Dieses Dossier bildet den ersten von zwei Teilen der Diplomarbeit „Neue Wohnformen in China“. Sie entstand im Rahmen eines dreimonatigen Aufenthaltes in Shanghai im Herbst 2003 und dient als Vorarbeit für den städtebaulichen und architektonischen Entwurf für die Satellitenstadt Sijing. Der Wohnungsbau in Shanghai begann im großen Stil in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ist von den ständigen Veränderungen
der wirtschaftlichen und sozialen Umstände geprägt. Trotzdem zeigt
sich in einigen Elementen eine lineare Entwicklung, die ihren Ursprung in der langen Vergangenheit chinesischer Wohntraditionen hat. Gerade für die steigende Anzahl ausländischer Stadtplaner und Architekten wird dieser Gegensatz schnell zum kulturellen Hindernis. Ziel dieser Arbeit ist es, anhand verschiedener Untersuchungen dieses Spannungsfeld zu durchleuchten und damit eine angemessenere Planung zu fördern.
INHALT
1 Familie Liu zieht ein
2 Urbaner Wohnungsbau in Shanghai - ein Überblick
3 Die Geschichte Shanghais bis 1986
4 Der Stadtplaner Richard Paulick
5 Wohnungsbau in Shanghai seit Beginn der Reformen
6 Die Zukunft des Wohnungsmarktes - ein Interview
7 Der Abriss der Lilongs
8 Satellitenstädte
9 Die Tradition der Nachbarschaft
10 Qualitäten des Wohnquartiers
11 Die Tradition des Wohnens
12 Ein Hofhaus in Zhouzhang
13 Ein Hochhaus in Shanghai
14 Anting New Town
15 Anmerkungen, Abbildungen
16 Literatur
01 FAMILIE LIU ZIEHT EIN
Es ist Sonntag, Familientag. Drei Arbeiter in blauen Latzhosen machen sich an der Windschutzscheibe des amerikanischen Buick zu schaffen. Innen, auf der Rückbank neben mir, sitzt Liu Xi Long und drückt seine Nase an der eingeschäumten Scheibe platt. Zhu Sheng Yu, seine Mutter, unterhält sich fröhlich mit Herrn Liu über die Ereignisse der Woche. Es ist ein großer Tag. Heute soll die neue Wohnung begutachtet werden, sie ist endlich bezugsfertig. In wenigen Tagen kommen die Möbelwagen. Nach etwas über zehn Minuten sind die drei Arbeiter fertig, und der Buick blitzt in der ausnahmsweise grell scheinenden Sonne auf. Herr Liu gibt ihnen fünf- zehn Yuan, knapp zwei Euro, und biegt in die Siping Lu ein. Er steuert eine Weile durch die Stadt, an den haushohen Betonpfeilern der Hochbahnli- nie entlang, bis er die Nanbei Hochstraße erreicht. Zwischen voll bepack- ten Radfahrern und Schwärmen von Santana 2000 Taxis drängelt er sich auf die Auffahrt. Die Nanbei Hochstraße zerpflügt in fünfzehn Meter Höhe die Stadt und kreuzt im Zentrum Shanghais die Yan‘An Hochstraße. Dort winden sich Ab- und Auffahrten zu einem Knäuel aus Beton. Herr Liu steu- ert über das nördliche Straßenkreuz auf die nördliche Ringstraße zu. An uns vorbei rauschen ältere und neue Hochhäuser; manche sind noch im Bau; die oberen fünf Geschosse sind eingerüstet und die Bewährungs- stähle ragen in die Luft. Später wird das Gerüst wieder herunter wandern, wenn das Haus von oben nach unten verputzt und mit Säulen und Pila- stern verkleidet wird. Ich schaue über den Rand der Autobahn hinunter und erkenne zwischen den Sockeln der Bürotürme ein Meer gleichförmi- ger alter Dächer, die Reste der Lilong-Gebiete. Herr Liu biegt im Norden der Stadt ab. Wir überqueren eine kleine Brücke über dem Suzhou Fluss*. Noch vor wenigen Jahren lag hier das industrielle Zentrum der Stadt. Große und kleine Fabriken aller Art nutzten den schmalen Wasserweg, um ihre Waren zum Huangpu Fluss und damit in das Yangtze Delta zu trans- portieren. Das geschäftige Treiben an den Docks, wie es der chinesische Regisseur Ye Lou Ye noch im Jahr 2000 in seinem Film „Suzhou River“ eingefangen hat, gibt es nicht mehr. Heute steht keine einzige Fabrik mehr. Stattdessen erhebt sich an den sich windenden Ufern des Flusses ein Wald bis zu dreißiggeschossiger Hochhäuser. Die Regierung erlaubt hier den Investoren, die dichtesten Wohngebiete der ganzen Stadt zu bauen, bis zu einhundert Meter hohe Türme, zwischen denen verschattete, leere Parks liegen. Wir durchqueren ein Tor mit einer Schranke und fahren auf einer schmalen Straße im Schritttempo weiter. Die neuen Wohnsiedlungen tragen Namen mit wohlklingenden englischen Übersetzungen wie „River Gardens“, „Brilliant City“ oder „Paradise Estate“. Herr Liu parkt das Auto in einer ebenerdigen Garage. In der Lobby des Wohnhauses wechseln sie noch ein paar freundliche Worte mit dem Sicherheitspersonal. Der Aufzug bringt uns in den zweiundzwanzigsten Stock. Überall wird noch gebohrt und gehämmert. Familie Liu wohnte bisher in einer typischen Shanghaier Siedlung. Die sechsgeschossigen Zeilenbauten sind 1997 gebaut worden, sehen aber jetzt schon aus, als seien sie vierzig Jahre alt. Sie haben sich in einer sonst sehr einfachen Nachbarschaft eine recht große Maiso- nette-Wohnung eingerichtet. Als Architekt verdient Herr Liu sehr gut, und seit Jahren kann er sich vor Aufträgen kaum retten. Deswegen zieht die Familie jetzt hoch über die Dächer von Shanghai. Die neue Wohnung ist 180 Quadratmeter groß, und die Lage beliebt. Liu Xi Long springt in den kahlen, weißen Räumen herum und reißt die Türen auf. Die Wohnung hat ein Esszimmer, das fließend in ein Wohnzimmer übergeht. Von dort aus geht es in das Hauptschlafzimmer oder über einen Flur in ein zweites Schlafzimmer. Ein drittes Zimmer kann für Gäste oder Großeltern zum Schlafzimmer umgewandelt werden - jedes der Zimmer hat ein eigenes Bad. Ein großer Balkon liegt im Süden, mit Blick auf den Suzhou Fluss, ein kleiner Balkon liegt hinter der Küche und ist nach Norden ausgerich- tet. Eigentlich gibt es viel mehr Räume als nötig. In China gibt es so gut wie keine Familie mit mehr als einem Kind, dafür sorgt die in den Siebzi- ger Jahren eingeführte Einkindpolitik. Die vielen Vokabeln, die die chinesi- sche Sprache für Verwandtschaftsverhältnisse parat hält, sind überflüssig geworden. Millionen von Einzelkindern werden dafür nicht nur mit Auf- merksamkeit und Bildung, sondern auch mit Spielsachen verwöhnt. Liu Xi Long hat zur Feier des Tages eine japanische Plastik-Spielfigur bekom- men und fragt mich nach den englischen Namen der Körperteile. Er kniet in einem der großen Erkerfenster und schaut ab und zu gebannt hinaus, um von oben herab die Bauarbeiter zu beobachten, die mit Schaufeln und Spitzhacken das Grundstück umgraben. Hier entstehen eine weiträumige Sportanlage, ein Park mit Pavillons, Kanälen und Brücken, ein kleines Amphitheater an der Uferpromenade und massenweise überdachte Stell- plätze. Auch aus dieser Höhe betrachtet reichen die Hochhäuser bis an den Horizont. Irgendwo wachsen zehn riesige Bauten nebeneinander aus der Erde. Der Markt boomt immer noch. Familie Liu hat für die Wohnung etwa 1,3 Millionen RMB (150.000 Euro) bezahlt. Ein Schnäppchen, denn seitdem sind die Preise wegen der Olympiade 2008 und der Expo 2010 um rund 30 Prozent gestiegen.
Der Nachmittag endet im „Super Brand Mall“: Während Zhu Shang Yu in Modegeschäften umherläuft, sitzen Herr Liu und ich in einem Starbucks- Café. Ob immer so weiter gebaut wird, frage ich. Herr Liu erklärt, dass noch Millionen von Menschen aus der Provinz auf eine Wohnung in Shanghai warten. Am selben Tag meldet der „Shanghai Daily“: Die Regierung in Shanghai schränkt den Bau von Hochhäusern ein. Die Stadt würde sonst langsam im Erdboden versacken.
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02 URBANER WOHNUNGSBAU IN SHANGHAI - EIN ÜBERBLICK
Shanghai, die größte Stadt Chinas an der Mündung des Yangtze-Flus- ses, befindet sich in einer Phase der Umwälzung, der Identitätsfindung, des schier unendlichen Wachstums und des grenzenlosen Optimismus. Massen von armen Provinzbewohnern strömen in die Metropole, um unter widrigsten Umständen ein Leben in Hoffnung auf ihren Anteil am Wachs- tum zu beginnen. Sozialistische Politiker überlassen auf der Suche nach neuen Geldquellenkapitalistischen Entwicklungsgesellschaftenzusehends die Macht über die Stadtplanung. Westliche Architekten auf der Flucht von andauernden Baukrisen in der Heimat versuchen, in den giganti- schen Markt vorzudringen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht eine neue Generation der wohlhabenden Einkindfamilie, die trotz allen Verän- derungen an Jahrhunderte alten Wohntraditionen festhält.
Die Sonderrolle Shanghais in der chinesischen Stadtentwicklung hat eine lange Tradition. Die strategisch wichtige Lage an der Mündung des wichtigsten Handelsweges (s. 03 Geschichte bis 1986) war der Auslöser für die Entscheidung der Engländer, die Stadt nach dem Opiumkrieg von 1842 als Handelsstützpunkt zu nutzen. Seither war die Stadt immer ein Schmelztiegel von westlichen und chinesischen Ideen und Stilen. In den westlichen Konzessionen entwickelte sich der einzigartige Typ der Lilongs. In der Mitte des 20. Jahrhundert, zur Zeit der japanischen Besatzung, trat der emigrierte deutsche Architekt Richard Paulick (s. 04 Richard Paulick) als wegweisender Stadtplaner hervor.
Die Entwicklung der Stadt stagnierte mit der antiurbanen Bewegung im Zuge der „Großer Sprung nach vorn“ Politik Mao Ze Dongs. Während der Kulturrevolution herrschte der sozialistische Massenwohnungsbau vor. Erst mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas durch Deng Xiao Ping begann die Stadt von neuem, sich ihrem Potenzial entsprechend zu entwickeln. Der Jahrzehnte andauernde eklatante Wohnungsmangel sollte durch zwei Wohnungsbaureformen 1986 und 1992 gelöst werden (s. 05 Wohnungsbau seit den Reformen). Die Deklaration Pudongs als Sonderwirtschaftszone im Jahr 1990 gab letztendlich den Anstoß für einen unvergleichbaren Entwicklungssprung Shanghais. Durch die immer stärkere Privatisierung und Liberalisierung ist die Stadt auf hohe Erlöse aus Pachtversteigerungen innerstädtischer Grundstücke angewiesen. Die städtische Politik zielt gleichzeitig auf eine starke Wohnraumverdichtung ab (s. 06 Wohnungsmarkt). Das Resultat sind rapide verschwindende Altbaugebiete (s. 07 Abriss der Lilongs). Die dort lebenden Bevölke- rungsschichten werden vom Miet- in den Eigentumswohnmarkt gedrängt. Die Kredite reichen aber trotz eines wachsenden Wohnungsangebots in der Stadt nur für eine Eigentumswohnung weit außerhalb der teuren Grundstücke. Um gleichzeitig einem Wohnungsnotstand für die ärmeren Schichten zu entgehen und die Profite aus Grundstücksauktionen in der Stadt nicht durch hohe Auflagen (wie den Bau von Sozialwohnungen) zu mindern, ist der Staat dazu übergegangen, diesen Teil der Bevölkerung in Satellitenstädten anzusiedeln (s. 08 Satellitenstädte).
Der innerstädtische Wohnungsbau beschränkt sich traditionell zum Großteil auf geschlossene Nachbarschaften. Das hängt einerseits mit der ländlichen Tradition und der Zuwanderungsstruktur zusammen. In der Geschichte Shanghais sind meist komplette Dörfer und Siedlungen gemeinsam in eine Nachbarschaft gezogen. Andererseits ist die Nach- barschaftseinheit zu einem Teil des kommunistischen Partei- und Ver- waltungssystems geworden. Das Nachbarschaftskomitee ist die zentrale Propaganda sowie Anlaufstelle für soziale Probleme (s. 09 Nachbarschaft). Die Nachbarschaften sind in sich geschlossen und nur durch ein bewach- tes Tor betretbar. Je nach baulicher Struktur sind sie von einem Ring von Läden, einer Mauer oder einem Zaun umgeben (s. 10 Wohnquartier).
Der Geschosswohnungsbau beschränkt sich aufgrund der hohen Dichte und den rigiden Bauvorschriften im Wesentlichen auf drei Typen. In weniger dichten Gebieten sowie an Positionen, die relevant für die Sonneneinstrahlung sind, herrschen sechsgeschossige Bauten vor. Diese benötigen laut Bauvorschrift keinen Aufzug und sind daher weitaus billi- ger als Hochhäuser. Ab sieben Geschossen ist ein Aufzug, Ab dreizehn Geschossen der Einbau eines zweiten separaten Treppenhauses Pflicht. Die maximal zulässige Anzahl an Geschossen liegt im Normalfall bei 24. Nur in ausgewählten Zonen der Stadt, zum Beispiel direkt am Suzhou- Fluss, werden Bauten mit bis zu 32 Geschossen errichtet.
Auch wenn sich der chinesische Wohnungsbau innerhalb von weni- gen Jahrzehnten ständig gewandelt hat, lassen sich die traditionellen Grundprinzipien von Erschließung, Ausrichtung und Raumfolgen an den heutigen Grundrissen ablesen. Wie beim traditionellen feudalen Dorfhaus sind die Schlafräume oft nach Generationen gegliedert, mit den wichtig- sten Personen am hinteren Ende der Raumfolge (s. 11 Wohntradition). Ess- und Wohnbereich sind getrennt und werden als zwei Zimmer gezählt, sie bilden aber meist eine fließende Einheit. Die Erschließung erfolgt über diesen zentralen Raum und verzweigt sich über mehrere separate Zugänge in die privaten Räume (s.13 Hochhaus).
Diese Prinzipien des chinesischen Wohnungsbaus sind von erstaun- licher Rigidität und dauerhafter Gültigkeit. Ausländische Architekten, die zunehmenden Anteil an der Planung von Wohnungsbauten haben, sind von diesem Phänomen oft überrascht. Die Rigidität äußert sich nicht nur durch die klaren Bedürfnisse der Bewohner und dadurch auch der Investo- ren, sondern auch in strikten Bauvorschriften und unantastbaren Positio- nen der zuständigen Behörden. Der deutsche Entwurf der Satellitenstadt Anting New Town musste einen langwierigen Prozess der Überarbeitung, durchlaufen bis er den chinesischen Vorstellungen gerecht wurde (s. 14 Anting).
Die Satellitenstadt Songjiang ist ein weiteres Projekt der „One City Nine Towns“ Direktive, das sich derzeit noch in der Planungsphase befindet. Es wird jedoch schon deutlich, dass die Ansprüche an Originalität und Modernität deutlich niedriger gestellt sind. Der ausländische Einfluss äußert sich eher in der Art des Fassadenstil als in tatsächlicher strukturel- ler Stadtplanung.
Dieser kurze Überblick zeigt, dass der Wohnungsbau Shanghais nicht nur in seinem Maßstab, sondern auch in seiner Typologie, Tradition und gesellschaftlichen Bedeutung aus der europäischen Sichtweise kaum zu begreifen ist. Die folgenden Kapitel sollen anhand verschiedener Sichtwei- sen einen Eindruck der Situation heute geben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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3 DIE GESCHICHTE SHANGHAIS BIS 1986
1292: gründung der kreisstadt shanghai 1842 vertrag von nanjing 1943 auflösung der ausländischen konzessionen 1979 ende der kulturrevolution
Die chinesischen Symbole „Shang“ und „Hai“ bedeuten „Über dem Ozean“ und symbolisieren die wirtschaftliche Bedeutung der Wasser- wege für Shanghai. Die Stadt liegt nahe der Mündung des Yangtze Flusses in die chinesische See, etwa 1000 km südlich von Peking. Die im dreizehnten Jahrhundert ummauerte Stadt uferte am Huangpu- Fluss, der wenige Kilometer nördlich in den Yangtze mündet. Der Lauf des Flusses wurde bis ins 19. Jahrhundert mehrmals verändert, und die Küstenlinie verschob sich um bis zu 60 km von der Stadt weg (Abb.3- 1). Bis in das neunzehnte Jahrhundert war die Stadt als Handels- und Fischerort von Bedeutung. Die moderne Geschichte der Stadt begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts: 1840 begann der Opiumkrieg der Engländer gegen China und endete 1842 mit dem Vertrag von Nan- jing. Die Briten forderten die Bereitstellung von Konzessionsgebieten für die ausländischen Mächte. Nahe dem Ankerplatz der Flotte am Huangpu Fluss entstand der Bund, die zentrale Uferstraße der neu gegründeten Stadt. Von dort aus wurden die Geschicke des Asien- handels gelenkt. 1851 begann in China der Taiping-Aufstand. Teile des chinesischen Landadels wurden von den Bauern vertrieben und flohen in die sicheren ausländischen Konzessionen. Die dortigen Bewohner sahen in den Zuwanderern eine Einnahmequelle und verpachteten ihre Grundstücke. So entstanden die ersten Lilong-Gebiete. Allen weiteren politischen Unruhen, insbesondere dem Boxeraufstand von 1900, folgten Zuwanderungswellen in die Konzessionen, so dass die chinesische Bevölkerung zum Ende der Qing-Dynastie im Jahr 1911 klar überwog. Die 1921 in einem Lilong-Gebiet in Shanghai gegründete Kommunistische Partei Chinas1 vereinigte sich 1927 mit der Nationalen Partei Chang Kai Cheks und stellte im Land nominelle Einigkeit her. Der Plan für Groß-Shanghai entstand, die erste zusammenhängende Stadtplanung für die chinesischen und ausländischen Gebiete. 1932, im Zusammenhang mit dem Einmarsch der Japaner in die Mandschu- rei, wurde der dicht besiedelten Stadtteil Zhabei beschossen. Nach dem erneuten Ausbruch des Krieges 1937 besetzten die Japaner den chinesischen Teil der Stadt und unterstellten die Konzessionsgebiete der Kollaborationsregierung. Die „Inselzeit“2 begann. Erst 1941, einen Tag nach Ausbruch des Pazifikkrieges in Pearl Harbour, marschierten die japanische Armee in die Konzessionen ein, viele Bewohner flohen. Die Besatzer entwickelten einen zweiten „Plan für Groß-Shanghai“, der aber nicht zur Realisierung kam. Erst nach der Kapitulation Japans, im Jahr 1945, wurde Shanghai von der Nationalen Regierung übernom- men. Ein dritter „Plan für Groß-Shanghai“ entstand. Zu diesem Zeit- punkt war die Wohnungsnot immens. Der erste Plan für Groß-Shanghai war an dem Einmarsch der Japaner gescheitert, den Japanern selbst wiederum war eine Entschärfung der Situation in der kurzen Zeit der Besatzung nicht gelungen. Auch die Kriegsschäden waren nicht beseitigt worden. Der neue Plan sah also eine schnelle Entflechtung der Siedlungsdichte und Massenwohnungsbau vor. Wiederum wurde die Planung durch die Realität eingeholt: der Bürgerkrieg 1945-49 zwischen der Nationalen Partei und der Kommunistischen Partei ver- hinderte jegliche Entwicklung. Er endete mit der Revolution von 1949 und der Gründung der Volksrepublik China unter Mao Ze Dong.
Die ersten Jahre der Revolution sahen eine weitere Verschärfung der Krise. Der Parteiführung war an der Entwicklung Shanghais wenig gelegen, da die liberale Megastadt eine Gefahr für die kommunistische Ideologie darstellte. Trotzdem entstanden einige Arbeitersiedlungen („Caoyang“), vor allem in den kriegszerstörten Gebieten3. Zum ersten Mal wurde hier die Nachbarschaftsidee in vollem Umfang verwirklicht. Die erste Caoyang bestand aus mehreren Nachbarschaften, die ähn- lich einer Gartenstadt monofunktional organisiert sind und Land- schaftsräume einbeziehen. Die gleichartigen Wohnungen stellten das kommunistische Ideal dar. Jede Nachbarschaft bot Raum für etwa 2000-3000 Einwohner. Etwa fünf Nachbarschaften bilden einen Bezirk mit etwa 12.000 Einwohnern. Ein Distrikt vereint etwa vier dieser Bezirke und 50.000 Einwohner4.
Vor allem die zu hohen Baukosten verhinderten aber eine Verbes- serung der Situation. 1958 wurden die Kosten von 100 RMB/qm auf 50 RMB/qm gesenkt, und damit der technische Standard wesentlich verschlechtert. Erst jetzt konnten im großen Stil Arbeitersiedlungen ent- stehen. Im Jahr 1959 wurde die Satellitenstadt Minhang gegründet. Auf über 1000 Hektar entstand eine Arbeiterstadt, die später zum Vorbild für die Stadtentwicklung in ganz China wurde. Es folgte die Zeit des „Großen Sprunges nach vorn“ - auch „Drei Jahre der Naturkatastro- phen“ (san nian zi ran zai hai) . Die Geschwindigkeit der Entwicklung nahm ab. Die Politik Maos zielte auf eine Industrialisierung des inneren Chinas ab - für die Erneuerung der Städte war kein Geld vorhanden. Katastrophale Hungersnöte auf dem Land führten zu erneuten Zuwan- derungsströmen. Noch dramatischer wurde die Situation während der Kulturrevolution. In den „Zehn Jahre des großen Chaos“ (shi nian dong luan)5 lagen alle akademischen Tätigkeiten und somit auch die von Experten gelenkte Stadtplanung danieder. Nur einige der schon bau- fälligen Arbeiterwohnungen und einige Lilong-Gebiete wurden durch neue Wohnungen von sehr geringer Qualität ersetzt. Nach dem Ende der Kulturrevolution kam es erneut zu einer Zuwanderungswelle - dies- mal kehrten tausende unter Mao vertriebener Lehrer, Studenten und Intellektuelle zurück. Mao Ze Dong starb am 9.9.1976. Mit der Reha- bilitierung Deng Xiao Pings im Juli 1977 begann für China die Phase der Reformen, die bis heute anhält. Deng sah sich zu Beginn seiner Amtszeit mit einer katastrophalen Lage in den Städten konfrontiert. Sie waren überbevölkert, und die Infrastruktur war veraltet. Viele Familien teilten sich zum Teil kleine Wohnungen ohne Sanitäreinrichtungen oder Küche. Alle Versuche der letzten 50 Jahre, die Situation in Griff zu bekommen, waren gescheitert.
- Arbeit zitieren
- Viktor Oldiges (Autor:in), 2004, Shanghai - Sijing New Town, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26881
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