nach Glück, Wohlsein und Befriedigung - erreicht wird nach Schopenhauer jedoch das Gegenteil.10 Eine grundsätzlich pessimistische Einstel- lung gegenüber dem menschlichen Streben nach Glück: Man jagt einer Chimäre, einem fabelhaften Mischwesen, hinterher. Umso mehr man etwas Bestimmtes will, umso unglücklicher wird man durch die leidvolle Erfahrung, dass man eben doch nicht erreicht, was man sich wünscht.
1.1.2. Auswege aus dem Zirkel des Leidens
Die meisten Menschen, so Schopenhauer, antworten auf diesen unglücklichen Um- stand nun mit der Strategie des Egoismus, als Streben nach Dasein und Wohlsein.11 Verhält sich nun jedes Individuum egoistisch, entstehen zwangsläufig Kämpfe, Kriege und Konflikte.12
Als alternative Lösungsstrategie, aus dem Zirkel des Leidens auszubrechen, stellt er dem Egoismus drei Möglichkeiten entgegen: (a) Die ästhetische Kontemplation (Be- freiung vom Wollen durch Akte des Erkennens), (b) die Moral des Mitleids (Befreiung im moralischen Verhalten) und (c) die Verneinung des Willens durch Askese (Befreiung durch innere Wandlung).13
Unter der ästhetischen Kontemplation14 versteht Schopenhauer das ästhetische Abstandnehmen, das Entrücken in eine höhere, geistige Welt. Schopenhauer macht hier den Unterschied zwischen dem Subjekt des Wollens und dem Subjekts des Erken- nens deutlich: Während sich das Subjekt des Wollens in endlichen Dingen wiederfindet, also dem Streben, dem Wünschen, dem Trachten, ist das Subjekt des Erkennens unan- fechtbar.15 Wenn der Mensch nicht nur erkennt, sondern gleichzeitig Zwecke setzt, gerät er ins Wollen und wird wiederum zum ͣdürftig leidende[n Subjekt des Wol- lens“.[16] Er spricht sich also für ein Erkennen um der Erkenntnis willen aus. Erkenntnis als Selbstzweck ohne den schädlichen Einfluss von Bestrebungen und Zwecken außer- halb der Erkenntnis selbst, die den Menschen wieder zurück in das Wollen und somit in den Zirkel des Leidens stürzen würden. Damit einhergehend ergibt sich die Idee von Ästhetik als Zwecklosigkeit: Ästhetik äußerst sich dann, wenn es ihr nur um die eigene Ästhetik geht und dies ihr eigener und einziger Zweck ist.
Eine weitere und für den weiteren Gedankengang grundlegende Erlösungsstrategie ist die der Überwindung des Egoismus. Im Egoismus, der Befreiungsstrategie der meis- ten Menschen, kommt der unerlöste Wille laut Schopenhauer am stärksten zum Aus- druck. Diesem stellt er diametral das Mitleid, als dessen Überwindung, entgegen.17 In der Erfahrung des Mitleidens überschreitet der Mensch seinen egoistischen Nahbe- reich und wirft einen Blick auf das Ganze. Er distanziert sich von sich selbst, erkennt im anderen dasselbe Wesen und leidet mit ihm. Diesen Vorgang sah Schopenhauer nicht nur als adäquate Antwort auf den vom Wollen beherrschten Egoismus, sondern darü- ber hinaus auch als Strategie, sich vom Zirkel des Leidens und vom Wollen zu befreien: Wenn ich altruistisch handle, habe ich nicht nur meinen eigenen Nahbereich über- schritten, sondern mich vielmehr auch noch von meinem eigenen egoistischen Wollen befreit.
Die vielleicht radikalste, aber auch konsequenteste Befreiungsstrategie beschreibt Schopenhauer jedoch in der Verneinung des Willens durch Askese, der Befreiung durch innere Wandlung. Erfährt ein Mensch den ͣüberindividuellen Blick auf die llgemein- heit des Leidens [, eignet sich der gute Mensch ‚den Schmerz der ganzen Welt͚ zu“.[18] Diese Erkenntnis, so Schopenhauer, soll nun dazu führen, dass der Mensch die Aus- weglosigkeit des Wollens erkennt und sich in einer erlösenden Wandlung vom Wollen hin zum Nicht-mehr-Wollen wiederfindet. Dazu bedarf es der konsequenten Vernei- nung des Willens. Auf diese Weise ergibt sich ein Verzicht auf Erwartungen allgemein, insbesondere jedoch ein Verzicht auf Glückserwartungen. Wie bereits angesprochen wird das Streben nach Glück, i.S.v. Lust, Genuss und sinnlichen Freuden, von Schopen- hauer negativ bewertet: Einerseits weil der Mensch damit wieder einer Chimäre nach- jagt und andererseits, weil er durch das Wollen letzten Endes nur ein gegenteiliges Ergebnis erzielen kann: Den Zirkel des Leidens, also Qual und Schmerz.19 Zusammenfassend kann man also festhalten, dass es Schopenhauer um zwei unter- schiedliche Verhaltensweisen gegenüber dem Willen geht: ͣDie Willensbejahung als Hauptquelle des Leidens und die Willensverneinung als ästhetische[, mitleidende] und asketische Erlösung vom Leiden.“20
1.2. Nietzsches Beurteilung der Erlösungslehre Schopenhauers und sein Gegenentwurf im Zeichen des Willen zur Macht
Nietzsche stellt sich zunächst vor allem gegen die starre Aufspaltung zwischen dem Egoistischen als Bösem und dem Unegoistischen als Gutem. Dies, so Nietzsche, habe dazu geführt, dass der Mensch vom Individuum zum Dividuum wurde: Er spricht von einer ͣSelbstzertheilung des Menschen“.21 In DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT (1882) schreibt er: ͣIm Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust: [… dass er weh tut, ist kein rgu- ment gegen ihn, es ist sein Wesen.“[22] Dieses Wesen gilt es vielmehr zu begreifen, als a priori zu verdammen.
1.2.1. Kritik an der leidenschaftslosen Kontemplation
Nietzsche wendet sich bei der von Schopenhauer als leidenschaftslos konzipierten äs- thetischen Kontemplation vor allem gegen die Objektivität. Vielmehr plädiert er für eine Leidenschaft des Erkennens: So müssten Leidenschaft und Affekt am Erkennen beteiligt sein.23 Allerdings, und davor warnt Nietzsche, nicht einseitig gewichtet: Dies würde zu dogmatischen Festlegungen im Sinne von Überzeugungen führen.24 Diesen spricht Nietzsche eine andere Rolle zu: Überzeugungen sollen nicht übernommen oder proklamiert werden, sondern vielmehr ge- und verbraucht werden. Sie sind Werkstoff und Späne der Erkenntnis; sie unterwirft sich ihnen nicht.25
1.2.2. Kritik an der Mitleidsmoral
Nietzsche steht der Idee, man könne sich im anderen genauso wiederfinden und des- halb genauso mitleiden sehr kritisch gegenüber. Gegen den Affekt des Mitleids müsse man sich vielmehr zur Wehr setzen, da dieser eine Schwäche darstelle. Den altruisti- schen Motiven Schopenhauers und dem Effekt der Erlösung stellt Nietzsche narzissti- sche und egoistische Motive wie Eitelkeit und Selbstaufwertung gegenüber, wenn es darum geht, mitzuleiden oder sogar vermeintlich altruistisch zu handeln.26 Tatsächlich, so Nietzsche, verfolgt der Mensch nämlich vor allem unbewusste egoistische Motive, wenn er aus Mitleid hilft. Wir stellen unsere Hilfe nämlich vor allem dann zur Verfü- gung, wenn wir ͣals die Mächtigeren, Helfenden hinzukommen können, des Beifalls sicher sind, unsern Glücks-Gegensatz empfinden wollen oder auch uns durch den An- blick aus der Langeweile herauszureissen hoffen.“27
1.2.3. Kritik an den asketischen Idealen
Für Nietzsche ist die vorsätzliche Brechung des eigenen Willens eine pathologische Angelegenheit.28 Diesem negativen Asketismus möchte er vielmehr einen positiven Asketismus entgegen setzen:
„Nicht Verdrängung des Selbst, der Sinnlichkeit, der Triebe, sondern Ein- übung in sie, nicht einfach Verzicht, sondern gemäßigter Umgang, nicht Verleugnung, sondern Anerkennung und Beherrschung des Verleugne- ten, nicht Weltflucht, sondern sich den Verführungen des weltlichen Da- seins stellen und lernen, sich maßvoll zu ihnen zu verhalten.“29
Askese kann somit eine Askese sein, die aus der Lebendigkeit heraus führt, oder sie kann eben eine Askese sein, die in diese hinein und zu deren Entfaltung führt.30 Grundsätzlich gesehen geht es um die Entscheidung, sich vom Leben abzuwenden und sich vom selbst zu entfernen, oder sich dem Leben zu zuwenden und es in seiner Gänze zu akzeptieren und vor allem anzunehmen. So verstanden ist Askese ein Problem der Kräfteökonomie, nicht der Moral.31
1.2.4. Nietzsches Gegenentwurf im Zeichen des Willen zur Macht
Nietzsche geht es um die Bejahung aller Seiten dieser Welt und diesen Lebens. Das Leiden schließt er damit als einen Aspekt des Lebens mit ein.32 Er vertritt einen dyna- misch-expansiven und lebensfrohen Willen zur Macht, der an die Stelle des ruhe- los-begehrlichen und erlösungsbedürftigen Willens zum Leben tritt. Er setzt Trieb-Formung, Trieb-Gestaltung an die Stelle von Trieb-Abtötung. Dies ist die Formel der Befreiung bei Nitzsche.33 Die Einteilung in zwei Welten, die eine Welt der Vorstellung, die andere Welt des Willens, übernimmt Nietzsche im Grundsatz zwar von Schopenhauer, dem Wollen misst er jedoch eine grundlegend andere Funktion zu: ͣWollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit […. Wollen befreit: Denn Wollen ist Schaffen [….“[34] Durch Wollen tritt der Mensch aus der passiven Opferrolle heraus und gestaltet, entwirft und schafft selbst.
Nietzsche sieht den Menschen nicht als passives, sondern als pro-aktives Lebewe- sen. Es gehe dem Menschen dabei nicht um Selbsterhaltung, sondern vielmehr um Expansion, um Wachstum.35 Damit ein lebender Organismus, so auch der Mensch, wachsen kann, muss er sich selbst immer wieder überwinden. Das bedeutet, Schwie- rigkeiten, die bei der Expansion auftreten, zu meistern, zu beherrschen und zu kontrol- lieren. Kurz: Die eigene Macht auszudehnen und zu manifestieren. Expansion bedeutet Machtansprüche zu setzen. Und ebendies ist bei Nietzsche dasjenige, das alle leben- den Wesen antreibt: Der Wille, die eigene Macht zu manifestieren - der Wille zur Macht.36 Dabei geht es primär jedoch nicht um die Macht des einen Individuums über das andere Individuum. Vielmehr geht es um die Macht über sich selbst: Man muss sich selbst überwinden, sich selbst Ziele setzen und den Schwierigkeiten selbst ent- schieden entgegnen, um daran zu wachsen und somit seine Macht zu manifestieren. Nietzsche geht es hier um eine selbstbestimmte Existenz als Gegenentwurf zur nor- mierten, moralischen Existenz. Der Einzelne muss sich von der Moral befreien und sein Selbst gegen Übergriffe von Konventionen behaupten.37 Das befreiende Prinzip findet sich bei Nietzsche also nicht in der Selbstlosigkeit, sondern in der Selbstüberwindung. Es geht nicht um Selbsterhaltung, sondern um Selbstgestaltung.38 Musste bei Schopenhauer der Egoismus noch durch Mitleid überwunden werden, erscheint er bei Nietzsche in einer neuen und funktional bedeutenden Gestalt.
So erfährt auch das Leid bei Nietzsche einen neuartigen Ansatz. Leiden ist bei Nietz- sche vor allem Erkenntnis. Damit stellt er sich gegen das auf die christliche Dogmatik aufbauende und weitläufig verbreitete Missverständnis des Dolorismus, Leiden habe den Zweck der Erlösung. Die Folge dieses Verständnisses ist die Schlussfolgerung, es sei nicht schlimm zu leiden, weil man ja schließlich belohnt werden wird. Die beruhigende Gewissheit, dass Leiden nicht umsonst ist, da man durch das Leiden selbst erlöst wer- den wird. Nietzsche hingegen wagt einen unvoreingenommenen Blick auf das Leiden und entdeckt es als Instrument der Erkenntnis, gibt ihm also ganz bewusst einen Zweck. Dieser, so kann man argumentieren, kann nur sein, angenommen, also interna- lisiert, zu werden, um verstanden zu werden. Um der eigenen Erkenntnis zuzuarbeiten. Bei Schopenhauer begründet sich die Entstehung des Leids vor allem in dem Wunschdenken, die Welt nach eigenen Wünschen und Erwartungen bewerten zu kön- nen. Genau das, so würde Nietzsche wahrscheinlich antworten, ist die Barriere, die das selbst zwischen mir und der Welt aufbaut. Durch eine erkenntnisorientierte Entfernung von alledem, was von mir beeinflussbar ist, also durch die Distanzierung zu mir selbst, kann ich zu einem geschärften Blick auf die Wirklichkeit gelangen.39 Man könnte mit Schopenhauers Vokabular auch sagen: Somit kann ich aus der Welt des Willens in die Welt der Vorstellung blicken. Nietzsche geht es darum zu zeigen, dass es letztlich darauf ankommt, mich selbst zu überwinden, um Ich zu sein.
2. Mitleid überwinden
Ethisch gesehen argumentiert Nietzsche aus der Perspektive des Lebens heraus. Die Frage, die er bei der Betrachtung von Phänomenen zunächst stellt ist die, ob das in Frage stehende lebensfördernden, lebenserhaltenden, arterhaltenden, oder sogar art- kultivierenden Charakter hat.40 Er hält es für grundsätzlich falsch, Werte nicht nach ihrem Nutzen oder Schädigungspotential für das Leben zu bewerten und einzuord- nen.41 Dabei wird ein Konzept menschlicher Perfektion entworfen, dass dem aristoteli- schen Konzept der tugendhaften Mäßigung entgegengesetzt auftritt. Der perfekte Mensch sucht in Nietzsches Ethik nicht nach Tugend, sondern vielmehr nach Gesund- heit.42
Wenn es nun um Selbstgestaltung und Einordnung von Werten nach ihrem Nutzen- oder Schädigungspotential geht und der Egoismus dabei als rein funktional und wert- frei gesehen wird, individualisiert sich der Mensch im Fokus seines unmittelbaren Nah- bereichs. Kann es dann noch so etwas wie ein gemeinsames Ziel der Menschheit ge- ben? Etwas, dass uns verbindet? Wenn jede Kultur eine individuell geprägte Sicht auf die Dinge, individuelle Bedürfnisse und Ziele hat, was kann dann ein gemeinsames Ziel der Menschheit sein? Nietzsche würde wahrscheinlich antworten, dass das Zielsetzen an sich das Ziel der Menschheit ist. Telos als das Bestimmen des Tele: Das setzen von Zielen und Zwecken und damit das Wertschätzen und Verachten. Kurz: Das Erschaffen von Werten.43 Und zwar nach Gesichtspunkten, die nach lebensbejahend und lebens- verneinend qualifizieren.
Auf diese Art und Weise zwingt uns das Leben förmlich, Werte zu setzen. In der Per- spektive des Lebens tritt der Wert der Wertschätzung dann folgerichtig auf die höchste Stelle, insofern man eine Hierarchie überhaupt sinnvoll vorschlagen kann: Die Wert- schätzung des Lebens, so Nietzsche, sei von allen wertzuschätzenden Dingen, das am meisten wertzuschätzende.44 Eine durchweg optimistischere Sicht auf das Leben, so- wie die menschliche Existenz und ihre Umstände, als sie noch bei Schopenhauer zu hören war.
2.1. Mitleid in der Bewertung
Nietzsche bewertet jedes menschliche Phänomen als ein Symptom von Stärke oder Schwäche, als ein Zeichen von Verbesserung des Lebens oder Verschlechterung des Lebens. Daher ergibt sich bei der Frage des Mitleids zunächst die Frage, ob es für den Menschen lebensfördernd oder lebensverschlechternd ist, mitzuleiden. Mitleid, so sagt er, ist Schwäche, insofern es Leiden verursacht. Fühlt man Mitleid, dann wird man seiner Stärke beraubt. Es macht das Leid des Leidenden ansteckend und steht daher im Gegensatz zu denjenigen Gefühlen, die unsere Vitalität steigern.45
Nietzsche geht es dabei nicht nur um denjenigen der Mitleid empfindet, sondern auch um denjenigen, der leidet.46 Welchen Wert hat Mitleid für ihn? Nietzsche spricht sich auch aus der Perspektive des Leidenden heraus ganz klar gegen das Mitleid aus: Wenn rein aus Mitleid geholfen wird, so Nietzsche, dann hilft man zu seinem eigenen Wohl alleine, nicht zum Wohl des Leidenden.47 Dies sei vor allem deshalb der Fall, weil der Leidende durch eine Hilfetat aus Mitleid der Möglichkeit beraubt wird, echte Stär- ke im eigenen Überwinden seiner Leiden zu erlangen. Damit geht die Aufforderung einher, sich Leiden zu stellen, Probleme als Herausforderung anzunehmen und sich dadurch zu einem besseren, da stärkeren, Menschen zu entwickeln.
Diese Überlegung klingt zunächst recht brutal und unmenschlich, gehen wir doch in der Regel davon aus, dass altruistisches Handeln Anderen zum Wohle geschieht. Altru- istisch Handeln ist jedoch dann, wenn man es aus Mitleid tut, bei Nietzsche nicht mög- lich. Hilft der eine dem anderen aus Mitleid, dann nur aus egoistischen Motiven. Helfen wir aus Mitleid, dann deshalb, weil wir sicher sind, dass wir dafür Anerkennung be- kommen werden und sich die Hilfetat auf unseren sozialen Status förderlich auswirkt. Außerdem können wir die selbstbefriedigende Wirkung der Distanz zwischen der eige- nen vorteilhaften Situation und der anderen unvorteilhaften Situation erfahren. Wir erkennen unser eigenes Glück durch das Kontrastmittel des Leids des Anderen.48
2.2. Das Gefahrenpotential von Mitleid
Grundlegend zum Verständnis dieser Gedankengänge, die sich alle auf die Perspektive des Lebens berufen, ist Nietzsches Verständnis von Leben. Er konzipiert ein Verständnis von Leben, das von Ungleichheit ausgeht. Wir sind eben nicht alle gleich geboren. Das Leben selbst, so führt Nietzsche an, erkennt keine gleichen Rechte für gesunde und degenerierte Teile eines Organismus an: Die letzteren müssen aus dem Organismus entfernt werden, oder er geht in Gänze zu Grunde. Das Mitleid des Einzelnen, so Nietzsche weiter, ist dabei dasjenige, das die Degeneration des Kollektivs befeuert. Dort müsse man deshalb ansetzen: Das Mitleid in den Köpfen der Einzelnen muss entfernt werden, um das Kollektiv vor dem Niedergang zu bewahren.49
Diese Sichtweise bringt jedoch noch nicht das gesamte Gefahrenpotential das Nietz- sche im Mitleid sieht zum Vorschein, da es den Leidenden als bloßen Empfänger von Hilfe charakterisiert. Geht man weiter und erinnert sich an den Willen zur Macht, kann man Mitleid nämlich vor allem als Waffe der Schwachen ansehen. Für die schwächsten der Schwachen ist es die eine Waffe, die ihnen übrig geblieben ist, die zeigen kann, dass sie noch am Leben sind. Als Manifestation ihres Willens zur Macht.50 Zeigen die Starken dann Mitleid, bedeutet das für die Schwachen gleichsam die Anerkennung der einen Macht, die sie zu jeder Zeit, trotz ihrer Schwäche, haben werden: Die Macht zu verletzen.51
Der gesamte Organismus läuft nun Gefahr von mächtigen Schwachen degeneriert zu werden, indem sie diejenigen sind, welche die Kontrolle übernehmen. Volle Kontrolle über einen anderen ist dabei immer die Kontrolle über seine Werte.52 Die Schwachen werden also dann zur Gefahr, wenn sie durch die Erregung des Mitleids die Idee in den Köpfen der Starken implementiert haben, im Angesicht solchen Leidens, sei es unehrenhaft, wohlsituiert, stark und vital zu sein.
2.3. Mitleid und Großzügigkeit
Welche Alternative haben wir dann noch zum Krieg aller gegen alle? Kann es so etwas wie ein Mitleid der Stärke, oder vielleicht sogar einen adäquaten Ersatz in irgendeiner Form für das mitleiden und sich-schwächen-lassen geben?
Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer schenkenden Tugend als ei- nen integralen Bestandteil seiner Konzeption von Stärke und Gesundheit. Wenn man auf natürliche Weise Großzügigkeit beweist, dann zieht man Alles an sich um es zu internalisieren und dann als Zeichen der Liebe weiterzugeben.53 Man darf diese schen- kende Tugend jedoch nicht als Mitleid der Stärke verstehen - es ist vielmehr ein Ersatz für Mitleid. Der Großzügige, so Nietzsche, hilft dem Schwachen nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern hauptsächlich aus einem machtmotivierten Antrieb heraus.54 An- stelle des egoistisch motivierten Helfens aus Mitleid setzt er eine machtmotivierte Großzügigkeit, die keine Gegenleistung vom anderen verlangt und den Helfenden nicht auf die niedrigere Stufe des Leidenden hinunterzieht, sondern ihn in seiner (sozialen) Stärke bestätigt.
Entscheidend ist demnach beim Helfen nicht das ob, sondern vielmehr das wie. Dass das Mitleid, wie auch das Leid, aber ein Aspekt des Lebens ist, der nicht einfach igno- riert werden kann, äußert sich in genau dieser Entscheidung des wie: Mitleid ist zwar eine Schwäche, aber eben auch eine charakteristische Empfindung der sonst recht Starken. Um vom Leiden eines anderen angesteckt zu werden, muss die eigene Situati- on als besser bewertet werden. Obwohl man durch die Infektion des Leides schon bald auf dieselbe Stufe des Leidendens heruntergezogen wird, darf man dabei nicht die be- lebende Wirkung der zunächst festgestellten Überlegenheit unterschätzen. In einem solchen Fall kann es ein Ansporn sein, sich nach oben, und nicht nach unten zu orien- tieren.55 Sich also eher für Großzügigkeit als für Hilfe aus Mitleid zu entscheiden.
Dass Mitleid eine charakteristische Empfindung des Stärkeren ist, lässt sich auch daran verdeutlichen, dass sich ein gewisser Lernprozess beim Stärkeren bereits vollzo- gen haben muss. Wenn man mitleidet, ist vor allem die Kraft der Phantasie am Werk. Man stellt sich die Leiden des Anderen aus der eigenen Perspektive vor. Ohne Vorstel- lungskraft ist Mitleid nicht möglich. Der Mitleidende Mensch verfügt über eine Vorstel- lungskraft, über die der nicht mitleidende nicht verfügt - Dass der Andere leidet, muss gelernt werden.56
2.4. Mitwissen
Dieses Lernen, dass der andere leidet, impliziert also das Vorhandensein eines Wissens über die Leiden des anderen. Dieses Wissen um die Leiden des anderen muss jedoch nicht zwangsläufig zur infektiösen Erregung des Gefühls von Mitleid führen. Vielmehr geht es Nietzsche darum, dieses Wissen über das Leid des Anderen in einer Art und Weise in konkrete Handlung umzusetzen, die sowohl für den Starken, als auch für den Leidenden und somit für den gesamten Organismus lebensfördernd oder zumindest nicht lebensschädigend ist.
Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem männlicheren Bruder des Mitleids.57 Wenn ein Schwacher leidet und Mitleid im Starken erregt, dann jemanden findet, der mit ihm leidet, dann kann der Mitleidende eine Art von Mitleid anbieten (unbewusst oder bewusst), indem er ein generalisierendes Bild von der Problematik, die den Leidenden betrifft, zeichnet. Er entfernt alles Persönliche. Er entfernt jegliche persönliche Involviertheit des Leidenden in sein Leiden und objektiviert die Problema- tik damit. Eine Art von Hilfe, die nur durch mitwissen, nicht aber durch mitleiden er- möglicht wird.
Eine solche Sensibilität ist allerdings nicht mit dem gewöhnlichen Mitleid zu verwechseln; genau genommen, macht sich genau hier der Unterschied klar: Sensibilität als Einfühlungsvermögen und Bereitschaft, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, zum Wohl des Organismus, und Mitleid als Affront gegenüber dem Leidenden und Waffe der Schwachen und Degenerierten im Organismus. Nietzsche spricht sich für eine Sensibilität aus, die sich auf Mitwissen anstatt Mitleiden beruft.58
Dabei eröffnet sich ein Paradoxon: Obwohl ein Mensch Stärke durch Wissen und Lernen beweist, oder gerade weil ein Mensch das tut, meint er, mehr von den Um- ständen des anderen zu wissen und läuft Gefahr, mit zu leiden. Dies ist insofern für ihn gefährlich, dass er dadurch selbst infiziert werden kann und seiner Vitalität selbst schadet.59 Reines Mitwissen kann also noch nicht die vollständige Antwort auf das schädliche Mitleiden sein.
2.5. Mitfühlen und Mitleid überwinden
Um den letzten gedanklichen Schritt zur Überwindung des Mitleids vollziehen zu kön- nen, müssen wir uns daran erinnern, wie sich Nietzsche gegen die leidenschaftslose Erkenntnis ausgesprochen hat und wie es ihm um das Annehmen und Bejahen aller Seiten des Lebens und der menschlichen Existenz geht.
Um den wahren individuellen Rang zu etablieren, muss man persönlichem Leiden widerstehen können. Genau so könnte man sagen, man qualifiziert sich darüber, in- wiefern man Leiden ertragen kann, wie weit man seine Verantwortung ausdehnen kann. Es geht nicht darum, so Nietzsche, mit jemandem mitzuleiden, sondern es geht darum, auszuhalten, mit ihm zu fühlen.60 Dieses Mitfühlen kann als eine Aneinander- reihung von persönlichen Prüfungen gesehen werden. Die Frage, die sich bei jeder Herausforderung dabei stellt ist: Wie viel Wahrheit kann ich ertragen? Wie viel Wahr- heit kann ich wagen? Die Herausforderung des spezifischen Wissens über das Leiden des Anderen ist, das Mitleid mit voller Wucht zu erfahren, aber nicht darin zu verhar- ren. Mitgefühl gesellt sich dann in eine Ecke mit der Tapferkeit.61 Diese Art von Mitgefühl gilt es zu entwickeln, und zwar um das Leben weiter voranzubringen, zu entwickeln, zu gestalten und zu fördern.
Daher ist es nicht das Mitleid, sondern die Überwindung des Mitleids, die zu den edlen Tugenden gehört.62 Der Fokus liegt dabei beim Überwinden: das Mitleid muss über- wunden, nicht verstoßen, werden. Es kann letzten Endes gar nicht verstoßen werden, weil es immer wieder versuchen wird, uns zu ergreifen. Haben wir es jedoch bereits überwunden, wissen wir um einen souveränen Umgang damit. Eine Tugend oder eine Emotion wirklich zu beherrschen impliziert notwendigerweise, sie in der eigenen Psy- che zu verankern, nicht sie zu verstoßen.63 Das entscheidende, dass es nach erfolgrei- cher Internalisierung zu vertreten gilt, ist eine Souveränität gegenüber dem Mitleid resultierend aus der Sensibilität des Mitwissens und der Stärke des Mitfühlens, verbunden mit der Weisung: Wir beherrschen das Mitleid, nicht andersherum. Es ist also unmöglich, Mitleid gänzlich zu vermeiden, wir müssen aber seinem Diktat des Leidens ein natürliches Mitfühlen auf Basis von Mitwissen entgegensetzen, um uns selbst, den Anderen, das Leben und die Menschheit zu beschützen.
Quellen
Abel, Günter (1998): Nietzsche: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin: de Gruyter
Caysa, Volker (2000): Asketismus. In: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, S. 195-197. Stuttgart: Metzler
Enthoven, R. (2012): Thema Freude. In: Arte Philosophie (TV-Sendung). Online verfügbar u.A. auf www.arte.tv
Frazer, Michael L. (2006): The Compassion of Zarathustra: Nietzsche on Sympathy and Strength. In: The Review of Politics 68, S. 49-78. University of Notre Dame
Gödde, Günter (2003): Schopenhauer und Nietzsche - zwei grundsätzliche Entwürfe der Lebenskunst. J. f. Psych., 11, 3 (2003), S. 254-271
Nietzsche, Friedrich (1881): Morgenröthe. KSA (Kritische Studienausgabe) 3, S. 9-331
Nietzsche, Friedrich (1882): Die fröhliche Wissenschaft. KSA (Kritische Studienausgabe) 3, S. 343-651
Nietzsche, Friedrich (1884): Also sprach Zarathustra. KSA (Kritische Studienausgabe) 4
Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse. Projekt Gutenberg, 2005 E-book #7204
[...]
1 Vgl. Gödde (2003), S. 254
2 Vgl. Gödde (2003), S. 254
3 vgl. Safranski (1987), S. 200 in Gödde (2003), S. 258
4 Vgl. Gödde (2003), S. 258, 259
5 Vgl. ebda., S. 259
6 Vgl. Schopenhauer (1844), S. 279 in Gödde (2003), S. 259
7 Vgl. Gödde (2003), S. 259
8 Vgl. ebda., S. 259
9 ebda., S. 260
10 Vgl. ebda., S. 260
11 Vgl. Gödde (2003), S. 260
12 Vgl. ebda., S. 260
13 Vgl. ebda., S. 262
14 ͣKontemplation“ von lat. contemplari: ͣanschauen“, ͣbetrachten“; Im Sinne einer beschaulichen Betrachtung, die von Ruhe und Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist.
15 Vgl. Safranski (1995), S. 110 f. in: Gödde (2003), S. 261
16 ebda., S. 110 f. in: Gödde (2003), S. 261
17 Vgl. Gödde (2003), S. 261
18 ebda., S. 262
19 Vgl. Gödde (2003), S. 262
20 ebda., S. 263
21 Vgl. ebda., S. 265
22 Nietzsche (1882), S. 550
23 Vgl. Gödde (2003), S. 266
24 Vgl.ebda., S. 266
25 Vgl. Nietzsche (1882), S. 550
26 Vgl. Gödde (2003), S. 266
27 Nietzsche (1881), S. 125 f.
28 Vgl. Gödde (2003), S. 266
29 ebda., S. 267
30 Vgl. ebda., S. 267
31 Vgl. Caysa (2000), S. 195
32 Vgl. Abel (1984), S. 68
33 Vgl. Gödde (2003), S. 267
34 Nietzsche (1884), S. 111, 258
35 Vgl. Nietzsche (1886), §13
36 Vgl. ebda., §13
37 Vgl. Gödde (2003), S. 268
38 Vgl. Gödde (2003), S. 269
39 Vgl. Enthoven (2012)
40 Vgl. Frazer (2006), S. 55
41 Vgl. ebda., S. 56
42 Vgl. ebda., S. 57
43 Vgl. ebda., S. 57
44 Vgl. Frazer (2006), S. 58
45 Vgl. ebda., S. 61
46 Vgl. ebda., S. 62
47 Vgl. ebda., S. 62
48 Vgl. Nietzsche (1881), S. 125 f.
49 Vgl. Frazer (2006), S. 63
50 Vgl. Frazer (2006), S. 63
51 Vgl. ebda., S. 63
52 Vgl. ebda., S. 63
53 Vgl. ebda., S. 64
54 Vgl. Frazer (2006), S. 65
55 Vgl. ebda., S. 66
56 Vgl. Frazer (2006), S. 67
57 Vgl. ebda., S. 67
58 Vgl. Frazer (2006), S. 67
59 Vgl. ebda., S. 69
60 Vgl. ebda., S. 70
61 Vgl. Frazer (2006), S. 70
62 Vgl. ebda., S. 70
63 Vgl. ebda., S. 73
- Arbeit zitieren
- Peter Schaefer (Autor:in), 2013, Mit Nietzsche das Mitleid überwinden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269862
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