Mit der Erzählung „Frau Berta Garlan“ (1900) und der Novelle „Fräulein Else“ (1924) werden zwei Prosawerke Schnitzlers analysiert, die in bezeichnender Weise typische Diskurse der Wiener Moderne widerspiegeln: Subjektivismus und Krisis der Identität, Liebesdiskurs und Rollenverständnis der Frau. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden Frauenfiguren stehen diese paradigmatisch für die gesellschaftliche Situation der Frau an der Wende zum 20. Jahrhundert.
Mit der Erzählung „Frau Berta Garlan“ (1900) und der Novelle „Fräulein Else“ (1924) sollen zwei Prosawerke Schnitzlers analysiert werden, die in bezeichnender Weise typische Diskurse der Wiener Moderne widerspiegeln: Subjektivismus und Krisis der Identität, Liebesdiskurs und Rollenverständnis der Frau. Dem Thema entsprechend soll vorrangig zum Liebesdiskurs Stellung bezogen werden.
Wie bearbeitet Schnitzler ästhetisch die Themen seiner Zeit? Wo finden sich Unterschiede, wo Gemeinsamkeiten im Schicksal von Frau Berta Garlan und Fräulein Else? Inwiefern weisen die individuellen Schicksale der beiden Frauen über sich hinaus und implizieren eine gesellschaftskritische Sicht des Autors?
Frau Berta Garlan (1900):
Mit einem romantisch anmutenden Natureingang stellt Schnitzler seine Figur in die idyllische Frühsommerlandschaft einer österreichischen Kleinstadt in der Nähe Wiens:
"Die späte Nachmittagssonne strahlte ihr entgegen [...]. Auf den Hängen, an die die kleine Stadt sich lehnte, flimmerte es wie goldener Nebel, die Dächer unten glänzten, und der Fluß, der dort, außerhalb der Stadt, zwischen den Auen hervorkam, zog leuchtend ins Land."[1]
Die Lichtmetaphorik der Szene, das Glänzen und Schimmern der Landschaft, steht in krassem Gegensatz zu Bertas eintöniger Erlebenswelt, die sich zwischen ihren Aufgaben als Mutter, Besuchen am Grabe ihres früh verstorbenen Mannes und der als Nötigung empfundenen Verpflichtung, ihren Lebensunterhalt durch Klavierspielen aufzubessern, abspielt. Was ist an dieser Frau so außergewöhnlich, dass Schnitzler sie zur Hauptfigur seiner Erzählung macht?
Als junge Witwe in einer Kleinstadt zu leben, bedeutet für Berta, ein Leben in Keuschheit und Zurückgezogenheit zu führen, da sie unter ständiger Beobachtung ihrer Umgebung steht. Einzig durch eine Wiederverheiratung könnte sich diese für eine junge Frau so missliche Situation ändern. Ihre männlichen Bezugspersonen kommen für sie als Partner jedoch nicht infrage: Richard, der Sohn des Schwagers, dessen stürmische Zärtlichkeiten sie mehr aus Pflichtgefühl als aus Überzeugung abwehrt, weil er zu jung ist, Klingemann, weil er in ihren Augen unsittlich lebt und außerdem eine gescheiterte Existenz als Arzt hinter sich hat. Ihre moralischen Ansprüche an sich selbst sind durch Bertas prüde, rigide Erziehung in ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt, die es ihr als junger Witwe unmöglich macht, mit einem Mann eine Beziehung einzugehen, es sei denn zum Zwecke der Heirat.
An Sexualität scheint Berta nicht zu denken. Nur manchmal am frühen Morgen oder in der Frühlingssonne fühlt sie „jenes jugendliche Kreisen in ihrem Blut“ (S. 51), das allerdings im Laufe des Tages angesichts ihrer Aufgaben als Mutter eines fünfjährigen Jungen und als Klavierlehrerin recht bald wieder verschwindet. Nicht einmal, wenn sie allein ist und ihre Gedanken in die vergangene Jugend schweifen lässt, wagt sie, sich ihre sinnlichen Wünsche einzugestehen. Der Moralkodex der Gesellschaft schreibt das Schweigen über Sexualität vor. Berta hat diese Normen internalisiert, ohne sie zu reflektieren. Das folgt sowohl aus ihrem Umgang mit ihrem Schwager Garlan, dessen anzügliche Bemerkungen und körperliche Annäherungsversuche ihr unterschwellig nicht verborgen bleiben, wenngleich sie diese nicht ausdrücklich abzuwehren versucht, ebenso wenig wie die Zärtlichkeiten ihres heranwachsenden Neffen Richard.
Das ändert sich jäh, als sie in einer Zeitung ein Bild von ihrer Jugendliebe, Emil Lindbach, entdeckt, der inzwischen zu einem berühmten Geigenvirtuosen avanciert ist. Von ihrer kleinbürgerlichen Sphäre blickt Berta voll Bewunderung auf den ehemaligen Freund und hat nach dem Lesen des Zeitungsartikels nur noch den einen Wunsch, ihn zu wiederzusehen. Nach dem Muster der Trivialliteratur, die ihre Abendlektüre darstellt, stilisiert sie Emil zu einem Idol, träumt sich in seine Arme und ist verwegen genug, sich als seine Gattin zu wünschen.
Schnitzler gestaltet die Veränderungen, die in der jungen Frau vorgehen, ihr inneres Erleben, ihre Wünsche und Träume mit den Mitteln der erlebten Rede:
"Berta empfand etwas sehr Schmerzliches, Unruhe und Ärger zugleich; sie hätte die Dame sein wollen, wel- cher der junge Mann nachfuhr, sie hätte schön, jung, unabhängig, ach Gott, sie hätte irgendein Weib sein wollen, das tun kann, was es will und sich nach Männern umwenden, die ihm gefallen" (S. 81).
Dabei enthält er sich jedes auktorialen Kommentars, sodass der Leser die personale Erzählung ausschließlich durch die Perspektive der Protagonistin erlebt. Mit dieser Erzählform wendet sich Schnitzler ab vom erklärenden, wissenden Modus des auktorialen Erzählers und einer Darstellungsform zu, die es - im Zusammenklang mit innerem Monolog und autonom zitierter Figurenrede - ermöglicht, aktuelle Themen der Zeit, wie Identitätskrise und Subjektivität, über die Sichtweise seiner Figuren erlebbar zu machen. Zu neueren Erzählformen in der Wiener Moderne äußert sich Iris Paetzke wie folgt:
"Das Problem subjektiver Identität stellt sich für die Prosa notwendig in gattungsspezifischer Weise. Denn wenn die Selbstgewißheit des Individuums in Frage steht, wird auch die Möglichkeit eines Erzählens pro- blematisch, das souverän und seiner Beurteilungskriterien sicher über die erzählte Welt verfügt".[2]
Im Mittelpunkt der Erzählung steht das subjektivistische Empfinden der Figur, die ihre Erlebniswelt unmittelbar offenbart, auch wenn dies - wie im Falle Bertas - eine Entlarvung ist.
Bertas Erfahrungen mit Liebe und Sexualität beschränken sich auf die ehelichen Pflichten dem ungeliebten Mann gegenüber, den sie nach dem Tod ihrer Eltern „mit dem Gefühl der tiefsten Dankbarkeit“ (S. 49) heiratete, um versorgt zu sein. Der ehelichen Liebe widmet sie sich eher aus Pflichtgefühl, denn aus Überzeugung:
"Seine Zärtlichkeiten ließ sie sich eben gefallen, anfangs mit einem gewissen Staunen der Enttäuschung,
spä ter mit Gleichgültigkeit" (S. 50).
Erst durch die Konfrontation mit Emils Leben, der - genau wie sie - einst das Konservatorium besucht hatte, gesteht sie sich eigene erotische Wünsche ein. Im Vergleich zu seinem Künstlerdasein werden ihr die kleinbürgerliche Enge ihres Lebens und ihre Defizite in Bezug auf ihr Dasein als Frau bewusst, und sie vergleicht sein ereignisreiches Leben mit dem Gefühl eines tiefen Verlustes mit ihrem eigenen:
"Und in je weitere Fernen er [Anm.: Emil] unnahbar und beneidenswert entschwebte, um so ärmlicher er- schien sie sich selbst, und sie begriff es mit einemmal nicht mehr, wie leicht sie damals ihre eigenen Hoff- nungen, ihre künstlerische Zukunft und den Geliebten aufgegeben, um ein sonnenloses Dasein zu führen und in der Menge zu verschwinden" (S. 80).
[...]
[1] Schnitzler, Arthur: Frau Berta Garlan. In: Frau Berta Garlan. Erzählungen 1889 - 1900. Frankfurt am Main 1999.
[2] Paetzke, Iris: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992. S. 9.
- Arbeit zitieren
- Dr. Anne Meinberg (Autor:in), 2014, Der Liebesdiskurs in der Literatur der Wiener Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269712
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