Vorstellungen von „Religion“, wie die von „Buddhismus“, entstehen vor allem in gesellschaftlichen Diskursen. Diese Diskurse sind zeitlich wie räumlich in bestimmte soziale Kontexte eingebettet, wobei sie quer durch die verschiedenen Ebenen des globalen, regionalen und lokalen entsprechend der jeweils vorhandenen Machtverhältnisse von vielen verschiedenen sozialen Machtpositionen aus unterschiedlich wirken und dabei verschiedene Bedürfnisse und Interessen zum Ausdruck bringen. So wurde im Diskurs des 19. Jahrhunderts der Begriff „Religion“ in Europa neu bestimmt und den protestantisch geprägten Vorstellungen einer neuen urbanen bürgerlichen Machtelite angepasst und gleichzeitig durch den Kolonialismus auf die verschiedenen Glaubensformen der Welt hegemonial übertragen. Aus dem kolonialen Aufeinandertreffen von christlichen Missionaren und westlichen Wissenschaftlern einerseits und asiatischen Buddhisten andererseits entstand im 19. und 20. Jahrhundert eine neue Interpretationsform von Buddhismus. Buddhismus wurde anhand gesammelter und übersetzter historischer Texte mit dem Christentum verglichen und dabei als eine universale Religion bestimmt und definiert. Bei dieser neuen Bestimmung wurde dem Buddhismus eine authentische Identität durch eine Reihe von grundsätzlichen Eigenschaften zugeschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Buddhismus analog zu anderen Weltreligionen seine gesammelten und bestimmten Grundlagentexte, seine Gebote und grundlegenden Prinzipien, seine internationale Konferenzen und eigene universale heilige Stätten. Dabei wurde authentischer Buddhismus weniger in den vielfältigen Überlieferungen und religiösen Praktiken der lebenden Buddhisten Asiens gesucht und gefunden, sondern hauptsächlich in den Ausgaben der buddhistischen Manuskripte, Übersetzungen und Interpretationen der westlichen Orientalisten. Die westlichen Kolonialmächte konnten somit den Diskurs zum Buddhismus auf globaler Ebene kontrollieren und dabei mit ihrem Selbstverständnis und ihren ideologischen und sprachlichen Dimensionen bestimmen. Doch gab es in diesem Diskurs auch vielfältige Wechselwirkungen, und es waren vor allem die asiatischen Eliten selbst, die wie in Thailand buddhistische Reformen zur Artikulation ihrer Interessen gestalteten und gebrauchten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Macht, Diskurs und Religion
3. Westliche Hegemonie und die Definition von Buddhismus
4. Buddhistische Tradition in Südostasien
5. Die Transformation des Buddhismus in Thailan
5.1 Mongkut und die Thammayutnikai…
5.2 Die Reformen unter Chulalongkorn
6. Buddhistische Reform und lokale Praxis in Thailand
6.1 Die Vermittlung buddhistischer Texte: der Dhammapada
6.2 Das Übernatürliche im Thai Buddhismus
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Am 23. Oktober 2010 wurde im Bangkoker Wat Debsirin anlässlich des 100. Todes-tages von König Mongkut ein neues Museum eingeweiht. Statt mit historischen Überresten, Sammelstücken und Beschreibungen wird in diesem Museum die Geschichte des Buddha und seiner Lehre mit neuer Medientechnologie in „high definition“ dargestellt, wie es in der Überschrift eines Artikels der Bangkok Post heißt. In der zweiten Etage des Museums wird den Besuchern in vier Räumen an den sie komplett umgebenden Videowänden das Leben des Buddha und die Entstehung des Buddhismus präsentiert. Technologie, Lichteffekte, Abbildungen und ein speziel-les Tonsystem vermitteln den Anwesenden das Gefühl, an einer Zeitreise zurück zum „Ursprung“ des Buddhismus teilzunehmen und bei der Geburt, der Erleuchtung und den Zeremonien des Buddha sowie bei seinem Erreichen des Nirwana dabei zu sein. Nachdem die Besucher dieses Schauspiel erlebt haben, gelangen sie in der ersten Etage in drei weitere Ausstellungsräume. Im ersten Raum befinden sich biographi-sche Informationen zur Mutter von Mongkut, zu deren Gedenken er dieses Wat baute, und Angaben zu den besonderen Beiträgen Mongkuts zum Buddhismus in Thailand. Im zweiten Raum werden Informationen zum Wat und seiner Einrichtung gegeben, während der dritte Raum den Biographien der verschiedenen Äbte des Wats gewidmet ist.[1] Neben dieser speziellen öffentlichen Präsentation von Buddhis-mus, die der staatlich geförderten normativen Interpretation entspricht, wird Bud-dhismus in Thailand jedoch überwiegend mehr traditionell, vielfältig und weniger normativ interpretiert und praktiziert. Cod Satrusayang beschreibt diese überwiegend populäre Auffassung und Praxis von Buddhismus in einem Artikel wie folgt. So besucht die Thailänderin Mod mit ihren Freunden eines Morgens das Bangkoker Wat Tha Mai, um ihr gewohntes Ritual zum Sammeln von Verdiensten für gutes Karma, tam bun,[2] in ihrem Verständnis für mehr Glück im aktuellen Leben, durchzuführen. Mod ist in dieser Hinsicht ein typischer Besucher dieses Wats. Auf ihrem dortigen Rundgang geht Mod von einer Spendenbox zur nächsten, steckt in jede dieser Boxen etwas Geld, wobei die Spendebehälter vor verschiedenen Skulpturen des Buddha und einer Figur des beliebten und angeblich Glück bringenden Hindu Gottes Ganesh stehen. Befragt nach dem Beweggrund für ihre nach normativem Verständnis unor-thodoxen Handlungen als Buddhist antwortet Mod:
We were taught from a very young age that it is okay to not believe but it is not okay to disrespect. While we may not approve of certain things that monks do, they do not represent our religion as a whole. We are Bud-dhists and we know what we believe.
Nachdem Mod diese Worte gesagt hat, geht sie mit ihren Freunden zum Hauptge-bäude des Wats, um sich bei der Vielzahl der dort Wartenden einzureihen, die sich alle von einer Audienz beim Abt des Wats eine wundervolle Lösung für ihre unter-schiedlichen Lebensprobleme erhoffen.[3]
Es ist dieser scheinbare Widerspruch zwischen einer orthodoxen und normativen staatlichen Interpretation von Buddhismus, die den Buddha als eine fortschrittliche historische Persönlichkeit und den Buddhismus als eine Weltreligion definiert und präsentiert und der tatsächlichen vielfältigen unorthodoxen religiösen Praxis vieler Menschen in Südostasien, die sich alle als gute Buddhisten verstehen, der den west-lichen Besucher verwirrt. Denn auch er hat ein spezielles Verständnis von Buddhis-mus, welches ihm durch die westlichen Medien als die universale Definition von Buddhismus vermittelt wurde. Auf diese diskursive Interpretation, Präsentation und Praxis von Buddhismus werde ich im Folgenden näher eingehen und dabei einige historische und soziale Dimensionen und Aspekte dieses Diskurses, der quer durch die miteinander verbundenen und agierenden Ebenen des Globalen, Regionalen und Lokalen verläuft, darstellen. Aus dem kolonialen Aufeinandertreffen von buddhisti-schen Intellektuellen, westlichen Akademikern die sich mit Buddhismus befassten und „dem Westen“ mehr generell, entstand im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine neue Interpretationsform von Buddhismus. Buddhismus wurde mit dem Christentum verglichen und als eine Weltreligion definiert und kategorisiert. Dieser neue Diskurs über den Buddhismus argumentiert, dass dem Buddhismus eine Reihe von grundsätz-lichen Eigenschaften, zentral zur Bestimmung seiner authentischen Identität, eigen ist. So wurden. z. B. philosophische Rationalität und Empirismus, eine historische Gründerfigur, ein bestimmter Kanon an historischen Texten, die soziale Organisation von religiösen Virtuosen und eine Reihe von einheitlichen Dogmen und theologi-schen Formulierungen als grundsätzliche Eigenschaften bestimmt. Das diskursive Zusammenspiel von globalen, regionalen und lokalen Kräften ist sehr gut am Beispiel von Thailand nachvollziehbar, das sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch unter dem Namen Siam als Nationalstaat zu reformieren begann und dabei buddhistische Reformen zielgerichtet zur Schaffung von staatlicher Einheit und herrschaftlicher Legitimation einsetzte.[4] So werde ich beschreiben, wie Buddhismus im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Siam transformiert wurde und welchen Einfluss dabei Kolonialismus, Modernität und die westlich initiierte Definition von Buddhismus als eine Weltreligion, aber auch reformistische regionale buddhistische Kräfte hatten. Ich zeige, wie die herrschende Elite Siams dabei ihre Vorstellungen von Buddhismus gestaltete und präsentierte, aber auch, mit welchem begrenzten Erfolg sie diese in der allgemeinen Praxis nur umsetzen konnte. Denn es ist das vielfältige, meist traditionell überlieferte und undefinierbare religiöse Repertoire und nicht die normative und nach elitären Vorstellungen definierte Form, das bei der religiösen Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse und Hoffnungen der meisten Buddhisten in Thailand Anwendung findet.
Indem ich mich auf Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Martin Riesebrodt beziehe, werde ich im zweiten Kapitel darlegen, wie Religion als bestimmte Vorstel-lung durch den gesellschaftlichen Diskurs und dabei durch den kontrollierten Einsatz der Medien als Machtmittel produziert und verbreitet wird. Religion wird so zu einem linguistischen Produkt, einer Interpretation eines Autors und einem Ausdruck bestimmter weltlicher Interessen. Dieser Diskurs wird zwischen unterschiedlichen sozialen Kräften in staatlichen Gesellschaften und auch gesellschaftsübergreifend auf verschiedenen Ebenen entsprechend des jeweiligen Machtpotentials geführt und beherrscht. Der Staat, der in seinem Herrschaftssystem Macht monopolisiert und dadurch die Produktion und Gestaltung des Diskurses kontrolliert, wird somit zum Produzenten von zweckdienlichen Wahrheiten, die er über seine Institutionen verteilt und kontrolliert. Da Macht, abhängig vom Besitz verschiedener Ressourcen, von vielen Punkten der Gesellschaft aus als komplexes System wirkt, wobei keine Macht und Wahrheit absolut ist, wird der staatlich geführte Diskurs ständig hinterfragt und in seiner Wirksamkeit begrenzt. Der Diskurs über Religion ist ein solches diskursives Machtspiel, bei dem Religion als strukturiertes wie strukturierendes symbolisches Medium unterschiedlich interpretiert wird und wie die Sprache als Kommunikations- und Erkenntniswerkzeug wirkt. Religion legitimiert dabei als funktionales Instrument in den Händen sozialer Eliten die Macht der Herrschenden und wahrt unter der Widerspiegelung sozialer Strukturen gesellschaftliche Ordnung. Die Bestimmung des Religionsbegriffs selbst ist ein Produkt historischer und sozialer Umstände, die für europäische Gesellschaften spezifisch sind. Im Diskurs des 19. Jahrhunderts wurde die Bestimmung von Religion entsprechend veränderter sozialer Machtver-hältnisse in einigen europäischen Staaten den dort vorherrschenden protestantisch geprägten Vorstellungen der neuen bürgerlichen Eliten angepasst und durch den westlichen Kolonialismus weltweit verbreitet. Die Kolonialmächte wurden dank ihrer beherrschenden Machtstellung zu den Produzenten und Propagandisten des Diskurses auf globaler Ebene. Durch diesen Diskurs wurde die vorgefundene Vielfalt der weltweiten Glaubensformen und –praktiken im Vergleich mit dem Christentum neu interpretiert und definiert, wobei einige dieser Glaubensformen als universale Religionen bestimmt und nach evolutionärem Muster in niedrige und höhere Religio-nen, mit dem protestantischen Christentum als angeblich höchste Entwicklungsform, eingeteilt wurden.
Wie „Buddhismus“ als Begriff und als eine Weltreligion diskursiv bestimmt und definiert wurde, beschreibe ich unter Bezugnahme auf Max Müller, Audrius Beino-rius, Norman Giradot, Jacob Kinnard, Max Weber und anderer Autoren im dritten Kapitel. Unter dem hegemonialen Einfluss einiger westlicher Staaten, die als Kolo-nialmächte ihre Herrschafts- und Einflussgebiete in Asien erkundeten, wurde im 19. Jahrhundert unter anderem auch Buddhismus als eine spezifische Religion wahrge-nommen und erforscht. Dabei wurden buddhistische Texte gesammelt, übersetzt und interpretiert, wobei sich entsprechend des zu der Zeit vorherrschenden akademischen Zeitgeistes eine protestantische gefärbte „rationale“ Interpretation des Buddhismus in den westlichen Vorstellungen durchsetzte. Anfangs waren es noch verschiedene christliche Missionare, die den von ihnen beobachteten Buddhismus in Asien als Heidentum und Götzenverehrung interpretierten und diffamierten. Sie hatten aller-dings in den buddhistischen Gesellschaften Südostasiens nur wenig Erfolg mit ihren christlichen Bekehrungsversuchen. Später waren es Akademiker wie Max Müller, die mit vergleichenden philologischen Textstudien und Interpretationen die Grundlage für die westliche Bestimmung und Definition des Buddhismus als eine universale Religion legten, worauf im Weiteren auch die Religionssoziologie von Max Weber aufbauen konnte. Westliche koloniale Hegemonie, verbunden mit protestantischer Mission und akademischem Orientalismus bestimmte und definierte fortan diskursiv die Idee vom „wahren“ und ursprünglich „reinen“ Buddhismus als eine Weltreligion. Zwar wurde dieser Diskurs den asiatischen Buddhisten durch den hegemonial wirkenden Kolonialismus teilweise aufgezwungen, doch konnten die lokalen Eliten entsprechend ihres eigenen Machtpotentials den westlich vorbestimmten Diskurs über die von ihnen kontrollierten Medien filtern und selektieren und dabei kon-struktiv im Interesse der Erhaltung und Festigung ihrer lokalen Herrschaftsordnung umgestalteten und propagieren. Doch auch auf lokaler Ebene wurde dieser Diskurs von einer Vielzahl unterschiedlich machtvoller Akteure mit verschiedenen Bedürf-nissen, Interessen, Interpretationen, Einflüssen und ggf. auch Widerständen geführt und keineswegs nur einseitig hegemonial von den kolonialen und staatlichen Herr-schaftseliten bestimmt.
Buddhistische Phänomene gab es schon lange vor der europäischen Kolonialisa-tionsphase in den verschiedenen asiatischen Staaten. Doch existierten diese Phäno-mene bis dahin als traditionelle Vorstellungen von der Welt in kosmologischer Art und Weise, wie es von Donald Swearer, Frank Reynolds, Craig Reynolds und Prapod Assavavirulhakarn beschrieben wird, auf deren Studien ich mich unter anderem im vierten Kapitel beziehe. Es gab zwar unterschiedliche Spezialisten, die religiöse Vor-stellungen monopolisierten, deuteten und die entsprechenden Rituale beherrschten, doch standen diese meist an den lokalen Herrscherhöfen und auch bei der Bevölke-rung im Wettbewerb um deren Gunst und wurden dabei sehr unterschiedlich, wech-selhaft und teilweise als gemischtes Repertoire gefördert und genutzt. Der Diskurs um die Beherrschung und Nutzung dieser Vorstellungen und Praktiken als Heilsgüter war ein sehr vielseitiges Machtspiel, in dem religiöse Symbole unterschiedlich produziert, interpretiert und auch eingesetzt wurden, wobei politische Herrschafts-eliten oft ein bestimmtes Heilsgut und dessen Spezialisten zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs auswählten und dieses dann zur Beherrschung ihres Staates institutionalisierten. Buddhismus war ein solches Heilsgut, das neben anderen Heils-gütern in Südostasien traditionell zur Legitimation und Sicherung staatlicher Herr-schaft diente, wie ich es an den Beispielen des Herrschaftskonzepts vom gerechten buddhistischen König im historischen Thailand, thammaracha,[5] nach dem Vorbild des legendären indischen Königs Ashoka, und der elitär erstellten kosmologischen Ordnung „traiphumi phraruang“ erläutern werde. Doch selbst bei größter buddhistischer Identifikation der herrschenden Elite und entsprechender normativer Ordnungsbemühungen, gab es meist eine lebendige Vielfalt in der praktischen Handhabung der religiösen Heilsgüter. In der alltäglichen populären Praxis wurden die unterschiedlichen religiösen Hilfsmöglichkeiten in Bezug auf verschiedene Götter, Buddhas, Bodhisattas, magische Mönche und diverse Geister je nach lokaler Tradition, Bedarf und eingebildetem Nutzen selektiv interpretiert, vermischt und dabei als ein vielfältiges Repertoire gehandhabt.
Wie sich der traditionelle Diskurs zum Buddhismus in Südostasien unter dem Einfluss von westlicher kolonialer Hegemonie und der Definition von Buddhismus als universale Religion, aber auch unter dem Einfluss regionaler Reformkräfte veränderte, werde ich im fünften Kapitel anhand der Reformen des Buddhismus im Thailand des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts darstellen. Hierbei zitiere ich aus einer Vielzahl historischer Quellen, aber auch aus den Studien von Barend Terwiel, Chris Baker, Pasuk Phongpaichit, Yoneo Ishii und anderer Autoren. Um ihre Herrschaft zu erhalten und zu festigen, begann zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Monarchie den traditionellen Buddhismus in Thailand zu reformieren. Buddhismus, als Ausdruck symbolischer Macht und traditioneller Vorstellung einheitlicher kosmischer und weltlicher Ordnung wurde im Verlauf von Staatsreformen teilweise „entmystifiziert“ und zu einer nationalen Religion unter königlicher Patronage gestaltet. Es waren vor allem die modern gebildeten und eingestellten Eliten aus dem Königshaus und dem Hochadel, wie Mongkut, Thipakorawong, Chulalongkorn und Wachirayan, die den traditionellen Buddhismus in neuen Formen und Strukturen hierarchisch organisiert vereinten, ihn teilweise auch inhaltlich neu interpretierten und dabei auf den König als obersten Patron zentrierten. Eine der bedeutendsten Neuerungen war die Gründung der elitären Thammayutnikai durch Mongut, die als kleine elitäre Schule seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Politik und Präsentation des Thai Buddhismus beherrscht, eine Vielzahl der höchsten Positionen im Sangha besetzt und den lokalen Diskurs zum Thai Buddhismus im Interesse der Monarchie kontrolliert und regelt. Neben diesem normativ geformten und königlich-nationa-listisch ausgerichteten Buddhismus einer kleinen intellektuellen Elite, kommt Thai Buddhismus jedoch überwiegend in vielen unterschiedlichen populären Praktiken zum Ausdruck. Obwohl diese Anwendungen auf traditionellen Ordnungsvorstellung-en beruhen, beziehen sie sich hauptsächlich auf die verschiedenen Bedürfnisse und Umstände des täglichen Lebens, werden den jeweiligen Lebensverhältnissen ange-passt und so auf ihren unmittelbaren Zweck hin optimiert.
Dieses diskursive Zusammenspiel von universaler Definition, staatlicher Reform und lokaler Praxis zeigt sich besonders deutlich an dem fortbestehenden Wider-spruch zwischen elitär verordneten formalen Veränderungen bestimmter Inhalte und Strukturen der buddhistischen Lehre und den sich dabei wenig verändernden prakti-schen Methoden und populären Anwendungen. Als anschauliche Beispiele dieses Diskurses gehe ich im sechsten Kapitel auf die Widersprüche bei der Vermittlung und Anwendung des Dhammpada in der buddhistischen Bildung und bei der Inter-pretation „übernatürlicher Kräfte“ im Thai Buddhismus ein, wobei ich mich insbe-sondere auf Studien von Justin McDaniel, Erick White und Pattana Kitiarsa beziehe. Anhand dieser Beispiele zeigt sich, dass Buddhismus vor allem eine lebendige, sich stetig wandelnde und vielfältige soziale Praxis ist und keine bestimmbare und definierbare Weltreligion. Buddhismus ist vor allem ein sozialer Diskurs mit unterschiedlichen Akteuren, die buddhistische Symbole auf verschiedene Weise ent-sprechend ihrer Bedürfnisse, Hoffnungen und Interessen interpretieren und nutzen. Ungleiche Besitzverhältnisse und die damit verbundene Bündelung von Macht bestimmt die formale Gestaltung des Diskurses. Soziale Machtverhältnisse haben damit einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Erscheinung von Buddhismus, auf die Zuordnung und den Gebrauch von buddhistisch bestimmten Symbolen und auf die Herausbildung eines normativen Verhaltens in der Gesellschaft, welches durch stetige Ritualisierung auch Tradition langfristig verändern kann. Doch ist es die vielfältige buddhistische Praxis, die sich oft hinter einer Fassade normativer Präsentationen verbirgt, und nicht eine elitäre Vorstellung und Definition, welche die religiöse Befriedigung sozial unterschiedlicher Bedürfnisse und Hoffnungen zum Ausdruck bringt und als undefinierbares und sich veränderndes religiöses Repertoire der meisten Buddhisten zur täglichen Anwendung kommt.
2. Macht, Diskurs und Religion
In unseren Vorstellungen ist Religion ein Begriff, der ein einheitliches Phänomen beschreiben soll. Diese Auffassung resultiert aus dem wissenschaftlichen Bestreben, ein Objekt des Studiums durch Beobachtung zu bestimmen und zu definieren. Philo-sophen und Wissenschaftler stellen dabei die Fragen, die durch gesellschaftliche Veränderungen entstanden sind. Veränderte soziale Herausforderungen erzeugen einen Bedarf an Neuerungen, auf den bestimmte Ideen folgen. So bekommt jede gesellschaftliche Periode das Denken, das sie benötigt. Als ein Ausdruck dieser sich wandelnden sozialen Verhältnisse wird „Religion“ zu einem linguistischen Produkt, einer zeitlich und räumlich begrenzten Interpretation eines Autors und zu einem Ausdruck bestimmter weltlicher Interessen.[6] Diese Interessen sind oft das Spiegelbild unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die sich als Machtdiskurse in jeder Gesellschaft und auch gesellschaftsübergreifend auf mehreren Ebenen bilden. Durch den Besitz und Einsatz unterschiedlicher Ressourcen entsteht Macht, die ausgehend von unzähligen Punkten der Gesellschaft in einem Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen als komplexe Situation wirkt.[7] Als Endform manifestiert und bündelt sich Macht in den Institutionen und Apparaten der Regierung, in einem allgemeinen Herrschaftssystem, das von einer sozialen Gruppe gegen andere Gruppen aufrechterhalten wird.[8] Absichten und Zielsetzungen der Machthabenden äußern sich dabei in verschiedenen Taktiken zur Aufrechterhaltung ihrer Machtposition. Dem gegenüber bilden sich aber auch quer durch die gesell-schaftlichen Gruppen und individuellen Einheiten unterschiedliche Machtpositionen, die ggf. gegen die Herrschaftsmacht Widerstand leisten.[9]
Über Diskurse, die zwischen den Menschen über verschiedenen Medien wirken, wird innerhalb von Gesellschaften Macht produziert und befördert.[10] Um die Gefah-ren und Kräfte eines Diskurses zu kontrollieren, werden diese von ihren Autoren organisiert, selektiert und kanalisiert. In einer staatlich organisierten Gesellschaft erhebt meist der Staat das Anrecht auf die Produktion des Diskurses und versucht diesen durch verschiedene Ausschließungsprozeduren zu kontrollieren. Unter Einsatz seines Gewaltmonopols arbeitet der Staat mit bestimmten Verbotstypen, tabuisiert den Diskursgegenstand, bestimmt das Ritual der Umstände und das ausschließliche Recht des sprechenden Subjekts. Dieses Vorgehen des Staates geschieht in der Form eines komplexen Rasters, das sich ständig ändert. Binäre Gegensatzbildungen von Vernunft und Wahnsinn sowie von Wahrem und Falschen sind ebenfalls beliebte Prozeduren der Ausschließung. Über eine Vielzahl miteinander verbundener Prakti-ken, wie Bildung, Texte, Verlage und Bibliotheken, akademische Gesellschaften und Laboratorien werden diese Ausschließungssysteme institutionalisiert, verstärkt und ständig erneuert.[11] Eine politische Methode zur Aufrechterhaltung und Veränderung des Diskurses ist auch jedes Erziehungssystem.[12] Durch die Produktion einer zweck-dienlichen Wahrheit, beruhend auf einer institutionellen Basis und Verteilung, wird auf andere Diskurse Zwang und Druck ausgeübt. In europäischen Gesellschaften wird seit Jahrhunderten der Diskurs durch das Natürliche und Wahrscheinliche und durch Wahrhaftigkeit und Wissenschaft bestimmt.[13] Dabei forciert ein sprachlich produzierter Zusammenhang eine bestimmte Vorstellung, die wiederum auf speziel-len Interessen und Machtstrukturen beruht und diese gleichzeitig reproduziert. Durch die Regeln des Diskurses wird für ein Wissenschaftsgebiet oder einen speziellen Zusammenhang festgelegt, was man sagen kann oder soll, wer zu welcher Zeit in welcher Form etwas sagen darf, und was nicht sagbar ist. Deshalb ist es angebracht und wichtig, Diskurse zu erkennen, zu studieren und kritisch zu hinterfragen. Auch der eigene Standpunkt und die eigene Perspektive im Diskurs sollte beachtet und bei jeder Wertung anderer kritisch einbezogen werden. Dabei gilt es zu zeigen, wie sich die Formen der Einschränkung, der Ausschließung und der Aneignung des Diskurses entsprechend bestimmter Bedürfnisse gebildet, verschoben und verändert haben, welcher Zwang durch den Diskurs tatsächlich ausgeübt wurde, und inwieweit dieser Zwang Widerstand erzeugte und dabei ganz oder teilweise abgewendet wurde. Auch sollte verdeutlicht werden, wie sich im Zusammenhang mit dem Diskurs und seinem Zwangssystem spezifische Normen gebildet haben, unter welchen Umständen und in welchen Formen der Diskurs entstanden und gewachsen ist und wie er sich verändert hat.[14]
Ein gesellschaftlicher Diskurs betrifft die Bestimmung der Vorstellungen, die sich Menschen von den sie betreffenden Kräften ihrer Umwelt machen und den damit verbundenen Praktiken, diese Kräfte zu beeinflussen. Phänomene die außerhalb des Bewusstseins stehen, werden transzendiert vorgestellt und dann als Überzeugungen miteinander geteilt. Diese Vorstellungen, als Religion bezeichnet und bestimmt, sind ein strukturiertes wie strukturierendes symbolisches Medium, das unterschiedlich interpretiert werden kann und wie die Sprache als Kommunikations- und Erkenntnis-werkzeug wirkt.[15] Als Beziehung zwischen den Strukturen der Symbolsysteme und den Sozialstrukturen wirkt Religion ähnlich dem Recht als Machtinstrument.[16] Der Diskurs zu Religion ist sehr vielfältig und wird gleichzeitig innerhalb und zwischen verschiedenen Gesellschaften als ungleicher und beweglicher Prozess entsprechend der unterschiedlichen Bedürfnisse, Machtstellungen und Ressourcen geführt, wobei er sich entsprechend einem sich ständig verändernden sozialen Kontext wandelt und dabei auch Neues produziert. Als funktionales Werkzeug in den Händen gesellschaft-licher Eliten, legitimiert Religion die Macht der Herrschenden und wahrt die soziale Ordnung, wobei sie die sozialen Strukturen widerspiegelt. Dabei entsteht ein System von Praktiken und Vorstellungen, produziert und monopolisiert von in Konkurrenz zueinander stehenden unterschiedlichen Gruppen religiöser Spezialisten, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse und die dabei inhärente Ungleichheit im Interesse der herrschenden Eliten als „übernatürliche“ und in der Natur der Dinge verankerte und somit gerechtfertigte Struktur des Kosmos verklärt.[17]
Die Urbanisierung der menschlichen Gesellschaft bewirkte eine Trennung von geistiger und materieller Arbeit und eine Entfernung von der Natur.[18] Spezialisten entwickelten Handwerk und Handel als rationale Tätigkeiten und ein Bedürfnis nach systematischeren Glaubensinhalte und Praktiken, in die sie ihre Gebote und ethischen Maßstäbe hineinlegten.[19] Das städtische Bürgertum machte stetige rationale Arbeit zu seiner wirtschaftlichen Daseinsfrage. Bestimmte wirtschaftliche Praktiken wurden zunehmend rationalisiert und als Vorschriften und Moralvorstellungen kodifiziert. Somit wurden Götter zu ethischen Mächten verklärt, aus Erlösung wurde Belohnung und aus Sünde Bestrafung. Der Begriff der Reinheit wurde „entmystifiziert“ und zu einem Synonym für Sittlichkeit. Durch veränderte ökonomische Bedingungen, Syste-matisierung und Ethnisierung religiöser Vorstellungen und eine formelle Ausbildung der religiösen Spezialisten wurde das Religiöse zur Wahrung der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung als Ethik mit expliziten Normen rationalisiert und neu strukturiert.[20]
Im Zuge verschiedener Veränderungsprozesse des 18. bis 20. Jahrhunderts wur-den in der europäischen Gesellschaft die Positionen des Adels entfunktionalisiert.[21] Ein städtisches Bürgertum, ökonomisch erstarkt durch Kolonialismus, Kapitalismus, Industrialisierung und Arbeitsteilung, erlangte im Nationalstaat politischen Einfluss und größere Bedeutung. Die neue Form des Nationalstaates erforderte neue Ideen und Verwaltungsbeamte, die diese Ideen entwickelten und somit zu Produzenten des gesellschaftlichen Diskurses mit neuen Medien in einer neuen Öffentlichkeit wurden. Die Eliten einer überlebten feudalen Agrargesellschaft, ein bis dahin absolutistisch herrschender Adel, verbunden mit einer ihn legitimierenden katholischen Kirche, wurden von einem selbstbewussten, ökonomisch unabhängigen und aufstrebenden Bürgertum zunehmend von der politischen Macht verdrängt. Mit dem Bürgertum erlangten auch protestantische Glaubensinhalte und Praktiken immer größere Bedeu-tung. Es waren nun bürgerliche Verwaltungs- und Bildungseliten, die viele Machtpo-sitionen in den neuen Nationalstaaten besetzten und somit auch zunehmend als Produzenten des gesellschaftlichen Diskurses auftraten, wobei sie mit ihren Vorstel-lungen und Bedürfnissen seine Inhalte und Ausschließungsprozeduren bestimmten. Auch der Begriff der Religion wurde im Diskurs des 19. Jahrhunderts neu bestimmt und den protestantisch geprägten Vorstellungen der neuen Eliten angepasst.[22]
Durch den Kolonialismus erhielt dieser Diskurs eine neue globale Dimension. In den Zentren der westlichen Kolonialmächte entstand eine vergleichende Religions-forschung, die als Bestandteil eines hegemonial geführten Machtdiskurses einerseits die Glaubensvorstellungen und Praktiken der kolonialisierten Gesellschaften sam-melte, beobachtete und interpretierte und andererseits protestantisch geprägte Ideen und Praktiken in die Kolonien exportierte. Globale Beherrschung wurde als Zivilisie-rungsmission gerechtfertigt, wobei der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat als das höchstentwickelte Zivilisationsmodell idealisiert wurde. Überlegene militärische Technologie und Strategie, verbunden mit einer aggressiven Politik, ermöglichten die Beherrschung des globalen Handels und der Kolonialreiche. Damit waren die west-lichen Kolonialmächte auch im Besitz der Ressourcen zur Kontrolle eines weltweiten intellektuellen Diskurses und wurden so zu Produzenten und Propagandisten von universellen Wahrheiten, die bis heute nachwirken. Das betrifft auch die hegemonia-le Einteilung von vielfältigen Glaubensformen nach einem evolutionären Muster in niedrigere und höhere Religionen, was eine übliche Vorgehensweise für Missionare, Theologen, Philosophen, Soziologen, und Anthropologen im 19. und 20. Jahrhundert wurde, eine Sichtweise, mit spezifisch christlichen Wurzeln. Aus konkreten praktischen Regeln wurden durch den Einfluss von Macht und Wissen verschiedene Religionen abstrahiert, bestimmt, definiert und universalisiert.[23]
Jedoch werden Religionen in den verschiedenen Gesellschaften von den jewei-ligen Eliten, soweit diese ihre politische Unabhängigkeit erhalten und ihre Herrschaft uneingeschränkt ausüben können, vor allem selbst produziert, funktionalisiert, kontrolliert und inszeniert. Durch den Besitz und die Monopolisierung verschiedener Ressourcen haben sie die Macht, den Diskurs in ihrem Herrschaftsgebiet zu beherr-schen. Die elitär bestimmten und vermittelten Inhalte und Formen dieses Diskurses werden dann aber von den Menschen dieser Gesellschaften entsprechend ihrer unter-schiedlichen Erfahrungen und Bedürfnisse interpretiert, verändert und den jeweiligen Lebensbedingungen angepasst. In der religiösen Praxis kommt es so zu einer gegen-seitigen Bedingtheit und Einflussnahme der religiösen Akteure und Institutionen. Religion ist somit mehr ein Ausdruck von Gemeinschaft, Miteinander, von teilbaren Überzeugungen und transzendiertem Sinn und weniger ein begrenztes System, eine spezielle Kirche oder ein privater Glaube. In diesem Miteinander kommt es zu mehr-sprachigen religiösen Konstellationen, einer Vielseitigkeit von Ausdrucksweisen, einer Pluralität von Perspektiven und zu komplexer Interaktivität. Wie für andere soziale Phänomene gibt es auch für die religiösen Phänomene keine absolute, univer-sell gültige Wahrheit, keine einseitige Bestimmbarkeit, sondern nur verschiedene Standpunkte und unterschiedliche Perspektiven, die sich den ständig verändernden Lebensbedingungen anpassen und unterschiedlichen menschlichen Bedürfnissen und Interessen dienen.[24] Soziale Herkunft, Geschlecht, Wohnort, Kapitalformen und –mengen, spezifische Tätigkeiten und Sozialstrukturen differenzieren menschliche Bedürfnisse und Interessen und damit auch die religiösen Vorstellungen und Prak-tiken. Obwohl es unterschiedliche Betrachtungen von verschiedenen sozialen Posi-tionen aus gibt, müssen diese nicht unbedingt ein unterschiedliches Verständnis von Religion zum Ausdruck bringen.[25] Letztendlich lässt sich das vielfältige und wandel-bare Wesen des Religiösen nicht durch einen hegemonial geführten Diskurs bestim-men, weder auf globaler noch auf staatlicher Ebene. Zwar wurden Religionen schon immer durch politischen Druck und religiösen Wettbewerb geformt und gestaltet, doch hat vor allem das praktische Handeln der religiösen Akteure eine wirkliche Bedeutung im gesellschaftlichen Miteinander, weswegen jegliche Definition von Religion lediglich die perspektivisch begrenzte Vorstellung und damit das unzurei-chende sprachliche Produkt eines Autors darstellt.[26]
3. Westliche Hegemonie und die Definition von Buddhismus
Weltreligionen waren in den Vorstellungen des Westens im 17. Jahrhundert nur das Christentum, das Judentum und der Islam. Weitere beobachtete Glaubensformen wurden allgemein als Paganismus, Heidentum bezeichnet. Durch neue Erfahrungen der westlichen Kolonialisten in Asien und die Sammlung und Inbesitznahme lokaler religiöser Texte, die durch vergleichende Studien in den akademischen Zentren der Kolonialmächte ausgewertet und interpretiert wurden, ermittelten und bestimmten westliche Orientalisten weitere Religionen, die sie als Hinduismus, Konfuzianismus, Daoismus, Shintoismus, Sikhismus und Buddhismus bezeichneten und voneinander abgrenzend definierten.[27]
Die europäische Bestimmung des Buddhismus als Asien übergreifende Tradition begann erst zu Ende des 18. Jahrhunderts.[28] So gab es vor dem 19. Jahrhundert kaum die Vorstellung von einer ausgeprägten buddhistischen Identität mit entsprechender geographischer Ausdehnung, und in der europäischen Wahrnehmung asiatischer Kul-turen überwogen die Eindrücke aus verschiedenen Studien zum Konfuzianismus und Hinduismus. Zwar waren buddhistische Phänomene einigen westlichen Missionaren und Handelsreisenden schon seit langem bekannt, doch gaben diese ihre Beobach-tungen und Erfahrungen üblicherweise in einer christlichen Terminologie wieder. So betrachtete Marco Polo, der als Händler und Abenteurer im 13. Jahrhundert für 20 Jahre am Hof des Großkhans Kublai in China weilte, Buddha einfach nur als die höchste Form aller Götterabbildungen, die er auf seinen Reisen sah. Franz Xavier, ein Jesuitischer Mönch, der im 16. Jahrhundert buddhistische Mönche und Laien in Japan beobachtete, hielt anfangs Buddhismus für eine modifizierte Form des Chris-tentums. Ein weiterer Jesuit, Matteo Ricci (1552-1610), verhöhnte in den Schriften über seine Erfahrungen in China die Vorstellungen von einer Wiedergeburt und dem Tötungsverbot anderer Lebewesen. Ricci glaubte, dass buddhistische Vorstellungen ihren Ursprung in Griechenland hatten, von der Philosophie des Phytagoras beein-flusst wurden und über Indien nach China gelangten. Der Italienische Jesuit Ippolito Desideri erreichte 1716 Lhasa, wo er sich lokale Sprachkenntnisse aneignete. In Lhasa widmete er sich den Studien der tibetischen buddhistischen Schriften kangyur und tengyur, um in etwas Einsicht zu gelangen, dass er als Irrglauben ansah. Jedoch hatte Desideri bei seinen Studien keine Vorstellung davon, dass es sich hierbei um „Buddhismus“ handeln könnte. Missionare kamen vom 16. bis 18. Jahrhundert eben-falls in Ceylon, Burma, Siam und Indochina mit buddhistischen Glaubensformen und Praktiken in Kontakt. Ihr Wissen beschränkte sich aber auf Beobachtungen und Gespräche mit buddhistischen Mönchen und Laien, wobei sie selten mit buddhis-tischen Schriften in Berührung kamen. Im 16. Jahrhundert wurde es dann üblich, die Briefe von Missionaren in der gedruckten Serie „Lettres edifiantes et curieuses“ zu veröffentlichen. In einem dieser Briefe beschreibt 1740 der in Südindien arbeitende Jesuitenpater Pons eine „neu entdeckte“ Glaubensform als bauddhamatham, Bud-dhas Lehre, und diese als eine Form von Ketzerei. Christliche Missionare und euro-päische Reisende kannten zwar durch die Beobachtung verschiedener religiöser Praktiken einige buddhistische Phänomene, hatten dabei aber kaum Kenntnisse von den buddhistischen Texten und interpretierten deshalb die beobachteten Phänomene abwertend als volkstümlichen Aberglauben und als Heidentum.[29]
Der Begriff „Boudhism“ wurde erstmals 1801 im Oxford English Dictionary verzeichnet und 1816 in „Buddhism“ verändert. Das erste englischsprachige Buch, welches das Wort Buddhismus im Titel führte, war 1829 „The History and Doctrine of Budhism, Populary Illustrated“ von Edward Upham.[30] Ein umfassendes Studium von buddhistischen Texten wurde 1837 durch die Übergabe einer Sammlung von Sanskrit Manuskripten von Brian Hodgson an Eugene Burnouf möglich. Hodgson, der als Abgesandter der East India Company am Königshof von Nepal weilte, konnte während seines dortigen Aufenthaltes 423 buddhistische Manuskripte sammeln, die er an Bibliotheken in Kalkutta, London, Oxford und Paris übergab. Nach dem Studium eines Teils dieser Manuskripte veröffentlichte Burnouf 1844 das Buch „In-troduction a l´histoire du buddhisme indien“ und 1852 eine Übersetzung der Lotus Sutra.[31] Seine Methode, Informationen direkt aus buddhistischen Texten zu gewin-nen, statt diese aus Berichten von Missionaren und Kolonialisten zu übernehmen, wurde Standard im neuen Feld der buddhistischen Studien. Burnouf unterschied angeblich als erster in eine nördliche und eine südliche Variante des Buddhismus, wobei er anhand der Texte den südlichen Buddhismus als die ältere und „reinere“ Variante interpretierte.[32]
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Buddha noch als ein mythischer Gott unter vielen indischen Götter wahrgenommen und nicht als eine bestimmbare historische Person. Horace Wilson schrieb 1856, dass verschiedene Betrachtungen es als sehr problematisch erscheinen lassen, ob jemals eine Person genannt Sakya Sinha, Sakya Muni oder Sramana Gautama wirklich existiert hatte.[33] Zur Mitte des 19. Jahrhun-derts begann dann die Tendenz, den Buddha als indischen Reformator in Analogie zu Martin Luther und den Buddhismus als eine Form von indischem Protestantismus darzustellen. Historischer Buddhismus war für führende britische Orientalisten eine Reaktion gegen das indische Priestertum im 6. Jahrhundert v. Chr., das sie unter der Rubrik Brahmanismus zusammenfassten. So schrieb Max Müller 1872, dass die gleiche Notwendigkeit, die vom mittelalterlichen Romanismus zum Protestantismus führte, aus historischem Brahmanismus Buddhismus entstehen ließ.[34] Er bemerkte 1855 weiterhin:
When I speak of Buddhism, I mean real, historical Buddhism, not esoteric, exoteric, or any other kind of fashionable Buddhism. Historical Buddhism took its rise about 500 years before Christ, and it can be studied in historical documents. [...] Buddhism has changed enormously, according to the character of the people by whom it was adopted, and to whose intellectual capacities it readily adapted itself. Still, whenever we speak of historical Buddhism, we mean one Buddhism only, namely, that which in its two aspects of southern and northern Buddhism can be studied in its recognized canonical writings.[35]
Die Analogie von Buddhismus und Protestantismus, von Buddha und Luther, war auch Ausdruck einer antikatholischen Polemik. Im Mahayana Buddhismus, der als eine später entstandene und von der Lehre des Buddha abweichende Variante interpretiert und als nördlicher Buddhismus vor allem in China, Japan, Korea und Vietnam verortet wurde, sahen westliche Akademiker Ähnlichkeiten zum Katho-lizismus. Dem südlichen Buddhismus hingegen, der Theravada oder Hinayana Bud-dhismus genannt und in Sri Lanka und Südostasien festgestellt wurde, schrieb man eine ältere und reinere Herkunft mit Analogien zum christlichen Protestantismus zu. Einige Akademiker behaupteten auch, dass „historisch reiner Buddhismus“ eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des Christentums gespielt und dieses erheblich beeinflusst hatte. Vajrayana Buddhismus, der als weitere Variante des Buddhismus für Glaubensvorstellungen und -praktiken in Tibet und Zentralasien definiert wurde, erhielt außerdem die Bezeichnung „Lamaismus“, abgeleitet vom chinesischen lama jiao, der Lehre von Lamas, buddhistischen Mönchen. Er wurde als die jüngste Variante des aus Indien stammenden „Ur-Buddhismus“ und die am stärksten von ihm abweichende interpretiert. Die Darstellung vom angeblichen historischen Ver-fall, Niedergang und der zunehmenden Verfälschung der buddhistischen Lehre und Ordnung entstand aus einer Sicht, die durch die koloniale Machtposition westlicher Orientalisten bestimmt wurde. Durch ihre Machtstellung hatten sie die Möglichkeit, einen hauptsächlich aus mythischen Texten und königlichen Chroniken überlieferten und idealisierten Buddhismus mit dessen gegenwärtigen Zustand aus ihrer christlich beeinflussten hegemonialen Perspektive zu kontrastieren, zu interpretieren und weltweit zu propagieren. Mit dieser Darstellung wurde auch die missionarische und koloniale Unternehmung des „fortschrittlichen Christentums“ gegen einen „degene-rierten Buddhismus“ ideologisch gerechtfertigt.[36]
Aus buddhadharma, wie die gesammelten buddhistischen Lehren traditionell in Asien genannt wurden, oder bauddhamatham, wie 1740 Jesuitenpater Pons seine in Südindien „entdeckte“ Glaubensform beschrieb, wurde durch westlichen Einfluss im 19. Jahrhundert Buddhismus, welcher im Weiteren rationalisiert, kategorisiert und zu einer universalen Religion ausgebaut wurde. An der Universität von Oxford wurde 1868 die neue Wissenschaftsdisziplin für vergleichende Philologie eingerichtet, mit Max Müller als Professor. Müller veröffentlichte ab 1879 „The Sacred Books of the East“. Die 49 bändige Ausgabe enthielt übersetzte und interpretierte Texte verschie-dener religiöser Traditionen des Ostens, an deren Erstellung 20 der „besten“ Orien-talisten der Welt, überwiegend westlicher Herkunft, beteiligt waren. Die kollektive Erstellung dieser Werke unterstützte auch die Institutionalisierung und Akzeptanz des Orientalismus als akademische Disziplin und die Verbreitung der vergleichenden Methode in den Humanwissenschaften. Zehn Bände dieser Ausgabe thematisierten den Buddhismus, wobei drei Bände Mahayana Texte und sieben Bände Theravada Texte enthielten. Vajrayana Überlieferungen wurden wegen ihrer „großen Abwei-chung“ von der „originalen buddhistischen Lehre“ von einer Veröffentlichung in Müllers Ausgabe ausgeschlossen.[37] Eine Reihe von internationalen Kongressen zur Geschichte der Religionen, deren erster 1873 in Paris stattfand und auf denen sich, bis auf einige ausgesuchte Vertreter der verschiedenen Traditionen des Ostens, überwiegend Orientalisten, Theologen und Religionswissenschaftler der westlichen Kolonialmächte versammelten, unterstützten die Vormachtstellung des Westens im Diskurs zur Kategorisierung und begrifflichen Bestimmung von dem, was den unterschiedenen „Weltreligionen“ zugerechnet oder von ihnen abgegrenzt wurde.[38]
Es war dann der US-Amerikaner Henry Steel Olcott, Mitbegründer der Theo-sophical Society, der 1881 analog zu den üblichen Handbüchern für christliche Glaubensfragen, das Handbuch “The Buddhist Catechism“ zusammenstellte. In die-sem Buch werden 383 Grundfragen des Buddhismus beantwortet, die Erstellung einer buddhistischen Flagge vorgeschlagen und vierzehn grundlegende buddhistische Glaubensprinzipien für alle Buddhisten formuliert.[39] Durch die Bemühungen des singhalesischen Buddhisten Anagarika Dharmapala, der seine Ausbildung an einer christlichen Missionsschule in Sri Lanka erhielt und sich 1884 der Theosophical Society anschloss, wurde Bodhgaya in Nordindien als ausschließliche buddhistische Ursprungs- und Ritualstätte problematisiert. Bodhgaya war über viele Jahrhunderte eine Pilgerstätte für verschiedene Buddhisten wie Hindus, wobei die Hüter der dorti-gen Tempel, Rituale und Idole seit dem 15. Jahrhundert Shaiva Brahmanen waren. Zum Streitpunkt wurde nicht nur, wer der rechtmäßigen Hüter dieser Stätten ist, son-dern auch, wer das Recht hat, dort ausschließlich buddhistische Idole zu verehren, und vor allem, welche Ritualform für deren Verehrung angemessen ist. Dharmapala wurde in seiner radikalen Einstellung durch das Buch eines westlichen Orientalisten beeinflusst, dem zu dieser Zeit sehr populären Werk „The Light of Asia“ von Edwin Arnold, das er 1871 veröffentlichte. Arnold, der sein Buch in poetischer Versform verfasste und darin Bodhgaya als den reinsten und heiligsten Ort der Buddhisten beschrieb, inspirierte Dharmapala dazu, den aktuellen Zustand von Bodhgaya in Kontrast zur romantischen und idealisierten Beschreibung Arnolds zu stellen. So schreibt Dharmapala:
[...]
[1] Wancharoen: Bangkok Post, 02.11.2013: 13.
[2] Beim Verrichten, tam (Thai), von moralischen und rituellen Aktionen, bun (Thai), merit (Sanskrit), wird ethisches Verhalten zum Ausdruck gebracht, das sich als persönliche positive oder negative Aktionsbilanz, karma (Sanskrit), kamma (Pali), kam (Thai), in traditionellen buddhistischen Vorstel-lungen auf die Form der Wiedergeburt im Lebenskreislauf, samsara (Sanskrit) auswirkt.
Bronkhorst 2003: 415-417; Tanabe 2003: 532-534; Terwiel 2010: 41f.
[3] Satrusayang: Asia Sentinel, 01.02.2013.
[4] 1939 wurde Siam in Thailand umbenannt. Baker, Phongpaichit 2005: 26.
[5] Für Begriffe aus dem Thai, Sanskrit und Pali verwende ich die übliche Umschrift, wie z. B. thamma-racha (Thai), dharmaraja (Sanskrit), dhammaraja (Pali).
[6] Riesebrodt 2003:1.
[7] Foucault 1986: 114f.
[8] Ebd: 113.
[9] Ebd: 116-118.
[10] Ebd: 122.
[11] Foucault 1991: 12-17.
[12] Ebd: 30.
[13] Foucault 1991: 16.
[14] Ebd: 33, 38f, 43.
[15] Bourdieu 2009: 30f, 54.
[16] Ebd: 36f.
[17] Ebd: 37f.
[18] Ebd: 39.
[19] Ebd: 40f.
[20] Ebd: 41-45, 54.
[21] Elias 1970: 194f.
[22] Asad 2002: 121f.
[23] Asad 2002: 122.
[24] Riesebrodt 2003: 3; Rehbein 2013: 128-133.
[25] Bourdieu 2009: 58-62.
[26] Riesebrodt 2003: 16f.
[27] Lopez 2005: 5.
[28] Silk 1994: 174.
[29] Beinorius 2005: 11f.
[30] Ebd: 14; Lopez 2005: 7.
[31] Salisbury 1847: 275.
[32] Lopez 1995: 4.
[33] Beinorius 2005: 15.
[34] Müller 1872: 220.
[35] Müller 1885: 222, 224.
[36] Beinorius 2005: 17f; Assavavirulhakarn 2010: ix-xi, 127-129, 150, 158f, 188-194.
[37] Giradot 2002: 217, 225-229.
[38] Ebd: 215.
[39] Olcott 1881: The Buddhist Catechism; Lopez 2005: 7.
- Arbeit zitieren
- Jan Andrejkovits (Autor:in), 2013, Macht, Diskurs und Religion: westliche Hegemonie und die Transformation des Buddhismus in Thailand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269139
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