In dieser Arbeit stehen die Analyse der Struktur und der Figuren von Martin Walsers Novelle "Ein fliehendes Pferd" im Mittelpunkt. Bezeichnet Walser sein "Glanzstück" mit Recht als Novelle? Um dieser Frage nachzugehen, wird Walsers Werk anhand Definition, Aufbau und Struktur der Gattung Novelle untersucht. Zentral ist außerdem eine eingehende Analyse der Charaktere, die mit einem ausführlichen Vergleich der beiden männlichen Protagonisten schließt.
Inhalt
Einleitung
1. Zum Novellenbegriff
1.1 Zur Geschichte der Novelle
1.2 Zur Novellendefinition
2. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Eine Novelle
2.1 Inhalt
2.2 Struktur und Aufbau
2.3 Die Charaktere
2.3.1. Zur Symbolik der Namen
2.3.2 Helmut und Sabine Halm
2.3.3 Klaus und Helene Buch
2.3.4 Vergleich Helmut – Klaus
3. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd erschien im Jahr 1978. Marcel Reich-Ranicki urteilte nach ihrem Erscheinen in der FAZ:
„Martin Walsers Novelle ‚Ein fliehendes Pferd’ halte ich für sein reifstes, sein schönstes und bestes Buch. Diese Geschichte zweier Ehepaare, die sich zufällig während ihrer Ferien in einem Ort am Bodensee treffen, ist das Glanzstück deutscher Prosa dieser Jahre, in dem sich Martin Walser als Meister der Beobachtung und der Psychologie, als Virtuose der Sprache bewährt.“[1]
Diese Arbeit untersucht Walsers Novelle hinsichtlich ihrer formalen Struktur sowie bezüglich ihrer Protagonisten. Es stellt sich die Frage, ob Walser sein Glanzstück mit Recht als Novelle bezeichnet. Um dieser Frage nachzugehen wird im ersten Kapitel die Gattung der Novelle allgemein vorgestellt. Zunächst wird die literaturgeschichtliche Entwicklung der Novelle kurz umrissen. Daraufhin wird eine Definition der Novelle gegeben. Da es in der Literaturforschung keinen einheitlichen Novellenbegriff gibt werden einige wichtige Novellentheorien erläutert. Insbesondere sollen die formalen Bedingungen, die eine Novelle erfüllen muss, vorgestellt werden. Im zweiten Kapitel wird Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd behandelt. Nach einer kurzen Wiedergabe des Geschehens wird die Novelle bezüglich Aufbau und Struktur untersucht. Es soll festgestellt werden, ob die formalen Bedingungen, der eine Novelle unterliegt, gegeben sind. Es folgt eine ausführliche Interpretation der Charaktere, insbesondere eine Betrachtung der beiden Protagonisten Helmut Halm und Klaus Buch, wobei auch die Symbolik der Namen beachtet wird. Die Untersuchung der Figuren schließt mit einem Vergleich der beiden männlichen Charaktere. Abschließend werden die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal zusammengefasst dargestellt.
1. Zum Novellenbegriff
Um Walsers Ein fliehendes Pferd hinsichtlich der Frage, ob sein Werk die formalen und inhaltlichen Bedingungen einer Novelle erfüllt, untersuchen zu können, muss zunächst der Begriff der Novelle dargestellt werden. Im folgenden Kapitel wird daher die literaturgeschichtliche Entwicklung der Novelle als Gattung im Überblick dargestellt. Darauf folgend werden der Novellenbegriff im Allgemeinen sowie seine gegebenen Bedingungen erläutert, indem einige wichtige Novellentheorien der deutschen Novellenforschung seit dem 18. Jahrhundert in Kürze dargelegt werden.
1.1 Zur Geschichte der Novelle
Das Wort Novelle geht etymologisch auf lat. novus neu zurück. Es ist aus it. novela kleine Neuigkeit entlehnt.[2] Ursprünglich stammt der Ausdruck Novelle aus dem Bereich der Rechtswissenschaft und bezeichnet ein Nachtragsgesetz. Von italienischen Humanisten wurde der Begriff der Novelle auf den Bereich der Literatur und der Dichtkunst übertragen.[3] In Europa hat die Bedeutung des Worts Novelle eine wandlungsreiche Geschichte erfahren. Im Laufe von Jahrhunderten wurde der Begriff unterschiedlich verwendet sowie auf verschiedene Bereiche übertragen.[4]
Um 1350 schreibt der Italiener Giovanni die Boccaccio einen Novellenzyklus mit dem Titel Il Decamerone. Dieser Zyklus beinhaltet 100 Erzählungen, die in eine Rahmenerzählung gebettet sind, inhaltlich aber kaum etwas miteinander gemeinsam haben, außer dem Hauptthema Liebe.[5] Boccaccio gilt seitdem als Urvater der Gattung Novelle.[6] Die so genannte Falkennovelle gilt als bekannteste aus dem Decamerone-Zyklus. Der Falke in dieser Erzählung gilt als Leitmotiv, so genanntes Dingsymbol, das die gesamte Handlung der Novelle beeinflusst und forciert. Das Leitmotiv einer Novelle wird daher auch üblicherweise als Falke bezeichnet.[7]
Die Konzeption des Decamerone galt durch viele Jahrhunderte hindurch als Vorbild für die europäische Novellendichtung. Novellenerzählungen gibt es aber nicht erst seit dem 14. Jahrhundert. Themen, Motive sowie Methoden novellistischen Erzählens reichen lange zurück bis in die Antike. Als Beispiel gelten die Erzählungen über die Perserkriege des griechischen Geschichtsschreibers Herodot, aber auch Heiligenlegenden des Mittelalters oder Verserzählungen des französischen Hochmittelalters.[8]
Neben Boccaccio gilt der Spanier Miguel de Cervantes Saavedra als wichtiger früher Vertreter der Novelle. 1613 veröffentlicht er die Novelas ejemplares, eine Sammlung von zwölf Novellen, deren Erzählrahmen – im Gegensatz zu Boccacchios Decamerone – an keinen strengen strukturellen Aufbau gebunden ist.[9] Cervantes Novellen beeinflussen hauptsächlich deutsche Novellenschreiber ab dem 18. Jahrhundert, v. a. aufgrund einer verstärkten Rezeption seines Don Quijote. Das 19. Jahrhundert gilt als Blütezeit der Novelle.[10]
1.2 Zur Novellendefinition
In der Literatur gibt es keine einheitliche Definition des Novellenbegriffs, sondern viele unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Merkmale eine Novelle haben muss. Über mehrere Epochen hinweg wurde die Novelle als Gattung unterschiedlich definiert. Gemeinsam haben alle Begriffsbestimmungen lediglich, dass sie Novelle als eine meist epische Erzählung mittlerer Länge einordnen.[11]
Im 18. Jahrhundert wird die Gattung der Novelle in Deutschland aufgegriffen. Eine erste Novellendefinition gibt Wieland. Er bezeichnet eine Novelle als kleinen Roman und betont außerdem die Einfachheit der Form. In seinem Buch Don Sylvio von Rosalva heißt es:
Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählungen genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplicität des Plans und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden, oder sich zu denselben verhalten, wie die kleinen Schauspiele zu der großen Tragödie oder Komödie.“[12]
Des Weiteren ist es ihm wichtig, dass die Novelle nicht wie ein Märchen in einer Phantasiewelt spielt, sondern von zwar nicht unbedingt alltäglichen, aber dennoch realistischen Begebenheiten handelt.[13]
August Wilhelm Schlegel betont wie Wieland die Ähnlichkeit der Novelle mit dem Roman. Auch der Bezug zur Wirklichkeit ist eine wesentliche Novellenbedingung. Die Novelle muss allgemein gültig sein und von wirklichen Dingen handeln.[14] Schließlich betont Schlegel auch die Nähe der Novelle zum Drama und das notwendige Vorhandensein von Wendepunkten im Erzählaufbau.
Eine weitere wichtige Novellenbestimmung stammt von Goethe. Seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gilt als erster Novellenzyklus in der deutschen Literatur. Dieser umfasst sechs Novellen, die eine gemeinsame Rahmenhandlung haben, und erscheint in Friedrich Schillers literarischer Zeitschrift Die Horen im Jahr 1795.[15] Goethe lehnt sich in seiner Erzählweise stark an Boccaccios Novellen an. Seine Erzählung, die den Titel Novelle. Das Märchen trägt, schreibt er gut 30 Jahre nach den Unterhaltungen. In einem Gespräch mit Eckermann erklärt Goethe seine Auffassung einer Novelle:
„Wissen Sie was […], wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so Vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen.“[16]
Laut Himmel kann diese Aussage nicht als Definition gesehen werden, da es hier nur um den Titel der Erzählung gehe.[17] Dennoch gilt Goethes Bekundung in der Novellenforschung als eine wesentliche Begriffsbestimmung dieser Gattung und die unerhörte Begebenheit – ein neues und unerwartetes Ereignis – als unabdingbares Novellenmerkmal.
Tieck betont, dass in einer Novelle eine deutliche Tendenz erkennbar sein muss, „etwas Hervorspringendes, eine Spitze, in der man sich wiederfindet“[18]. Diese Zuspitzung auf einen Wendepunkt betont Tieck als bedeutendes Novellenmerkmal. Die Novelle hebe sich dadurch hervor,
„daß sie einen großen oder kleinern Vorfall in´s hellste Licht stelle, der, so leicht er sich ereignen kann, doch wunderbar, vielleicht einzig ist.[…] Bizarr, eigensinnig, phantastisch, leicht witzig, geschwätzig und sich ganz in Darstellung auch von Nebensachen verlierend, tragisch wie komisch, tiefsinnig und neckisch, alle diese Farben und Charaktere läßt die ächte Novelle zu, nur wird sie immer jenen sonderbaren auffallenden Wendepunkt haben, der sie von allen andern Gattungen der Erzählung unterscheidet.“[19]
Die Funktion dieses auch Pointe genannten Wendepunktes ist es, Ordnung in das Geschehen zu bringen.[20] In die Novelle der Romantik werden phantastische Momente in die sonst auf Echtheit und Realität ausgelegte Handlung eingebracht: Das Alltägliche wird vom Wunderbaren durchdrungen.[21]
Für Storm reichen unerhörte Begebenheit und Wendepunkt zur Definition der Novelle nicht aus. Er bezeichnet die Novelle als „Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung“, die „die tiefsten Probleme des Menschenlebens“[22] behandelt. Es ist hauptsächlich ein Konflikt nötig, auf den sich die Novelle völlig konzentriert und alles andere, was nicht von Bedeutung ist, ausblendet.
Paul Heyses so genannte Falkentheorie – in Anlehnung an Boccaccios Falkennovelle – stellt das novellistische Leitmotiv in den Vordergrund. Eine Novelle muss einen deutlichen Umriss haben, ein Profil, etwas „Eigenartiges, Specifisches“[23], das sie von der Masse der anderen Erzählungen abgrenzt und es möglich macht, ihren Inhalt in Kürze wiederzugeben.[24] Außerdem ist es Aufgabe der Novelle, einen einzelnen Konflikt darzustellen, einer bestimmten Idee nachzugehen und sich auf die Entwicklung der Geschichte zu konzentrieren, nicht auf die Schilderung einer bestimmten Weltanschauung.[25]
Auch in der neueren Novellenforschung gibt es keine einheitliche Novellendefinition. Nach Benno von Wiese gilt bezüglich des heterogenen Novellenbegriffs:
„Verbindliche Regeln gibt es hier glücklicherweise nicht. Wir besitzen wertvolle Novellen mit und ohne Falken, mit und ohne Wendepunkt, mit und ohne Rahmen, mit und ohne Idee, ja sogar mit und ohne Leitmotiv... Was jedoch die Novelle in erster Linie braucht, wird immer das novellistische Ereignis und seine jeweilige Formung sein.“[26]
[...]
[1] Reich-Ranicki, Marcel: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre.1981, S. 182.
[2] Vgl. Meid, Volker: Sachlexikon Literatur, 2000. Novelle.
[3] Vgl. Degering, Thomas.: Kurze Geschichte der Novelle, 1994. S. 7.
[4] Vgl. Aust, Hugo: S. 18.
[5] Vgl. Degering, S. 13.
[6] Vgl. ebd. S. 11.
[7] Vgl. ebd. S. 15f.
[8] Vgl. Degering: S. 11.
[9] Vgl. ebd. S. 18.
[10] Vgl. Polheim, Karl Konrad (Hg.): Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil,1970; S. XIII.
[11] Vgl. Polheim, Karl Konrad.: Gattungsproblematik. In: Pohlheim, Karl Konrad. (Hg.) Handbuch der deutschen Erzählung. 1981. S. 15.
[12] Wieland, Christoph Martin: Don Sylvio von Rosalva. In: W.s Werke. XIV. Theil: Don Sylvio von Rosalva. I. Theil. Zitiert nach: Polheim, 1970. S. 1.
[13] Vgl. Wieland, Christoph Martin: Die Novelle ohne Titel. Einleitung. In: Ws Gesammelte Schriften. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 2.
[14] Ebd. S. 17.
[15] Vgl. Degering, S. 21.
[16] Houben, H. (Hg.): Gespräche mit Goethe. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 54.
[17] Vgl. Himmel, Hellmuth: Geschichte der deutschen Novelle.1963, S. 30.
[18] Unterhaltungen mit Tieck. 1849-1853. In: Köpke, R.: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen. II. Theil. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 78.
[19] Tieck, Ludwig. Vorbericht. In: L.T.s Schriften. XI. Bd: Schauspiele. Zitiert nach: Polheim 1970,
S. 75f.
[20] Vgl. Lockemann, Fritz: Gestalt und Wandlungen der deutschen Novelle, 1957, S. 14.
[21] Vgl. Tieck, Ludwig. Vorbericht. In: L.T.s Schriften. XI. Bd: Schauspiele. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 75.
[22] Brief an Hartmuth Brinkmann vom 22. November 1851. In: G. Storm: Theodor Storm. Ein Bild seines Lebens. Jugendzeit. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 118.
[23] Ebd. S. 148.
[24] Vgl. Einleitung. In: Heyse, P. und Kurz, H. (Hg.): Deutscher Novellenschatz. I.Bd., S. VII-XX. Zitiert nach: Polheim 1970, S. 148.
[25] Ebd. S. 147f.
[26] Wiese, Benno von.: Novelle, S. 11f.
- Arbeit zitieren
- Magistra Artium Melanie Kindermann (Autor:in), 2004, Analyse der Novelle von Martin Walser: "Ein fliehendes Pferd", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26909
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