"Der Erste Weltkrieg war ein radikaler Einschnitt in nahezu alle Aspekte der Entwicklung des 20. Jahrhunderts und prägte den weiteren Verlauf der neueren Geschichte maßgeblich. Doch auch hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind sich die Historiker über die Ursachen und die Verursacher dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nicht einig.
Wie kam es dazu, dass 1914 die größten und einflussreichsten Nationen der Welt einen Krieg führten, in dessen Verlauf mehr als 10 Millionen Menschen starben? In diesem Buch werden die kurz- und langfristigen Ursachen beleuchtet, und die Prozesse dargestellt, die durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 ausgelöst wurden.
Aus dem Inhalt:
Das Attentat von Sarajewo
Die Julikrise
Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bis zum 23.Juli 1914
Die langfristigen Ursachen des Ersten Weltkrieges
Deutschlands Schuld am Ausbruch des Krieges"
Inhaltsverzeichnis
Manfred Schopp: Wie es zum Ersten Weltkrieg kam: Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln
Vorbemerkung
1. Das Spiel beginnt. Der russisch-japanische Krieg von 1904/
2. Der Vertrag von Björkö
3. Die Ängste des Sir Eyre Crowe
4. Die sogenannte Haldane-Mission von
5. Die militärische Einkreisung Deutschlands (1905-1914)
6. Das Attentat in Sarajewo am 28. Juni
7. Bilanz
M.A. Jochen Lehnhardt: Gründe der serbischen Regierung für die Ablehnung des österreichischen Ultimatums am 25. Juli 1914: Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Einleitung
1. Geschichte der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bis zum Ultimatum vom 23. Juli
2. Das österreichische Ultimatum an Serbien
3. Innenpolitische Gründe Serbiens für die Ablehnung
4. Einfluss des Auslandes auf die serbische Entscheidung
Zusammenfassung / Ergebnis:
Literaturverzeichnis
Matti Ostrowski: Julikrise und Kriegsausbruch
1. Einleitung
2. Langfristige Ursachen des Ersten Weltkrieges
3. Julikrise und Kriegsausbruch
4. August
5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Jörn Fritsche: Wollte Deutschland den Ersten Weltkrieg? – Die Kontroverse zwischen Fritz Fischer und Egmont Zechlin zur Kriegsschuldfrage
Vorbemerkung
I. Zusammenfassung der zentralen Thesen
II. Bewertung
III. Eigene Bewertung
Literaturverzeichnis
Einzelbände
Manfred Schopp: Wie es zum Ersten Weltkrieg kam: Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln
Vorbemerkung
Noch hundert Jahre nach seinem ‚Ausbruch’ sind sich die Historiker über die tiefer liegenden Ursachen, besser: die Verursacher, dieser ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ nicht einig. Nur in einem Punkte besteht unter den ernstzunehmenden Fachleuten Einigkeit: Der berüchtigte ‚Kriegsschuld-paragraph’ 231 des Versailler Vertrags verzerrte die Vorgeschichte des Krieges gewaltig. Es wurde nämlich von der deutschen Regierung verlangt anzuerkennen, „dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten Regierungen…infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“.
Eine solche Vergewaltigung der geschichtlichen Tatsachen sprach jeder gerechten Wertung der vergangenen Jahre Hohn. Verständlicherweise regte sich zuerst Widerspruch gegen die ‚Kriegsschuldlüge’ in Deutschland, aber auch in den Siegerstaaten selbst kamen allmählich unabhängige, kritische Geister bei ihren Studien zu Ergebnissen die das offizielle Geschichtsbild ihrer Regierungen als Propaganda und Zerrbild entlarvten.
Zu nennen sind hier vor allem zwei US-Historiker, die mit ihren 1926 und 1928 erschienen Werken erstmals der geschichtlichen Wahrheit auch in den Siegerstaaten die Ehre gegeben haben. Es sind dies Harry E. Barnes, mit The Genesis of the World War, New York 1926, und Sidney B. Fay mit dem zweibändigen Werk Origins of the World War, New York 1928. Auf Deutsch erschien Fays Abhandlung 1930 in Berlin.
Diese Werke sind so gründlich in der Auswertung der Quellen, der Klarheit der Analysen und Ausgewogenheit des Urteils, dass sie bis heute unübertroffen sind.
Beide Autoren kannten sich und schätzten einander. Barnes schreibt in seinem Vorwort sogar, er sei durch einen Artikel von Sidney Fay, der bereits 1920 erschien, aus seinem „dogmatischen Schlummer aufgeweckt worden“. Die Lektüre dieses Aufsatzes von Fay sei für ihn „ein Schock“ gewesen, „fast gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an den Weihnachtsmann in seiner Kindheit“.
Nach diesem Schlüsselerlebnis habe er begonnen, die „tapferen Traktate der ‚National Security League’ und der ‚American Defense Society’“ kritischer zu lesen , und so sei sein Glaube an „die konventionelle Mythologie“ der US-Propaganda in sich zusammengebrochen. Dies war angesichts der allgegenwärtigen, in ihrer Infamie und Systematik unübertroffenen Verleumdungskampagne, der Deutschland (und jeder US-Bürger deutscher Abstammung) seit 1914 ausgesetzt war, eine intellektuelle Leistung, die von selten anzutreffender geistiger Unabhängigkeit und Urteilskraft zeugt.
Natürlich handelte auch Barnes sich den billigen Vorwurf ein, ein Revisionist und in seinen Ansichten „zu extrem“ zu sein, aber er blieb sich treu, indem er konterte: „Die Tatsachen selbst und die Schlußfolgerungen, die aus ihnen gerechterweise erwachsen, können nie ‚zu extrem’ sein, und es tut nichts zur Sache, wie weit sie von den populären Ansichten der Provinzler entfernt sind.“ Ein solcher Satz wäre es wert, jedem heutigen Geschichtswerk als Richtschnur vorangestellt zu werden. Barnes wollte nicht politisch sondern historisch korrekt sein, obwohl er wusste, dass er sich damit wenig Freunde machte.
Seither kam an Literatur über den Ersten Weltkrieg zwar manches Neue, aber kaum etwas Gleichwertiges oder gar Besseres hinzu. Unter den Neuerscheinungen ist nur Niall Ferguson mit seinem Buch „Der falsche Krieg“, (Stuttgart 1999) und Christopher Clark mit „Die Schlafwandler“ (München 2013) hervorzuheben; in beiden Werken wird der Nachweis geführt, dass der Erste Weltkrieg weder ‚unvermeidlich’ noch gar ‚notwendig’ war, sondern aus hysterischen und wahnhaften Projektionen, vornehmlich des britischen Auswärtigen Amtes, und den daraus folgenden geheimen Absprachen mit Frankreich und Russland entstanden ist. Ähnlich wertet auch Patrick Buchanan, „Churchill, Hitler und der unnötige Krieg“ (Selent 2008).
In sieben Kapiteln soll hier nun den verschlungenen Pfaden nachgegangen werden, die schließlich in den Ersten Weltkrieg einmündeten.
1. Das Spiel beginnt. Der russisch-japanische Krieg von 1904/05
Als man 1896 in Deutschland das ‚Friedensfest’ zum Gedenken an die Reichsgründung vor 25 Jahren feierlich beging, da gab es wohl kaum einen Zeitgenossen, der ahnte, dass es mit dieser Friedensepoche bald ein Ende haben werde, allen ‚Friedenslinden’ zum Trotz, die in Städten und Dörfern nach 1871 gepflanzt wurden.
Auch noch 1913, als Kaiser Wilhelm II. sein 25-jähriges Thronjubiläum feierte, war viel von Frieden die Rede, obwohl sich der Horizont mittlerweile sehr verfinstert hatte. Zwischen 1896 und 1913 stellte sich nämlich zum Nachteil des Deutschen Reiches die politische Großwetterlage gänzlich um.
Diese Veränderung begann 1898. In diesem Jahr trug der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain der deutschen Regierung ein Bündnis an, was von 1898 bis 1901 zu den später so oft zitierten ‚deutsch-englischen Bündnisverhandlungen’ führte. Da diese ergebnislos im Sande verliefen, bot sich später eine wohlfeile Gelegenheit, das Liedlein „Hätten man doch damals nur…“ anzustimmen, wonach es keinen Weltkrieg und keine deutsche Niederlage gegeben hätte, wenn die deutsche Politik, genauer: der Kaiser und seine unfähigen Berater, nicht so blind oder machtgierig gewesen wären. Die Kritiker warfen der deutschen Politik vor, eine Position des ‚Alles oder Nichts’ vertreten zu haben. Da ‚Alles’ also der Beitritt Englands zum Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) nicht zu haben war, habe man aus Trotz das ‚Nichts’ in Kauf genommen. Ein Schulbuchautor drückt diesen Tadel, bezogen auf 1901, so aus: Berlin „glaubte, durch Flottenrüstung…England noch gefügiger zu machen und größere Vorteile…aus einem England aufgezwungenen festen Bündnis ziehen zu können“[1]. Das englische Werben aus törichter Selbstüberschätzung schnöde zurückgewiesen! – darauf hat sich die Zunft der Besserwisser verständigt. Allein die Wortwahl ‚ gefügig machen, aufzwingen’ verrät, wer die Schuld an dem kommenden Desaster trug.
Schauen wir uns die ‚deutsch-englischen Bündnisgespräche’ genauer an, so bleibt von der Schulbuchweisheit nichts übrig. Denn erstens war das Angebot nicht im Namen der englischen Regierung ergangen, sondern nur vom Kolonialminister Joseph Chamberlain gekommen, und zweitens hatte Premierminister Robert Salisbury (1895-1902) selbst von einem Abkommen mit Deutschland abgeraten mit dem Argument, es sei für England unvorteilhafter als für Deutschland. Denn Deutschland würde, eingekeilt zwischen der Allianz Frankreich und Russland, viel eher der britischen Hilfe bedürfen als das durch seine übermächtige Flotte geschützte Inselreich. Deutschland wäre daher ein ziemlich wertloser Bündnispartner, und überdies würden sich die ohnehin gespannten Beziehungen zu Frankreich und Russland noch verschlechtern, wenn sich England an Deutschland binde. So war Chamberlains Position von vornherein schwach, als er mit Deutschland ins Geschäft kommen wollte.
Salisbury bestätigte absichtslos die deutsche Einschätzung der Situation; nur die Folgerungen beider Regierungen waren entgegengesetzt. Hieß diese für England, (vorläufig?) kein Bündnis mit Deutschland wegen dessen prekärer Lage zu schließen, so legte die deutsche Regierung größten Wert darauf, dass England offiziell dem Dreibund beitrete; nur ein vom britischen Parlament ratifiziertes und somit öffentlich bekanntes und abschreckend wirkendes Bündnis könne die strategisch ungünstige Mittellage zwischen Frankreich und Russland aufwiegen. Ein solcher Beitritt stand für Großbritannien aus dem oben genannten Grunde jedoch außer Frage. Es war also die unterschiedliche Bedrohungslage, die ein deutsch-englisches Bündnis auf Augenhöhe verhinderte.
Aus deutscher Sicht kam ein Weiteres hinzu: die historische Erinnerung. Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) war in Preußen unvergessen, als dieser Staat gegen drei Großmächte (Frankreich, Österreich und Russland) im Felde stand und nur von England mit Subsidien unterstützt wurde. Dies aus dem einfachen Grunde: Preußen beschäftigte die französische Armee auf dem Kontinent, während sich England die französischen Kolonien in Nordamerika einverleibte. Als dieses Ziel erreicht war, schied England aus dem Krieg aus und ließ Preußen fallen. Preußen fühlte sich damals düpiert und als ‚Festlandsdegen Englands’ missbraucht.
Als Kolonialminister Chamberlain sein ominöses Bündnisangebot unterbreitete, dachte man in Berlin sofort an die Geschichte von 1762. Die englische Weigerung, dem Dreibund beizutreten, war nicht dazu angetan, die alten Ressentiments fahren zu lassen, sondern eher sie neu zu beleben. Sollte sich Preußen-Deutschland wieder in einen Krieg gegen Frankreich und Russland stürzen, nur um England leichter koloniale Erwerbungen in Afrika oder dem Mittleren Osten zu verschaffen?
Außerdem pflegte Kaiser Wilhelm II. freundschaftliche Beziehungen zum Zaren Nikolaus II. und dessen deutscher Gemahlin Alexandra Fjodorowna (Alix von Hessen). Mit beiden war Wilhelm verwandt. Warum sollte er sich gegen ein Land stellen, mit dem man seit den Befreiungskriegen 1813 eng verbunden war?
Dass die deutsche Beurteilung des englischen Angebots richtig war, erwies sich sofort. Denn nachdem Deutschland sich zu einem zweifelhaften Zweckbündnis nicht hatte überreden lassen, fand England in Japan den gewünschten Partner. 1902 kam es zu einem englisch-japanischen Pakt, der zwei Jahre später auf drastische Weise ‚mit Leben erfüllt’ wurde. 1904 überfiel Japan, gedeckt von England, die russische Flotte im Hafen Port Arthur am Pazifik und eröffnete damit den russisch-japanischen Krieg von 1904/05.
Deutschland entzog sich dem britischen Werben; nichts beweist besser, dass weder Kaiser Wilhelm noch seine Regierung 1901 auf einen Krieg gegen Russland erpicht waren. Auch 1905, als Russland nach dem japanischen Sieg in ernsten Schwierigkeiten steckte, nutzte man die Gelegenheit zu einem Befreiungsschlag gegen die französisch-russische Umklammerung nicht. Hätte das Deutsche Reich jemals den „Griff nach der Weltmacht“ – so der Titel einer Propagandaschrift von 1961[2] – im Sinn gehabt, dann hätte ein solcher ‚Griff’ 1905 erfolgen müssen und wäre höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen. Er unterblieb aus schlecht gedankter Friedensliebe, wie das folgende Kapitel zeigen wird.
Eine letzte Frage: Warum war Japan zu etwas bereit, wozu man in Deutschland nicht bereit war? Waren die Japaner klüger, die Deutschen dümmer? Die Antwort ist einfach: Japan hatte, anders als Deutschland, keine revanchelüsterne Großmacht im Rücken, als es seine Armee gegen Russland aufmarschieren ließ. Es konnte also gefahrlos mit den Engländern ins Geschäft kommen. Und zweitens besaß es ein handfestes Kriegsziel: die Mandschurei und Korea den Russen wegzuschnappen. Deutschland dagegen hatte Russland gegenüber keine Expansionswünsche. Aus beiden Gründen blieb Deutschland zunächst unbeteiligter Dritter.
Dass und warum Deutschland 1905 doch noch Partei ergriff und was sich daraus ergab, wird im zweiten Kapitel erläutert.
2. Der Vertrag von Björkö 1905
Der russisch-japanische Krieg von 1904/5 war, was seine diplomatischen Verwicklungen und Begleiterscheinungen betrifft, der interessanteste Krieg des 20. Jahrhunderts. Direkt beteiligt waren nur Russland und Japan, indirekt jedoch auch England als Partner Japans und Frankreich als Partner Russlands. Soweit scheint alles klar zu sein.
Was die Sache so spannend machte, war der Umstand, dass im April 1904 Frankreich mit England die sogenannte ‚Entente cordiale’ (herzliches Einvernehmen) vereinbart hatten, formal eine Interessenabgrenzung der beiderseitigen Einflusszonen in Afrika, informell jedoch ein Bündnis gegen Deutschland. Aus französischer Sicht entstand nun ein Dilemma: Unterstützte man Russland gegen Japan, was etwa von Französisch-Indochina aus leicht hätte geschehen können, so legte man sich auch gegen England fest, mit dem man gerade erst die Entente geschlossen hatte. Ließ man Russland aber im Stich, so zerbrach möglicherweise der Zweibund von 1894.
Was also war zu tun? In Paris kam man zu dem Schluss, die neue Freundschaft mit England sei höher einzuschätzen als das alte Bündnis mit Russland. Man vertraute darauf, dass die Ländergier der Panslawisten und ihr eingewurzelter Hass auf Österreich und Deutschland auf Dauer stärker seien als die zeitweilige Enttäuschung über das französische Desinteresse an Russlands Kriegsglück. Man kannte wohl in Paris das panslawistische Credo, die „Russische Geographie“, wonach sieben Ströme zu Mütterchen Russland gehörten, nämlich Elbe, Newa, Euphrat, Nil, Wolga, Donau und Ganges. Da war für die panslawistische Agitation noch viel zu tun, und so glaubte man in Paris nicht zu Unrecht, Russland werde trotz allem am Bündnis mit Frankreich festhalten.
Auch in Berlin verfolgte man aufmerksam den Kriegsverlauf und seine diplomatischen Verwerfungen. Die deutsche Regierung und der Kaiser glaubten die Chance zu erkennen, durch nichtmilitärische Hilfe den Russen beizuspringen und sich als der bessere Bündnispartner zu empfehlen. Denn nachdem die russische Pazifikflotte vor Port Arthur gesunken war, dem Hafen, den Russland erst 1898 von China ‚gepachtet’ hatte, musste die ‚Baltische Flotte’ von der Ostsee an den Kriegsschauplatz geschickt werden. Auf dem Wege dorthin versenkten im Oktober 1904 russische Kriegsschiffe in der Nordsee englische Fischerboote, die sie irrtümlich für japanische Torpedoboote gehalten hatten (‚Doggerbank-Zwischenfall). Es gab zwei Tote und mehrere Verletzte. Die englisch-russischen Beziehungen wurden dadurch noch frostiger. Kaiser Wilhelm nutzte diese Gelegenheit, um Ende Oktober 1904 dem bedrängten Zaren ein Bündnis Russland-Deutschland-Frankreich vorzuschlagen, den sogenannten ‚Kontinentalblock’. Er hoffte, die antibritische Stimmung in Russland wäre diesem Vorhaben günstig. Zar Nikolaus II. bat den Kaiser, ihm einen Entwurf für ein deutsch-russisches Bündnis vorzulegen. Das geschah. Der Beitritt Frankreichs blieb noch offen, aber Russland sollte in Paris dafür werben. Dort aber hielt man vom ‚Kontinentalblock’ gar nichts, und so verlief das Projekt fürs erste im Sande und der Krieg ging in sein zweites Jahr.
England hatte den Suezkanal für Kriegsschiffe gesperrt, so dass die russische Baltikum-Flotte um ganz Afrika herum in Richtung Japan dampfen musste. Acht Monate brauchte sie dazu. Unmengen von Kohle mussten verfeuert werden, aber weder England noch der Bündnispartner Frankreich waren bereit, von ihren zahlreichen Stützpunkten aus den Russen diese Kohle zu liefern. Hier witterte der Kaiser seine zweite Chance. Deutschland würde die dringend benötigte Kohle liefern! HAPAG-Lloyd wurde angewiesen, die erforderliche Infrastruktur bereitzustellen. Auch politisch stellte er sich offen als Parteigänger Russlands dar, prägte das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“, die ganz Europa bedrohe, und fertigte selbst eine Skizze an, welche die europäischen Völker, brüderlich vereint gegen diese tödliche Gefahr, darstellte.
In der Tat war es das erste Mal, dass eine europäische Großmacht von einer nichteuropäischen zu Lande und zu Wasser vernichtend geschlagen wurde. 1905 stand das Zarenreich ohne Flotte da, denn auch die Baltische Flotte war bei Tsushima versenkt worden. Die englische Rechnung, die Japaner die Drecksarbeit machen zu lassen, war also glatt aufgegangen!
Für den Augenblick schien es daher so, als habe Russland in Deutschland einen neuen Partner anstelle Frankreichs gefunden. Wilhelm II. verabredete mit seinem Vetter Nikolaus II. die enge politische Zusammenarbeit, die im Oktober 1904 noch nicht möglich gewesen war. Bei nächster Gelegenheit sollte diese mit einem förmlichen Vertrag besiegelt werden. Man begegnete sich in Björkö.
Björkö ist ein finnisches, früher russisches Hafenstädtchen, wo Kaiser Wilhelm auf seiner alljährlich stattfindenden Nordlandfahrt mit seinem Vetter im Juni 1905 zusammentraf. Hier wurde nun jener deutsch-russischer Beistandspakt unterschrieben, der nach den Worten Kaiser Wilhelms „ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden ist, dank der Gnade Gottes, und eine große Erleichterung der Lage für mein theures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien-Russland befreit werden wird… Der 24. Juli 1095 ist ein Eckstein in der europäischen Politik und schlägt ein neues Blatt der Weltgeschichte um; es wird ein Kapitel des Friedens und Wohlwollens unter den Großmächten des europäischen Kontinents sein, die einander respektieren werden in Freundschaft, Vertrauen und in Verfolgen einer allgemeinen Politik in der Richtung einer Interessengemeinschaft“.[3]
Wäre dieser letzte Satz aus dem Munde eines hochrangigen EU-Politikers, etwa des Kommissionspräsidenten Barroso oder des EZB-Chefs Draghi gekommen, dann würde man ihn aus Ausweis wahrhaft europäischer Gesinnung und Verantwortung gepriesen haben; nun aber, da ihn der deutsche Kaiser, jener säbelrasselnde Pickelhauben-Militarist und Watschenmann des linken Spießers, gesprochen hat, kann man ihn nur mit betretenem Stillschweigen übergehen. Wie dem auch sei: Nach menschlichem Ermessen stand mit dem Vertrag von Björkö dem europäischen Kontinent also eine langdauernde Friedensepoche bevor.
Deprimiert durch die russischen Niederlagen hatte der Zar den ‚Vertrag von Björkö’ unterzeichnet. Nun besaß Russland zwei Verträge, einen mit Deutschland, der den Frieden in Europa sichern sollte und einen älteren mit Frankreich, der einen Krieg mit Deutschland zum Ziel hatte. Welcher Vertrag würde nun gelten? Die russische Regierung vermied nach außen hin eine klare Entscheidung, indem sie erklärte, der Vertrag von Björkö könne ihrer Ansicht nach nur Geltung erlangen, sofern Frankreich zustimme. Man wusste natürlich vom ersten Versuch her, dass Frankreich diese Zustimmung verweigern würde, da es mit Russland nur paktiert hatte, um Deutschland in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Da dieser Krieg aber durch den Vertrag von Björkö vereitelt würde, musste dieser ungeschehen gemacht werden. Und so kam es denn auch. Die russische Regierung teilte der deutschen mit, dass da Frankreichs Zustimmung fehle, der Vertrag von Björkö leider nicht in Kraft treten könne.
Der Vertrag verschwand sang- und klanglos in der Schublade. Dem schwachen Zaren war das Ganze höchst peinlich, aber gegen die einflussreiche Kriegspartei in seinem Lande war er schon 1905 machtlos und blieb es bis zu seinem Sturz 1917. Kaiser Wilhelm II. war um eine bittere Erfahrung reicher: Seine Parteinahme für Russland hatte ihm keinen neuen Freund, sondern nur einen neuen Gegner eingebracht, nämlich Japan.
Hätte Deutschland tatsächlich den „Griff nach der Weltmacht“ gewagt, wie ein bekanntes Buch von 1961 seinen Lesern weismachen wollte, hätte der Kaiser dann eine solche Politik betrieben? Einem strauchelnden Russland wieder auf die Beine zu helfen, anstatt das Zarenreich oder seinen Bundesgenossen Frankreich in einem entschlossenen Schlag niederzuwerfen? Schon diese Frage beweist, wie absurd die These dieses kläglichen Buches ist.
Der russisch-japanische Krieg hat aber noch eine letzte, für deutsche Beobachter immer noch schwer begreifliche Pointe: Der Weltgegensatz, dessentwegen man gerade noch einen Krieg mit weit mehr als Hunderttausend Toten geführt hatte, war kaum zwei Jahre später wie von Geisterhand weggezaubert. 1907 waren alle Kriegsgegner von 1904/05 ein Herz und eine Seele, England hatte seine Entente mit Frankreich geschlossen, Frankreich belebte seine Entente mit Russland wieder, 1907 folgte die Entente England-Russland und selbst Japan entdeckte im gleichen Jahr Russland als neuen Verbündeten. Anders gesagt: Die vier Mächte begruben ihre Streitigkeiten, um für den großen Kampf gegen Deutschland die Hände frei zu haben. Die Einkreisung war perfekt.
Der Vertrag von Björkö macht mit aller Deutlichkeit klar: Paris und St. Petersburg hatten 1905 die Wahl, zusammen mit dem Deutschen Reich den Frieden in Europa zu sichern oder aber ihre politischen Ziele weiter zu verfolgen, die ohne Krieg nicht zu verwirklichen waren: nämlich auf Seiten Frankreichs den Revanchekrieg gegen Deutschland zu führen, und auf Seiten Russlands die panslawistischen Träume auf Kosten Österreich-Ungarns und Deutschlands wahr zu machen. Beide Staaten entschieden sich in diesem welthistorischen Augenblick für Krieg. ‚Björkö’ durfte also nicht Wirklichkeit werden.
Die Schulbücher haben für diesen dramatischen Augenblick natürlich keinen Sinn und keinen Platz. Denn hätte man ihn erwähnt, dann wäre die simple Selbstbezichtigung, zu der sich die deutschen Autoren in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Besatzungsdirektiven von 1945 offenbar immer noch genötigt fühlen, schwierig geworden. So verfiel der Vertrag von Björkö der Einfachheit halber der schon aus der römischen Kaiserzeit geläufigen ‚Damnatio Memoriae’ (Tilgung unliebsamer Tatsachen oder Personen aus dem Gedächtnis). Wenn er überhaupt genannt wird, dann nur wegen seiner Nicht-Geltung.
Und auch ein weiterer Ausspruch des Kaisers vom März 1905 stört das Bild: „Das Weltreich, das ich mir erträumt habe, soll darin bestehen, daß…das Deutsche Reich von allen Seiten das absolute Vertrauen eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn genießt“. Ausgerechnet Kaiser Wilhelm soll das gesagt haben? Unerhört!
Aber auch das dreibändige, über 4000 Seiten umfassende Werk des deutsch-britischen Historikers John Röhl[4] kommt über hämische und grob verzerrende Bemerkungen zu Björkö nicht hinaus. Der Vertrag von Björkö, der objektiv gesehen dem Kontinent zwei Weltkriege erspart hätte, ist bei ihm nur „der unrühmliche Höhepunkt der persönlichen Diplomatie Kaiser Wilhelms“, welche – fast möchte man sagen: verdientermaßen – im „Fiasko“ endet oder auch „im Sande verläuft“. Was auch immer Kaiser Wilhelm anpackt, es muss natürlich mindestens „unrühmlich“ sein. Röhls Darstellung liegt nämlich folgende Denkfigur zugrunde:
Vertrag von Björkö = Sicherung des Friedens = weitere Stärkung der deutschen Hegemonie über Europa = Abhängigkeit der europäischen Staaten von Deutschland = Unheil und Verderben.
Im Umkehrschluss heißt das:
Ablehnung des Vertrags von Björkö = Weltkrieg = Zertrümmerung der deutschen Hegemonie = Freiheit für Europa.
So gesehen ist die Herbeiführung eines Koalitionskrieges das Ziel jeder vernünftigen englischen Politik, die sich gegen Deutschland behaupten will, und so darf sich auch Röhl über das „Fiasko von Björkö“ nur freuen! Und auch darüber, dass die russische Regierung den Vertrag von Björkö für eine „große Dummheit“ hielt und für einen „Verrat an Russlands Bündnispartner Frankreich bzw. als Hinnahme der deutschen Hegemonie in Europa“.[5] Von ‚Verrat’ kann Röhl aber nur sprechen, weil er stillschweigend (und übrigens zu Recht) annimmt, dass der Krieg gegen Deutschland das Ziel der französischen Politik war. Röhl propagiert hier nichts weiter als die damalige britische Politik in der Tarnkappe der Geschichtswissenschaft: Wer den Krieg gegen Deutschland ablehnt, der ist für ‚Hinnahme der deutschen Hegemonie’; das ist eine von Röhls unfreiwillig demaskierenden Aussagen, denn sie straft seine Kernthese Lügen, wonach Kaiser Wilhelm selbst der Hauptverursacher des Weltkriegs gewesen sei.
Die Franzosen würden dem Zaren auch nie den Kredit von 2 ¼ Mrd. Francs bewilligen, wenn Russland sich mit Deutschland auf einen Freundschaftspakt einließe. Wozu diese Milliarden dienen sollten, sagt Röhl nicht; es sei hier daher nachgetragen: zur Aufrüstung Russlands und insbesondere zum Ausbau des Bahnnetzes an der russischen Westgrenze, um den Aufmarsch des russischen Millionenheeres schneller bewerkstelligen zu können. Wie gut diese Milliarden angelegt waren, zeigte sich dann im August 1914, als die Russen bereits zwölf Tage nach Kriegsbeginn sengend und brennend in Ostpreußen einfielen. Wollte man den Krieg gegen Deutschland, dann war es in der Tat „eine große Dummheit“, sich diese Milliarden entgehen zu lassen.
Dass dann aber ausgerechnet Wilhelm II. diesen Krieg verschuldet haben soll, wo doch laut Röhl der Vertrag von Björkö deswegen abzulehnen war, weil er den Deutschen eine gefährlich lange Friedenszeit zum weiteren Ausbau ihrer dominierenden Stellung in Europa beschert hätte, das ist der große Widerspruch, den bisher keiner der politisch korrekten Geschichtsdeuter erkannt hat oder gar aus der Welt schaffen konnte.
3. Die Ängste des Sir Eyre Crowe 1907
Eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten im britischen Außenministerium während der Amtszeit von Sir Edward Grey (1905-1916) war Sir Eyre Crowe (*1864 in Leipzig +1925). Obwohl (oder: weil?) er in Deutschland geboren war, eine deutsche Mutter und eine deutsche Ehefrau hatte, machte er sich bald einen Namen als „wütender Deutschenhasser“.[6] Im „Britischen Pantheon der Deutschenhasser nahm er den ersten oder einen der ersten Ränge ein“, so urteilt heute ein holländischer, in den USA lebender Historiker. Aber bereits 1928 fällte der US-Historiker S. B. Fay über Crowes diplomatische Fähigkeiten ein vernichtendes Urteil. Crowe, der wegen seiner Herkunft als untrüglicher Deutschlandexperte galt, „war stets geneigt, haltloses Geschwätz für die Wahrheit des Evangeliums zu nehmen“, wenn es darum ging, die deutsche Politik anzuschwärzen und deutsche Politiker zu verleumden. Crowe habe, anstatt „intelligente und überzeugende Analysen“ der internationalen Lage zu erstellen, nur „unpassende Schuljungen-Ergüsse von Galle, Wut und Gift produziert“.[7] Das mag sein, aber gerade wegen der perfiden Art seiner ‚Analysen’ war Crowe damals der einflussreichste Beamte im britischen Außenministerium.
Die negativen Einschätzungen Crowes aus heutiger anglo-amerikanischer Sicht lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber man fragt sich: Wie konnte ein solcher Mann an die Schalthebel der Macht gelangen? Er wurde zwar nie selbst Außenminister, was er beharrlich anstrebte, aber als Unter-Staatssekretär des Auswärtigen Amtes leitete er dessen Westeuropa-Abteilung und über seinen Schreibtisch liefen alle Botschafter-Papiere. Das gab ihm die Gelegenheit, die eingehenden Berichte mit gehässigen Anmerkungen („hostile dissection“) zu versehen und so seinen Chef, den Außenminister Grey, im gewünschten Sinne zu beeinflussen.
Die Frage muss offen bleiben, ob Grey erst durch Crowes ständige Einflüsterungen auf seinen antideutschen Kurs gebracht wurde oder ob er Crowe gerade wegen seiner bekannten Einstellung zu seinem Unterstaatssekretär machte. Das letztere ist wahrscheinlicher.
Betrachten wir Crowes ‚Analysen’ einmal genauer, so werden wir feststellen, dass Fays Urteil völlig zutrifft: „Verglichen mit Crowe war Herr von Holstein (die ‚graue Eminenz’ im deutschen Auswärtigen Amt, in gewisser Weise ein Gegenspieler von Crowe) ein Sonntagsschullehrer“. Wie infam Crowe zu Werke ging, um die deutsch-englischen Beziehungen nachhaltig zu vergiften, zeigt ein gründlicher Blick in seine berüchtigten ‚Memoranden’.
Zu nennen sind hier vor allem drei Memoranden: eines vom 1.1.1907, ein weiteres vom 20. 10. 1910 und ein drittes vom 14.5.1911.[8] In ihnen stellt Crowe seine Sicht der Weltlage in aller Deutlichkeit vor.
Basis seiner Überlegungen ist das sogenannte ‚Gleichgewicht der Kräfte’, ein Prinzip, das „Englands hundertjährige Politik“ bestimmt habe und daher „fast ein historischer Gemeinplatz“ geworden sei. Dieser Hinweis ist für Crowe insofern nützlich, als bei einem Gemeinplatz der Leser nicht nach den Implikationen dieses schillernden Begriffs fragen wird, insbesondere wird ihm nicht auffallen, dass Großbritannien für sich selbst dieses Gleichgewicht der Macht nicht gelten lässt. Denn Englands Stellung in der Welt ist „untrennbar mit dem Besitz übermächtiger Seeherrschaft verbunden“. Diese Dominanz sollte, wie die Admiralität 1908 verlauten ließ, bei Bedarf so eingesetzt werden, dass „die Räder unserer Seemacht die deutsche Bevölkerung immer kleiner mahlen würden – früher oder später würde auf den Straßen Hamburgs Gras wachsen…“.[9] Ein so famoses ‚Gleichgewicht’ beizubehalten war natürlich aus englischer Sicht erstrebenswert.
Bei einem Gemeinplatz wird der Leser wird auch nicht danach fragen, wie oder von wem dieses ‚Gleichgewicht der Macht’ ermittelt wird. Etwa, ob dieses ominöse ‚Gleichgewicht’ nur die Anzahl der Kanonen, der Panzerkreuzer und Soldaten eines Landes in Rechnung stellt oder auch das wirtschaftliche Potential? Die Menge der geförderten Kohle, des erzeugten Stahls, die Anzahl der Patente und Erfindungen, die Geburtenrate, den Anteil am Welthandel, die Höhe der Exportüberschüsse, die Größe der Handelsflotte, die Länge des Eisenbahnnetzes usw.? Legte man dies alles auf die imaginäre Londoner Waagschale, dann störte in der Tat das Deutsche Reich das ‚Gleichgewicht’ empfindlich, seit es 1871 geeint war und sich wirtschaftlich eindrucksvoll entwickelte, vor allem, wenn man diese Entwicklung mit britischen Augen betrachtete. Die deutsche Volkswirtschaft wuchs, und der Ausweg, deutsche Waren ab 1887 mit dem erzwungenen Etikett ‚Made in Germany’ zu versehen und Deutschland so den Makel eines drittklassigen Ramschproduzenten anzuhängen, schlug ins Gegenteil um: ‚Made in Germany’ wurde weltweit rasch zum Gütesiegel! Mit Diffamierung allein war dem deutschen Aufstieg also nichts anzuhaben.
Was also war zu tun? Sollte man die Deutschen dafür bestrafen, dass sie fleißiger, tüchtiger, einfallsreicher waren als andere? Mit anderen Worten: Dass sie ‚das Gleichgewicht’ störten?
Höchst bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Äußerungen des britischen Premierministers Arthur Balfour (1902-05) gegen über dem US-Botschafter in Paris Henry White, die dessen Tochter notierte: Sie schreibt: „(Balfour:) Wir sind wahrscheinlich Deppen, weil wir es nicht fertig bringen, einen Grund für eine Kriegserklärung an Deutschland zu finden, bevor es zu viele Schiffe baut und uns den Handel wegnimmt. (White:) In Ihrem Privatleben sind Sie ein Mann mit hohen moralischen Prinzipien. Wie…können Sie etwas so Unmoralisches wie die Anzettelung eines Kriegs gegen ein harmlose Nation in Betracht ziehen…? Wenn Ihr mit dem deutschen Handel konkurrieren wollt, müsst Ihr eben härter arbeiten. (Balfour:) Dies liefe auf eine Senkung unseres Lebensstandards hinaus. Vielleicht wäre ein Krieg für uns einfacher. (White:) Ich bin schockiert, dass ausgerechnet Sie solche Grundsätze vertreten. (Balfour:) Ist das denn eine Frage von Recht oder Unrecht? Vielleicht geht es einfach darum, unsere Überlegenheit zu wahren“.[10]
Ja, nur durch einen Krieg ließe sich die Kraftmaschine in der Mitte Europas noch lahm legen, dies war auch Crowes feste Überzeugung. Aber so deutlich wollte er seinen Ratschlag nicht formulieren. Er musste erst einmal die deutschen Angebote einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit England dem bösen Verdacht arglistiger Täuschung aussetzen. Jede deutsche Geste in dieser Richtung beweise nur, dass Deutschland seine Gegner in Sicherheit wiegen wolle, bis es schließlich in der Lage sei, auch „das britische Reich zu zerstückeln und zu verdrängen“.
Crowes Fazit, das er aber anderen in den Mund legt: „Das ist die Ansicht derer, die in der ganzen Richtung der Politik Deutschlands den schlüssigen Beweis dafür erblicken, daß es bewußt die Errichtung einer deutschen Hegemonie, zuerst in Europa und schließlich in der Welt, anstrebt“. Er selbst konnte diesen ‚schlüssigen Beweis’ natürlich nicht erbringen.
Dieses unersättliche Deutschland wird also, falls man es nicht mit Krieg überzieht, sich alles unterwerfen : „…spanische Inseln, portugiesische Inseln, holländische Inseln, griechische oder türkische Inseln, marokkanische Häfen, ja geradezu jeden denkbaren Stützpunkt“; und Unterstaatssekretär Robertson sekundierte: „Deutschlands Ambitionen, ein Reich zu errichten, das sich über
ganz Europa, die Nordsee, die Ostsee, das Schwarze Meer und die Ägäis hinweg sowie möglicherweise sogar bis zum Persischen Golf und zum Indischen Ozean erstreckt, sind seit mindestens 20 Jahren oder mehr bekannt“.[11]
Somit ist geklärt: Frieden und gutes Einvernehmen mit Deutschland darf es nicht geben, sondern es muss zum Krieg kommen! Dieser Krieg muss aber vor der Welt sehr gut gerechtfertigt werden; es darf nicht danach aussehen, als wolle England nur einen lästigen (Wirtschafts-)Konkurrenten ausschalten, nein, man muss vorgeben, Deutschland bedrohe die höchsten Güter und Werte der Menschheit! Denn nur auf diese Weise ist es den eigenen Leuten und dem Rest der Welt zu vermitteln, dass eine friedliche Verständigung mit Deutschland zum Triumph der unerträglichsten Barbarei führen werde und somit völlig ausgeschlossen sei.
Bei Crowe liest sich das dann so: „Eine Vereinbarung, die Enthusiasten ohne große politische Erfahrung sich vielleicht berechtigt fühlen würden als ein Übereinkommen zur Abschaffung des Krieges zwischen den drei Großmächten zu bezeichnen, könnte auf den ersten Blick als ein Triumph der internationalen Gerechtigkeit und des menschlichen Fortschritts erscheinen. Ich glaube, eine solche Schlussfolgerung wäre ein Trugschluß.
Kein Staat hat das Bestreben oder den Wunsch, zum Krieg zu schreiten. Das Bestreben ist darauf gerichtet, gewisse politische Ziele zu erreichen, die unter bestimmten Verhältnissen mit oder ohne Anwendung von Gewalt erreichbar sein mögen. Wenn ohne Anwendung von Gewalt, dann um so besser für den Staat, der das besondere Ziel anstrebt. Jede Macht muß es offensichtlich vorziehen, die Ziele ihrer Politik ohne die übermäßigen Opfer an Gut und Blut und ohne das weitverzweigte übrige Elend zu erreichen, welche ein Krieg zur Folge hat. Wird dies vollbracht, so wird man ohne Zweifel Befriedigung darüber empfinden, daß ein Krieg vermieden wurde.
Wie aber, wenn das angestrebte und ohne Krieg erreichte Ziel eines ist, das an sich schon den Frieden der Welt, die Unabhängigkeit der freien Gemeinschaften, die Rechte und Freiheiten zivilisierter Völker gefährdet? In diesem Fall wirkt sich das Ausbleiben eines Krieges, da es das Ergebnis eines Verbotes kriegerischer Maßnahmen zur Verteidigung von Recht und Gerechtigkeit ist, nicht als Fortschritt der Zivilisation aus, sondern als Aufmunterung zur Eroberung und Unterdrückung. Die Abschaffung des Krieges wäre zu teuer erkauft worden“.
Im Klartext: Die Welt steht vor der Alternative: Entweder wird Deutschland durch Krieg unschädlich gemacht, oder das finstere teutonische Monster versklavt die zivilisierten Völker der Welt und ruiniert die abendländische Kultur! Ohne Krieg gegen Deutschland sind „Recht und Gerechtigkeit“ nicht zu verteidigen.
Bei solch bedrückender Alternative kann es für einen Mann von Ehre kein Zaudern und Bedenken geben. Crowe kommt daher zu dem Schluss: „Großbritannien würde das Gleichgewicht entscheidend an dem Tag umstoßen, an dem es durch Unterschrift das Recht preisgäbe, gegen irgend einen besonderen Staat in der Stellung, die Deutschland zur Zeit einnimmt, Gewalt zu gebrauchen“.[12] Unbeabsichtigt verrät Crowe durch seine Wortwahl nebenbei auch, wie er denkt. Welche höhere Instanz hatte England denn das ‚Recht’ verliehen, gegen Deutschland ‚ Gewalt zu gebrauchen’, nur weil es ein imaginäres, von London definiertes Gleichgewicht störte? Crowe setzt ‚Recht’ gleich mit ‚britische Interessen’. Damit fügt er sich gut in die Maximen der britischen Politik ein, die eigenen Interessen stets als Wahrung des Völkerrechts auszugeben.
Dass es in diesem Kriege um nichts Geringeres ginge als um die höchsten Werte der Menschheit, das betonte später die englische Weltkriegspropaganda unablässig und das bezeugen noch heute viele Ehrenmäler in England, auf denen zu lesen steht, die Gefallenen hätten „ihr Leben für die Menschheit hingegeben“ oder sie seien „für die heilige Sache der Gerechtigkeit und die Freiheit der Welt“ gestorben. Schließlich hatte England, wie 1919 die Victory Medal besagt, den Weltkrieg nicht für eigene Interessen, sondern „für die Zivilisation“ geführt.[13]
Heute wissen wir: Die britischen Gefallenen waren die Opfer einer von Crowe und anderen geschürten Wahnvorstellung. Wir verlassen nämlich bei der Betrachtung der Croweschen Memoranden den festen Boden nüchterner Politik und müssen uns auf das schwankende Terrain der Psychologie bzw. Psychopathologie begeben. Crowe und seine Mitstreiter litten an Germanophobie, so wie andere an Platzangst oder Spinnenphobie leiden. Solchen Phobien ist, wie die Erfahrung lehrt, mit Gutzureden und Argumenten nicht beizukommen. Es war demnach auch vergebliche Liebesmüh’, als der deutsche Kaiser höchst selbst den Engländern die Zwangsvorstellung nehmen wollte, die Deutschen planten für den künftigen Krieg bereits eine Invasion Englands. Subjektiv, also im Denken und Planen der deutschen Verantwortlichen in Marine und Politik, finden sich für eine solche Phobie keinerlei Anhaltspunkte, und auch objektiv, also von der materiellen Durchführbarkeit her, war ein solches Vorhaben ein Ding der schieren Unmöglichkeit. Nichtsdestoweniger geisterte die Mär einer tödlichen Bedrohung, die allgegenwärtige ‚German menace’, durch die Londoner Redaktions- und Amtsstuben, und da durften auch die 40000 als Kellner, Gärtner oder Laufburschen getarnten deutschen Spione nicht fehlen, die im Stillen ihr teuflisches Unwesen zum Verderben Großbritanniens trieben.
All dies ist mit dem Instrumentarium der Geschichtswissenschaft nicht mehr zu handhaben. Ohne Crowes Namen zu nennen, brachte es der Historiker Golo Mann im Blick auf die Julikrise 1914 auf den Punkt: „Dadurch, daß ein paar österreichische Divisionen ein paar Monate lang in Belgrad Unfug trieben, um es dann doch wieder zu räumen, konnte das Gleichgewicht nur in der Phantasie dürrer Diplomatenhirne bedroht sein. So weise kann man es nachträglich leicht sehen. Aber so sah man es nicht in der vergifteten, verblödeten Atmosphäre von Anno Domini 1914“.[14]
Zu dieser vergifteten, verblödeten Atmosphäre hat Sir Eyre Crowe, nicht das einzige jener dürren Diplomatenhirne im britischen Außenministerium, nach Kräften das Seine beigesteuert.
4. Die sogenannte Haldane-Mission von 1912
Im Januar 1912 besuchte der britische Kriegsminister Sir Richard Haldane (1905-1912) auf Einladung Kaiser Wilhelms Berlin. Über die Bedeutung dieses Besuchs war man sich schon damals klar, und in der Folgezeit wurde die ‚Haldane-Mission’ geradezu zu einem schicksalhaften Kulminations- und Wendepunkt der deutschen Geschichte stilisiert. Stand man dem Kaiser und der Tirpitzschen Flottenpolitik nahe, dann fand man in der Tatsache, dass sich der englische Kriegsminister nach Berlin bequemt hatte, den Beweis für die Richtigkeit der These der ‚Flottenpartei’, nur eine starke deutsche Flotte werde England verhandlungsbereit machen. Zählte man zu den Kritikern des Kaisers, so war der Haldane-Besuch Englands letzte Warnung: Treibe Deutschland die Flottenrüstung weiter, so werde England sich dem Zweibund Frankreich-Russland anschließen müssen. 1914 schien sich die letztere Sicht bewahrheitet zu haben, und so lautete das bis heute kolportierte Verdikt: Wilhelm II. und Admiral Tirpitz, sein böser Geist, hätten durch ihre törichte Großmannssucht die Weltkriegsallianz gegen Deutschland zustande gebracht und seien daher für alle üblen Folgen verantwortlich.
Hier liegt einer der ganz seltenen Fälle vor, dass keine der Parteien Recht hat, die Wahrheit aber auch nicht in der Mitte liegt. Beide irrten darin, dass sie die Bedeutung der deutschen Flottenrüstung weit überschätzten. Auf diese Flotte kam es nämlich gar nicht an, weder im Positiven noch im Negativen. Weder wurde England durch sie gesprächsbereit gemacht, noch zwang sie England ins gegnerische Lager. Auch im Krieg selbst spielte die Flotte keine Rolle. Abgesehen von der – für den Kriegsverlauf belanglosen – Skagerrakschlacht 1916 trat sie bis zur Meuterei der Matrosen 1918 überhaupt nicht in Erscheinung und belegt allein dadurch, dass sie zwar des Kaisers liebstes Steckenpferd, ansonsten aber teurer Humbug war.
Dass die deutsche Flottenrüstung einen derartigen Stellenwert in der Nachkriegsdiskussion erhielt, lag daran, dass sie ein eingängiges Erklärungsmuster für schlichte Denker abgab. Man hatte eine Ursache gefunden und einen Schuldigen ausgemacht, das vereinfachte das Weltbild ungemein, vor allem für die volkspädagogisch tätigen Schulmeister.
Dieses Bild war grundfalsch. Dafür hat ausgerechnet Adolf Hitler, der ja nach eigenem Bekunden aus der Geschichte, d.h. aus den angeblichen Fehlern Wilhelms II., lernen wollte, den Nachweis geliefert. Denn bekanntlich hat Hitler die ihm 1935 von den Engländern zugebilligten 35% an Kriegsschiffen, bezogen auf die britische Flotte, nie gebaut, um England nicht zur See herauszufordern. Umso fassungsloser war er, als er im September 1939 dennoch die englische Kriegserklärung in Händen hielt; zu spät merkte er, dass auch ihn die Schulbuchweisheit in die Irre geführt hatte.
Worum aber ging es dann bei der Haldane-Mission, wenn nicht um die deutsche Flotte? Es ging um die strategische Grundsatzentscheidung zum Bau dieser Flotte. Admiral Tirpitz, ihr Schöpfer, hatte immer wieder die Flottenrüstung damit begründet, Deutschland bedürfe einer „Risikoflotte“, einer Flotte also, die anzugreifen für England ein zu hohes Risiko bedeute; England werde durch sie aus einem Krieg, den Deutschland gegen Frankreich und/oder Russland führen müsse, herausgehalten, d.h. notfalls zur Neutralität gezwungen.
Die Frage war: Konnte man dasselbe Ziel, nämlich England aus einem Kontinentalkrieg herauszuhalten, auch anders erreichen, etwa durch Verhandlungen? Die Regierung des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg wollte diesen Weg beschreiten, und so hatte man schon vor 1909 den Engländern wechselseitige Neutralität angeboten. Allerdings vergeblich! Der damalige Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Charles Hardinge, bezeichnete jedes deutsche Angebot als „eine Falle“, in die England nicht hineintappen dürfe. Er warnte die englische Regierung vor einer Neutralitätspolitik mit folgenden Worten: „Der gefährliche Charakter (des deutschen Vorschlags) muss enthüllt werden und man muss sich die verheerenden Folgen, die seine Annahme zeitigen würde, vollkommen klar machen“. Denn: „Die Grundlage des vorgeschlagenen Abkommens war die, daß entweder eine politische ‚Entente’ hergestellt werden sollte, oder daß eine Konvention geschlossen werden sollte, gemäß der die beiden Mächte sich…verpflichten sollten:
1. keinen Krieg gegeneinander zu führen,
2. keiner Koalition gegen ein der beiden Mächte beizutreten und
3. eine wohlwollende Neutralität zu beobachten, falls eines der beiden Länder mit irgendeiner anderen Macht…in Feindseligkeiten verwickelt werden sollte“.[15]
In Hardinges Augen waren das alles bestenfalls dreiste Zumutungen, nicht wert, in Erwägung gezogen zu werden. Hardinges Nachfolger im Außenministerium, Sir Eyre Crowe, sekundierte 1911 erwartungsgemäß: „Die vorliegende Anregung ist hinterlistiger, aber doch so offenkundig absurd, dass es kaum glaublich erscheint, dass ein verantwortlicher Staatsmann ihn gemacht haben soll“.[16]
Solchermaßen vorgeprägt, begann Haldane seinen Meinungsaustausch mit Kaiser Wilhelm, Admiral Tirpitz und dem Reichskanzler. Heute weiß man, dass von englischer Seite diese Verhandlungen nur als Scheinveranstaltung gemeint waren. „Einflussreiche Kreise der britischen Staatsführung hatten mit ihrer Politik längst die Neutralität aufgegeben und sich fest an die Seite Frankreichs gestellt. Bereits bevor Haldane London verließ, war die maritime Zusammenarbeit mit Frankreich beschlossene Sache. Und so war seine Reise nicht mehr als ein innenpolitischer Winkelzug. Man ließ ihn gehen, wohl wissend, dass er kaum mit nennenswerten Ergebnissen zurückkehren konnte. Damit wollte man der eigenen Partei (gemeint sind die Liberalen, die mehrheitlich den Kriegskurs nicht unterstützten) demonstrieren, daß man alles versucht habe, um die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern“.[17] Es zeigte sich daher bald, dass die Verhandlungen am toten Punkt angelangt waren. Denn Haldane betonte offen, das Wort ‚Neutralität’ dürfe in keiner Abmachung mit Deutschland vorkommen. Alles, was er versprechen könne, sei, dass England bei einem „unprovozierten Angriff“ auf Deutschland nicht auf Seiten der Gegner Deutschlands eingreifen werde.
Die deutsche Seite entgegnete: Da ‚ unprovozierte Angriffe' zwischen zivilisierten Staaten ohnehin undenkbar seien, müsse diese Formulierung wohl so ausgelegt werden, dass England entscheiden wolle, ob ein Angriff auf Deutschland von diesem selbst provoziert war oder nicht. Diese überaus dehnbare und substanzlose Formel sei kein angemessenes Äquivalent für den Verzicht oder auch nur Verlangsamung der deutschen Flottenrüstung. In der Tat muss man bis ins 17. Jahrhundert, bis zu den Raubkriegen Ludwigs XIV., zurückgehen, um einen ‚unprovozierten Angriff’ zu finden. In der Regel gehen jedem Krieg Spannungen voraus, in denen niemand eindeutig zu sagen wüsste, wer wen zuerst provoziert hat. Aus dem gleichen Grund ist es den Vereinten Nationen bis heute auch nicht gelungen zu definieren, was ein Angriffskrieg sei.
Die Kernfrage lautet daher nicht: Wie viele deutsche Panzerkreuzer waren für England gerade noch hinnehmbar? Ab dem wievielten Schlachtschiff fühlte England sich bedroht? Sondern die Frage ist: Warum war England nicht zur Neutralität in einem Kontinentalkrieg bereit? Die Antwort ist einfach: England wollte an den (geheimen) Abmachungen, die es seit 1904 mit Frankreich und Russland getroffen hatte, unbedingt festhalten. Es dachte an „die verheerenden Folgen“, vor denen Hardinge gewarnt hatte, nämlich die empörte Reaktion in Frankreich und Russland, wenn deren Regierungen aus ihren Wunschträumen aufgeschreckt worden wären. Hätte nämlich England seine Neutralität in einem künftigen europäischen Krieg erklärt, so wäre dieser Krieg ganz unterblieben. Frankreich und Russland hätten ohne englische Unterstützung niemals von sich aus eine aggressive Politik gegen Deutschland betrieben oder gar einen Angriff auf Deutschland unternommen, und von Deutschland wusste man, dass es – eingekeilt zwischen Frankreich und Russland – nicht von sich aus losschlagen würde.
Blieb also England neutral, blieb der Friede erhalten! Russland musste in diesem Falle jedoch seine panslawistischen Gelüste und den Erwerb der Dardanellen und Konstantinopels, Frankreich seine Revanche für 1871 und die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens auf den St. Nimmerleinstag verschieben.
Kurz: In London fürchtete man, Frankreich und Russland würden sich von England verraten fühlen und ihm die Abkehr von der bisherigen Kriegspolitik nicht verzeihen. Es gab sogar Stimmen, die argwöhnten, Frankreich und Russland würden mit Deutschland ihren Frieden machen und dem von Wilhelm II. 1905 favorisierten ‚Kontinentalblock’ doch noch zur späten Verwirklichung verhelfen. Dann wäre England, nicht Deutschland, isoliert gewesen. Das aber durfte nicht sein! Dieser tödlichen Gefahr müsse England begegnen, hieß es in London in gespielter Panik.
Da tat es auch nichts zur Sache, dass ein Bündnis Frankreich-Deutschland-Russland zu keinem Zeitpunkt eine auch nur halbwegs aussichtsreiche Kombination war. Kaiser Wilhelm wurde allgemein belächelt oder gar als tumber Tor verspottet, als er diesen ominösen ‚Kontinentalblock’, gewissermaßen eine Ausgeburt seiner krankhaften Phantasie, 1905 in den diplomatischen Verkehr brachte (vgl. Kap. 2). Nun aber diente der Londoner Kriegspartei dieses wesenlose Hirngespinst dazu, jede friedliche Alternative zur aktuellen britischen Politik als Weg in den Untergang zu diffamieren.
Der britische Außenminister Grey verstieg sich im September 1912 zu der hirnrissigen Prognose: „Wenn Frankreich nicht gegen Deutschland unterstützt wird, dann wird es sich mit ihm und dem Rest Europas zu einem Angriff gegen uns verbinden“.[18] Man fragt sich, ob Grey diesen hanebüchenen Mumpitz selbst glaubte oder nur nach außen hin vertrat, um seine Allianz mit dem revanchelüsternen Frankreich gegen jede Kritik abzuschirmen. Auf jeden Fall zeigt diese windschiefe Argumentation, wie wenig Mühe man sich noch geben musste, um antideutsche Stimmung im Lande zu erzeugen. Je dümmlicher die Parolen, desto wirksamer!
Haldanes Haltung wäre um keinen Deut anders gewesen, auch wenn der Kaiser und Tirpitz kein einziges Schiff gebaut hätten. Crowe selbst bestätigte dies in seinem Memorandum vom 20. 10. 1910, als er schrieb: „Der Kanzler (Bethmann-Hollweg) hat daher recht, wenn er zu verstehen gibt, daß es nicht bloß oder auch nur hauptsächlich die Frage der Flottenrüstung ist, was der derzeitigen Entfremdung zugrunde liegt“.[19] Es war die Bindung Englands an Frankreich und Russland, die jede Friedenspolitik im Ansatz erstickte. England hielt – angeblich um des vielbeschworenen europäischen Gleichgewichts willen – am informellen Bündnis mit Frankreich und Russland fest, auch wenn dadurch der Frieden, den man durch diese Bündnisse angeblich sicherer machen wollte, sehr viel unsicherer und der Weltkrieg schließlich unabwendbar wurde. Niall Ferguson hat diese Politik ironisch so kommentiert: „Großbritannien sollte auf einen zukünftigen Krieg mit Deutschland verpflichtet werden – denn anderenfalls könnte es einen Krieg mit Deutschland geben“.[20] Besser lässt sich die absurde Logik der britischen Außenpolitik nicht charakterisieren, und man muss schon sehr närrisch sein, wenn man diese Politik vernünftig finden und ihr friedliche und auf Ausgleich bedachte Absichten unterstellen will.
5. Die militärische Einkreisung Deutschlands (1905-1914)
Die Haldane-Mission vom Februar 1912 war die letzte erwähnenswerte diplomatische Aktion vor dem Attentat von Sarajewo, an der Deutschland noch teilnahm. Danach gaben die Generalstäbe der Großmächte die Richtung vor.
Die englisch-französische Verständigung über die jeweiligen Einflusszonen und Kolonien in Afrika, die sogenannte ‚Entente Cordiale’ von 1904, zeigt an ihren Folgewirkungen die Gültigkeit des Lehrsatzes: Jede Annäherung zweier bisher rivalisierender Mächte erklärt sich daraus, dass man gemeinsam gegen eine dritte Macht vorgehen will. Diese dritte Macht war das Deutsche Reich. Konsequenterweise wurde ab 1904 der Krieg gegen Deutschland geplant. Ein erster Schritt war 1905 die Verlegung der englischen Mittelmeerflotte in die Nordsee. 1912 ergänzte man dies durch die Vereinbarung, dass die englische
Flotte die französische Atlantikküste abschirmen werde, während alle französischen Kriegsschiffe im Mittelmeer gegen Österreich/Ungarn zusammengezogen werden sollten.
1906 untersuchte der englische Generalstab die Möglichkeit, wo und wie eine Expeditionsarmee in Stärke von 100.000 Mann nach Nordfrankreich gebracht werden könne.
1911 führten die intensiven Kontakte zwischen den Generalstäben Englands und Frankreichs zu dem Ergebnis, dass sechs englische Divisionen an Land gehen sollten.
Am 17.1.1912 konnte der russische Militärattaché in Frankreich seinem Generalstabschef Shilinski erfreut melden, England werde im Kriegsfalle mit 150.000 Mann den Franzosen beispringen. Daraus ergebe sich: „Folglich werden Engländer und Franzosen 25 Korps haben… Die Deutschen aber werden gezwungen sein, drei bis fünf Korps gegen uns zu belassen... Auf diese Weise geht die Übermacht auf die Seite der Engländer und Franzosen über... Frankreich hat zwei mächtige Verbündete, während der Dreibund, wie man sagt, ‚in allen Fugen kracht’“. Zwei Wochen später präzisierte er seine Angaben noch weiter: „Außerdem sagte mir General Joffre (franz. Generalstabschef ab 1911), im Kriegsministerium werde jetzt verstärkt gearbeitet, um vollkommen gerüstet zu sein, falls im Frühjahr Krieg ausbrechen sollte; alles, was die englische Landung betreffe, sei bis auf die kleinsten Einzelheiten vorbereitet, so dass die englische Armee an der ersten großen Schlacht teilnehmen werde“[21]
Im August 1911 konnte der französische Generalstabschef Dubail seinem russischen Kollegen versichern, „dass die französische Armee so schnell aufmarschieren werde wie die deutsche und dass sie am zwölften Tage bereits die Offensive gegen Deutschland mit Hilfe einer englischen Armee auf dem linken Flügel, also an der belgischen Grenze, werde aufnehmen können“.[22]
1912 begannen dann die Verhandlungen über eine französisch-russische Marinekonvention. Gleichzeitig versprach der französische Ministerpräsident Poincaré (1912/13) in St. Petersburg einen französischen Kredit, mit dem der zweigleisige Ausbau der zur deutschen Grenze führenden russischen Bahnlinien finanziert werden sollte. 1913 erhielt Russland weitere 500 Mill. Francs, um dieses Bahnnetz binnen fünf Jahren zu vervollständigen.
Hier sind nur die bekannten Zusagen aufgeführt; was an bisher unveröffentlichten Absprachen vorhanden ist, darüber kann nur spekuliert werden.
Eines aber ist sicher: All diese Aufmarschpläne, Strategiepapiere und Generalstabsbesprechungen verleiteten die öffentliche Meinung Frankreichs und Russlands dazu, den Krieg gegen die Mittelmächte (Deutschland und Österreich/Ungarn) als ein ziemlich risikoloses Lotteriespiel anzusehen, das bei geringem Einsatz höchsten Gewinn versprach. Der englische Botschafter in Paris, Bertie, konnte am 19.2.1913 nach Hause melden: „Theaterdirektoren nützen diesen Hang der öffentlichen Meinung aus und führen Schauspiele ultrapatriotischen Charakters auf. Ein Schauspiel im Theatre Réjane mit dem Titel „Alsace“, das ganz von der Frage „La Revanche“ handelt, ist gegenwärtig eins der beliebtesten Stücke in Paris, und die Tiraden darin gegen Deutschland werden von den Zuhörern mit stürmischen Beifall bedacht“. Ein Beamter im Außenministerium notierte am Rande des Botschaftsberichts:
„Der Jingo-Geist, auf den Sir F. Bertie hinweist, ist eine ausgesprochene Gefahr für den Frieden der Welt“.[23]
Das war in der Tat so, und die Frage stellt sich: Hat Außenminister Edward Grey diese Gefahr nicht erkannt? Oder war ihm der Krieg wichtiger als der Frieden?
Darauf eine Antwort zu geben, ist schwierig. Es gibt Aussagen von Grey, die von einer so unglaublichen Dummheit zeugen, dass man sie zu seinen Gunsten lieber für einen Ausdruck ebenso unglaublicher Verlogenheit halten möchte.
So äußerte er sich am 22. 11. 1912 gegenüber dem französischen Botschafter in London, Cambon, so: „In den letzten Jahren haben sich die französischen und britischen Fachmänner der Marine und des Heeres von Zeit zu Zeit miteinander beraten... Wir sind übereingekommen, dass eine Beratung zwischen Fachmännern nicht als eine Verbindlichkeit anzusehen ist..., die die beiden Regierungen zum Vorgehen in einem Fall verpflichtet, der…vielleicht nie eintreten wird. So beruht z. B. die derzeitige Verteilung der französischen bzw. britischen Flotte nicht auf einer Verpflichtung, im Krieg zusammenzuwirken“.[24] Selbst noch am 1. August 1914, also am Vorabend des Weltkriegs, hielt er Cambon gegenüber an der Fiktion fest, England habe sich zu nichts verpflichtet. Frankreich müsse, so sagte er zu dem verblüfften Botschafter, jetzt eigene Entschlüsse fassen, „ohne auf eine Hilfe zu zählen, die zu versprechen wir jetzt nicht in der Lage wären“. Der konsternierte Cambon erwiderte, er könne auf keinen Fall eine solche Antwort seiner Regierung übermitteln. Grey musste ihn trösten mit dem Hinweis, es werde sich wohl bald ein passender Anlass finden, dass England in den bevorstehenden Krieg eingreife, noch sei ja nicht aller Tage Abend…
Nimmt man Grey beim Wort, so hätten die Absprachen über die Stärke der englischen Expeditionsarmee in Frankreich, die detaillierten Aufmarsch- und Zeitpläne oder die Flottenverteilung rein gar nichts zu bedeuten gehabt. So dumm kann er gar nicht gewesen sein, dass er das selbst glaubte. Alle seine Gesprächs- und Verhandlungspartner gingen vom Gegenteil aus, nämlich, dass Großbritannien unwiderruflich der französisch-russischen Allianz beigetreten sei.
Und auch ein Zweites ist sicher: Die oben genannten Abmachungen waren hinter dem Rücken des britischen Parlaments und selbst eines Teils des Kabinetts von einigen wenigen Brandstiftern im Außenministerium und der Militärführung vereinbart worden, waren also nicht Bestandteil der offiziellen Außenpolitik. Daher rührte die Angst britischer Diplomaten, Frankreich und Russland könnten diese Abmachungen für widerrufbar oder unsicher ansehen. Damit dieser Eindruck nicht entstünde, unterließ man alles, was als mögliche Distanzierung Englands von dem in diesen Abmachungen anvisierten Kriegskurs ausgelegt werden könnte. In der Krise, die dem Attentat von Sarajewo folgte, machte diese Einstellung dann jede Entschärfung der Spannungen zunichte und führte geradewegs in den Krieg.
Erschrak Grey vielleicht, als ihm endlich dämmerte, welche Erwartungen seine Politik in Frankreich und Russland ausgelöst hatte? Belog er sich also selbst, als er immer wieder die Entschlussfreiheit seines Landes betonte? Dass es kein Bündnis, keinen Vertrag, keinen Parlamentsbeschluss gebe, der England auf einen Kriegskurs festlege? Wir lassen diese Frage vorläufig offen, weil sie sich mit letzter Sicherheit erst im Zusammenhang mit der ab 1914 verhandelten englisch-russischen Marinekonvention beantworten lässt.
Diese Konvention sollte gewissermaßen die letzte offene Lücke in dem Netz schließen, in dem sich Deutschland verfangen sollte. Mit französischer Vermittlung begann man im April 1914, Grundzüge eines entsprechenden Abkommens zu entwerfen. Leitender Gesichtspunkt war dabei, von der Ostsee aus eine dritte Front gegen Deutschland aufzubauen. Mit englischen Schiffen sollte russische Marineinfanterie in Pommern, etwa bei Stettin, an Land gehen. Damit diese Truppen schon bei Kriegsbeginn eingreifen könnten, sollten nach dem Wunsch der russischen Admiralität britische Transportschiffe schon vor Kriegsbeginn in großer Zahl in die Ostsee einfahren und russische Häfen anlaufen.
Die Beratungen hatten noch kein Ergebnis gebracht, als erste Indiskretionen, deren Ursprung die Russen in Paris, die Engländer in St. Petersburg vermuteten, in die Öffentlichkeit drangen. Grey geriet schwer in Bedrängnis, weil er einerseits die Verhandlungen über diese Marinekonvention in der britischen Öffentlichkeit ableugnen musste, andererseits den beunruhigten Russen signalisieren musste, England halte an dieser Konvention fest und wolle sie zum Abschluss bringen. Es war also ein schwieriger Balanceakt, den er zu meistern hatte.
In Berlin war man aufs höchste alarmiert und zog in London Erkundigungen ein. Ob der dortige deutsche Botschafter Lichnowsky, der im Ruf stand, besonders vertrauensselig zu sein und jede höfliche Floskel Greys für die reine Wahrheit zu nehmen, der richtige Mann für diese Aufgabe sei, war sehr fraglich. Wie begründet diese Zweifel waren, zeigte sich nur zu bald. Der Unterstaatssekretär im Berliner Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann schrieb am 27. Juni an den Kanzler: „Bei den Unterredung ist, wie zu erwarten stand, Lichnowsky … völlig von Grey eingewickelt worden und hat sich von neuem in der Auffassung bestärken lassen, daß er es mit einem ehrlichen, wahrheitsliebenden Staatsmann zu tun hat“.[25]
Dass Sir Edward Grey alles andere als ein wahrheitsliebender Ehrenmann war, bestätigte am 29. Juni 1914 Benckendorff, der russische Botschafter in London, in einem Schreiben an seinen Außenminister. Darin heißt es: „Es könnte sein, daß Sir Edward Grey wünscht, daß diese Erregung (in Berlin) sich etwas legt, bevor er weiterschreitet. Es ist in der Tat für ihn nicht leicht, gleichzeitig zu dementieren und zu verhandeln, eine Rolle, die er sowohl Deutschland, wie auch einem beträchtlichen Teile seiner eigenen Partei und der englischen Presse gegenüber spielen müsste“.[26] Es war also ein übles Doppelspiel, das Grey aufführte, aber Lichnowsky ließ sich natürlich wieder von Grey ‚einwickeln’. Dieser konnte dem britischen Botschafter in Berlin mitteilen, Lichnowsky „habe seiner Regierung versichert, dass sie sich auf jedes Wort verlassen könne und dass auf unserer (der englischen) Seite keine geheimen Vereinbarung bestünde.“ Auch der russische Botschafter in London war mit dem Lügenbaron Grey und dem einfältigen Lichnowsky hochzufrieden. Grey schrieb am 25. Juni an seinen Botschafter in St. Petersburg: „Graf Benckendorff (der russische Botschafter) war mit meinen ihm von mir mitgeteilten Bemerkungen zu Fürst Lichnowsky durchaus einverstanden und äußerte seine lebhafte Freude darüber, da Fürst Lichnowsky einen ausgezeichneten Gebrauch davon machen werde.“.[27] Man kann sich das dröhnende Gelächter der beiden Gentlemen gut vorstellen, wenn sie daran dachten, wie sie den gutgläubigen Lichnowsky hinters Licht führten. Der Reichskanzler Bethmann-Hollweg wusste es jedoch aus anderen Quellen besser als der einfältige Lichnowsky und durchschaute das schmutzige Spiel. „Er (der Reichskanzler) sieht die englisch-russischen Verhandlungen über eine Marinekonvention, Landung in Pommern, sehr ernst an, letztes Glied in der Kette. Lichnowsky viel zu vertrauensselig. Der ließe sich von den Engländern hereinlegen“, schrieb ein naher Beobachter in der Reichskanzlei am 7. Juli.[28]
So wurde das Gespinst aus Lügen, Intrigen und Dummheit weitergesponnen, bis das Attentat von Sarajewo schließlich den Brandsatz abgab, der zur Explosion führte und das Europa der ‚guten alten Zeit’ zugrunde richtete. Davon soll im nächsten Kapitel die Rede sein.
6. Das Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914
Am 28. Juni 1914 ermordeten zwei bosnische Terroristen den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin bei einem Besuch in Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. In diesem Attentat gipfelte eine Entwicklung, die spätestens 1908 ihren Anfang genommen hatte.
Mit dem Niedergang der Türkei als Großmacht stellte sich nämlich seit Jahren die Frage, wer den europäischen Teil des türkischen Vielvölkerreiches beerben sollte. Besonders interessiert an dieser Frage war Österreich-Ungarn, dem auf dem Berliner Kongress 1878 bereits das Besatzungsrecht in der formal noch türkischen Provinz Bosnien-Herzegowina eingeräumt worden war, damit sie dem Zugriff einer anderen Macht, gemeint war Serbien, entzogen wäre. Um der panslawistischen Propaganda, die vor allem von Serbien ausging, einen Riegel vorzuschieben, annektierte Österreich 1908 diese Provinz ganz. Dies erbitterte die Radikalen in Serbien maßlos, hatten sie doch gehofft, dass nach der Türkei bald auch die Doppelmonarchie zerfallen und aus ihren Trümmern ein großserbisches Reich hervorgehen werde.
Den Anfang mit der Zerstückelung der Türkei machte Italien, die Hyäne der europäischen Politik. 1911 griff Italien nach dem türkischen Tripolitanien (Nordafrika) und der sogenannten Dodekanes, einer ägäischen Inselgruppe mit Rhodos, und verleibte sich diese Gebiete ein. Nun gab es auch für die kleinen Balkanstaaten Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland kein Halten mehr und sie begannen den 1. Balkankrieg 1912/13. Der Krieg wurde im Mai 1913 auf einer Konferenz in London beigelegt. Im Sommer 1913 kam es unter den Siegern zum Streit um die Beute (2. Balkankrieg). In seinem Ergebnis dehnte sich auf Kosten der ehemals türkischen Provinz Makedonien Griechenland erheblich nach Norden aus, Serbien und Bulgarien nach Süden, neu entstand auf österreichischen Druck hin das unabhängige Fürstentum Albanien. Am wenigsten zufrieden mit der neuen Landkarte war Serbien. In Belgrad hatte man sich einen Zugang zur Adria mit dem Hafen Skutari erhofft, nun aber war durch Albanien der Weg ans Mittelmeer auf breiter Front verlegt. In Serbien schäumte man vor Wut und verstärkte die panslawistische Wühlarbeit noch mehr. Man setzte nun ganz auf den inneren Zerfall der Doppelmonarchie. Russlands Außenminister verfuhr nach der Richtschnur: „Die Verwirklichung der hohen Ideale der slawischen Völker auf der Balkanhalbinsel, die Russlands Herz so nahe stehen, ist nur möglich nach glücklichem Ausgang von Russlands Kampf mit Deutschland und Österreich-Ungarn“.[29] Nach Meinung des serbischen Gesandten in St. Petersburg waren „die südslawischen Provinzen innerhalb drei Jahren bereit, sich gegen Österreich-Ungarn zu erheben, ohne daß Serbien auch nur den kleinen Finger zu rühren brauche“.[30] Diese ‚südslawischen Provinzen’, die Belgrad zu annektieren wünschte, waren neben Bosnien-Herzegowina Kroatien, Slowenien, Dalmatien, Triest mit Istrien und Teile der Südsteiermark und Kärnten mit Villach und Klagenfurt, kurz: die Gebiete, die nach 1919 Jugoslawien bildeten. Der russische Außenminister Sasonow sprach den serbischen Radikalen aus der Seele, als er am 6. Mai 1913 äußerte: „Serbiens verheißenes Land liegt im Gebiet des heutigen Österreich-Ungarn… Die Zeit arbeitet für Serbien und zum Verderben seiner Feinde, die schon deutliche Zeichen der Zersetzung aufweisen“.[31] Solch frohe Botschaft meldete der serbische Gesandte gerne nach Hause: „Wiederum sagte mir Sasonow, daß wir für künftige Zeiten arbeiten müssen, da wir viel Land von Österreich bekommen werden“.[32] Seither gehörten – unter russischem Patronat – Handgranaten und Revolver zu den Requisiten der serbischen Politik.
Unter diesen Umständen lag der Ausbruch eines dritten Balkankrieges in der Luft, sei es, dass Serbien sich selbst zum Angriff auf die für morsch gehaltene Doppelmonarchie entschloss, oder dass diese, um dem drohenden Zerfall vorzubeugen, zum Präventivschlag gegen das ewig stänkernde Serbien ausholte.
Die Frage war nur noch: Ließe sich ein solcher Krieg ebenso lokalisieren wie die beiden ersten von 1912/13? Dies aber war eher unwahrscheinlich, da diesmal eine europäische Großmacht, nämlich Österreich-Ungarn, direkt Kriegspartei sein würde. Und außerdem hatte sich Russland auf Seiten Serbiens so stark engagiert, dass es im Konfliktfalle kaum beiseite stehen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Alle derartigen Erwägungen wurden mit einem Male durch die Schüsse von Sarajewo brennend aktuell.
In Österreich-Ungarn war man überzeugt, dass serbische Kreise – etwa die ‚Narodna Odbrana’ (Nationale Verteidigung) oder ihre Untergliederung ‚Schwarze Hand’ – die bosnischen Mörder mit Waffen, Pässen und weiteren Instruktionen versorgt hätten, und dass selbst die serbische Regierung von den Attentatsplänen Kenntnis hatte. Dem war, wie sich später herausstellte, in der Tat so, und daher erwartete man, dass Österreich-Ungarn den Serben eine – wie man heute sagen würde – ‚robuste Antwort’ erteilen werde. Hätte man damals sozusagen im Affekt gehandelt und, etwa gleich am 29. Juni, handstreichartig Belgrad besetzt, dann hätte sich die entstandene Krise möglicherweise glimpflich beilegen lassen. So aber brauchte man in Wien den ganzen Juli, um ein Ultimatum an Serbien zustande zu bringen. Diese vier Wochen, bekannt als ‚die Julikrise’, gaben allen Regierungen Zeit zu überlegen, wie sie sich in einem etwaigen dritten Balkankrieg positionieren wollten.
Für das Deutsche Reich war klar, dass es seinem letzten Bundesgenossen beistehen müsste, um dessen Existenz zu retten.
Die Frage aller Fragen war, wie sich Russland verhalten würde. Würde es sein Desinteresse an Serbien signalisieren, um nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden, oder als Schutzmacht aller Slawen auftreten? Für die letztere Möglichkeit sprach fast alles, nämlich:
- erstens die seitherige Politik gegenüber Serbien, ohne die das kleine Königreich niemals Österreich-Ungarn so frech herausgefordert hätte,
- zweitens die seit der Niederlage im russisch-japanischen Krieg reorganisierte und stark aufgerüstete Armee und
- drittens die bedingungslose Rückendeckung durch den Bundesgenossen Frankreich.
Diese drei Gründe machten es der Friedenspartei in St. Petersburg, zu der auch Zar Nikolaus gerechnet werden muss, unmöglich, sich gegen die Kriegstreiber durchzusetzen.
Wie die Stimmung während des Krisenmonats Juli 1914 in Russland war, davon berichtet beispielsweise der französische Botschafter Paleologue in seinen Memoiren. Er beschreibt zunächst den Verlauf des Staatsbesuchs des französischen Staatspräsidenten Poincaré und des Ministerpräsidenten Viviani vom 20.-23. Juli in St. Petersburg, bei dem der Krieg gegen Deutschland verabredet wurde. Er kommt dann auf das abendliche Bankett am 22. Juli in Krasnoje Selo, der Sommerresidenz des Zaren, zu sprechen. „Während des Essens saß ich neben der Großfürstin Anastasia (Tochter des Königs Nikola von Montenegro und Gemahlin des Großfürsten Nikolaj, des künftigen Oberbefehlshabers der russischen Armee) und die Prophezeiungen gingen weiter: ‚Der Krieg wird bald ausbrechen… Von Österreich wird nichts übrig bleiben… Sie bekommen Elsaß-Lothringen zurück… Unsere Heere werden sich in Berlin treffen. Deutschland wird vernichtet“.[33] Die französische Delegation war entzückt und konnte hochzufrieden die Heimreise antreten; die Revanche war gesichert, die Aussichten glänzend!
Die Siegeszuversicht der Großfürstin war nicht unbegründet. Marschierte die ‚Triple-Allianz’ Russland-Frankreich-England gemeinsam auf, so besaß sie eine erdrückende Überlegenheit. Aber auch ohne England konnten die beiden Mächte erheblich mehr Soldaten ins Feld stellen als die Mittelmächte. Allein die Friedensstärke der russischen Armee war doppelt so hoch wie die deutsche. Russland war sich der französischen Unterstützung sicher, die Poincaré gerade wieder versprochen hatte. Oft genug war von den zwei Schwestern die Rede, die Frankreich und Russland als Bräute heimführen wollten, Frankreich Elsaß-Lothringen und Russland Konstantinopel. Die panslawistische Parole: „Der Weg nach Konstantinopel führt durchs Brandenburger Tor“ zeigte die Richtung an. Denn nur wenn Deutschland fiel, brachen Österreich-Ungarn und die Türkei, beides Vielvölkerstaaten, zum Vorteil Russlands und seiner Trabanten auf dem Balkan zusammen. All dies war jedem Beobachter klar.
Unklar schien nur die Haltung Englands in der europäischen Krise des Juli 1914. Dies lag an der undurchsichtigen und verschlagenen Politik des britischen Außenministers Edward Grey. Alle militärischen Abmachungen hatte er, wie im 5. Kapitel ausgeführt, streng geheim getroffen; kein Parlamentsbeschluss, keine öffentliche Diskussion waren jemals darüber erfolgt, nicht einmal die Mehrheit der Kabinettskollegen Greys wusste von seinen Machenschaften, die England an Frankreich und Russland ketteten. Es wäre für Grey also politischer Selbstmord gewesen einzugestehen, dass die englische Nation an der Seite Frankreichs und Russlands gegen Deutschland in den Krieg ziehen müsste, weil er es so mit diesen Mächten insgeheim verabredet habe.
Andererseits fürchtete Grey, allein schon der bloße Anschein, als ob England neutral bleiben wolle, würde die Triple-Allianz spalten und England stünde isoliert Deutschland gegenüber. Also musste er nach innen und Deutschland gegenüber so tun, als ob England völlig frei in seinen Entschlüssen sei, insgeheim jedoch Frankreich und Russland der englischen Bündnistreue versichern.
Da konnte es nicht ausbleiben, dass beide Seiten misstrauisch wurden. Was die deutsche Seite betrifft, so verlegte sich Grey aufs Lügen und Leugnen, es gebe weder Verhandlungen über eine Marinekonvention mit Russland noch sonstige Abreden. Dem leichtgläubigen deutschen Botschafter Lichnowsky versicherte er, er „sei dem Parlament gegenüber verpflichtet, keine derartigen Geheimabmachungen zu schließen, und würde eine solche Abmachung getroffen, dann wäre sie dem Parlament vorzulegen“.[34] Grey schlüpfte hier in die Rolle des armen Palmström: „… weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“. Aber auch dem deutschen Sonderbeauftragten Albert Ballin, dem Generaldirektor der HAPAG, der anstelle des naiven Lichnowsky die Lage in London sondieren sollte, tischte er das gleiche Märchen auf: „Das wolle er mir (Ballin) aber gerne erklären, dass keine solche Flottenkonvention bestehe, und dass es nicht in Englands Absicht läge, in eine derartige Konvention zu willigen“.[35] Grey log also auch hier.
Gegenüber Frankreich und Russland klang Grey anders: England stehe zu seinen Verpflichtungen, aber er, Grey, könne dies nicht öffentlich versichern. Die beiden Botschafter hatten dafür Verständnis. Der russische Gesandte meldete am 26. Juli seinem Außenminister: „Ich gebe noch nicht die Hoffnung auf es zu erreichen, daß ich Grey veranlasse, die Maske zu lüften in diesen Tagen. Ich kann es Ihnen nicht versprechen“.[36] Und am 30. Juli: Der französische Botschafter habe Grey zu einer Erklärung gedrängt, aber er „glaube nicht, dass Situation in den Augen des Parlaments klar genug sei, dass Grey sich ohne Gefahr noch heute erklären könne“.[37]
Für Grey war ‚die Gefahr’ in der Tat groß. Denn die Mehrheit des Kabinetts wollte ihm immer noch nicht auf seinem Kriegskurs folgen, obwohl täglich die Anfragen von Frankreich und Russland eintrafen, wann denn das erlösende Wort ‚Krieg’ gesprochen werde. Denn mittlerweile hatten mehrere Länder mobil gemacht, Serbien am 25.7., Russland am 30.7., Österreich und Deutschland am 31.7., Frankreich am 1.8., der große Krieg stand unmittelbar bevor, und Grey traute sich immer noch nicht, der englischen Nation und dem Rest der Welt reinen Wein einzuschenken. Er drohte mit Rücktritt, falls ihm das Kabinett nicht in den Krieg folge, und ließ durchblicken, die Franzosen oder Russen könnten belastende Dokumente veröffentlichen. Zu Recht befürchtete Grey eine Staatskrise allergrößten Ausmaßes, wenn herauskäme, dass England, das sich stets gerühmt hatte, die Wiege des Parlamentarismus und Mutterland der Demokratie zu sein, von einer Handvoll Dunkelmänner hinter dem Rücken der dazu befugten Verfassungsorgane und der Öffentlichkeit in einen Weltkrieg verwickelt worden sei.
Es war ein Stück aus dem Tollhaus: Verzweifelt suchte Grey nach einem öffentlichkeitstauglichen Grund, um die Katze aus dem Sack zu lassen. Endlich lieferten die Deutschen das Alibi, als sie am 3. August die Neutralität Belgiens missachteten, um – wie geplant – in sechs Wochen Frankreich schlagen zu können. Nun hatte Grey seinen „gottgesandten Vorwand“, wie Greys Sekretärin und Geliebte erleichtert notierte, seinen ehrbaren Kriegsgrund: England wolle die Unabhängigkeit kleiner Nationen verteidigen und das schwache Belgien vor den deutschen Hunnen schützen, hieß es fortan, und die Schulbücher glauben es heute noch.
7. Bilanz
Heute, hundert Jahre nach den Ereignissen, die zum Ersten Weltkrieg führten, kann man genauer beurteilen, „wie alles gekommen ist“.
Jede der beteiligten Mächte hatte ihren Anteil an der Katastrophe, aber der Preis, den jede Nation für die Erhaltung des Friedens hätte zahlen müssen, war unterschiedlich hoch bemessen.
Am höchsten war dieser Preis für die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Sie hätte, ohne sich zu wehren, ihrer eigenen Auflösung zusehen müssen. Kann man es der Wiener Regierung verdenken, dass sie, der ständigen serbischen Agitation müde, nicht nur die Handlanger des Terrors, sondern auch deren Hintermänner und Stichwortgeber dingfest machen wollte? Das Attentat von Sarajewo war immerhin das fünfte in einer Reihe von Anschlägen, die auf Repräsentanten oder Einrichtungen des Habsburgerreiches verübt worden waren. Sollte man abwarten, bis mitten in Wien die nächste Bombe hochging? Nein, man wollte mit der großserbischen Propaganda ein für allemal aufräumen. Dass man einen Krieg mit Serbien in Kauf nahm, ohne sicher zu sein, dass dieser Krieg sich lokalisieren ließe, das war der österreichische Schuldanteil.
Auch Deutschland wollte den Frieden nicht um jeden Preis; nicht um den Preis, auch noch den letzten Bundesgenossen zu verlieren. Ganz alleine dastehen, eingekreist von Mächten, die bereits um die Beute würfelten und in ihrer Presse mit ihrer wachsenden militärischen Stärke prahlten? So erschien im Juli 1914 im Pariser ‚Temps’ ein Bericht über die künftige Friedensstärke der russischen Armee. 1914 zähle sie noch 1,5 Millionen Mann, aber bereits 1918 werde sie 1,7 Millionen betragen, 1919 dann schon 2,3 Millionen.[38] Das war frohe Kunde für ein französisches Revanchistenherz, bot diese Entwicklung doch die beste Gewähr dafür, dass der Krieg gegen Deutschland siegreich geführt werden würde. Auch in Berlin las man solche Artikel und kam zu dem Schluss, wenn die Franzosen und Russen ihren Krieg unbedingt haben wollten, dann sollten sie ihn besser jetzt haben als in vier Jahren, wenn die Lage für Deutschlands ganz und gar hoffnungslos wäre. Dass Deutschland nicht kampflos in die Knie ging, sondern den Ring der Einkreisung sprengen wollte, das war sein Anteil an der Kriegsschuld.
Auch das übrige Europa war überzeugt, dass Deutschlands Lage immer prekärer wurde. Italien, Deutschlands Dreibundpartner zusammen mit Österreich, ahnte schon lange, dass es auf der Verliererseite stehen werde, und hatte seit 1902 heimlich den Frontwechsel vorbereitet. Der Verrat an Deutschland und Österreich würde viel einbringen, das hoffte die Regierung in Rom nicht ohne Grund. Tirol bis zum Brennerpass, dazu noch das österreichische Triest, der Kriegshafen Pola mit Hinterland, dalmatinische Inseln und Stützpunkte in Albanien, all das würde das Verscherbeln der nationalen Ehre schon aufwiegen, meinten die Italiener und boten ihre Dienste schamlos der Triple-Allianz an. 1914 blieben sie zunächst neutral, 1915, als kein Risiko mehr bestand, nahmen sie all ihren Mut zusammen und erklärten ihrem früheren Verbündeten, der im härtesten Abwehrkampf gegen die Russen stand, den Krieg. Es hat sich 1918 ausgezahlt.
Ganz anders die Lage in Russland. Hier wusste man, dass man aufgrund der schieren Größe des Landes unbesiegbar war. Folglich ging es nicht um die staatliche Existenz wie bei Österreich und Deutschland, auch nicht um billigen Zugewinn wie bei Italien, sondern um Eitelkeiten. Der Preis des Friedens wäre gewesen, das Kostüm des Slawenbefreiers an den Nagel zu hängen. Dazu waren die panslawistischen Kräfte in Regierung und Armeeführung nicht bereit. Warum sollten sie auch? Sie verfügten doch über die stärkeren Bataillone, und im Verein mit Frankreich und England waren sie unüberwindlich. Warum sollten sie für den Frieden überhaupt etwas zahlen?
Ähnlich dachte man in Frankreich. Ohne Krieg war Elsaß-Lothringen nicht wiederzugewinnen, ohne Krieg die Schmach von 1871 nicht zu tilgen. Den Preis des Friedens, nämlich die Anerkennung des Status Quo, wollte man nicht entrichten.
Zum Nulltarif wäre der Frieden auch für England zu haben gewesen. Gestützt auf die mächtigste Flotte der Welt, unangreifbar durch die Insellage, ohne formales Bündnis mit einer der Konfliktparteien, nahm Großbritannien die Schiedsrichterstelle ein. Das sah auch der US-Oberst House so, der Freund und enge Berater des US-Präsidenten Woodrow Wilson, als er im Frühjahr 1914 im Auftrag Wilsons die europäischen Hauptstädte bereiste, um sich ein authentisches Bild über die Lage zu verschaffen. House berichtete am 29. Mai aus Berlin: „Die Lage ist ungewöhnlich. Es herrscht der völlig toll gewordene Jingoismus. Wenn nicht jemand, der in Ihrem (Wilsons) Namen handelt, eine Verständigung auf ganz neuem Grunde zustande bringt, so wird es eines Tages zu einer fürchterlichen Katastrophe kommen. Niemand in Europa vermag es zu vollbringen. Es herrscht hier zu viel Haß, zu viel Eifersucht. Wenn England jemals damit einverstanden ist, werden Frankreich und Russland über Deutschland und Österreich herfallen“.[39] Klare Worte, die man in deutschen Geschichtsbüchern aber vergeblich sucht, da sie als störend empfunden werden.
Es war das Verhängnis von ganz Europa, dass England bereits nach vier Wochen mit den Plänen Frankreichs und Russlands ‚einverstanden’ war. Aber warum? Es hätte beispielsweise Russland nur andeuten brauchen, dass man die Verhandlungen über die fatale Marinekonvention (vgl. Kap. 5) für die Dauer der Juli-Spannungen auszusetzen wünsche. Dieser Hinweis allein hätte wohl schon genügt, die Russen vorsichtiger werden zu lassen. Als aber die deutsche Regierung im Interesse des Friedens darum bat, in diesem Sinne in St. Petersburg vorstellig zu werden, lehnte Grey ab. Für ihn galt das unumstößliche Dogma, Russland dürfe um keinen Preis verärgert werden, auch nicht um den Preis des Friedens. Das galt schon vor dem 28. Juni, dem Tag des Attentats von Sarajewo, und erst recht danach.
So hat auch der unvermeidliche Geisterfahrer Sir Eyre Crowe (vgl. Kapitel 3) am 24.7.1914 empfohlen: „Wenn die englische Regierung im Augenblick, wo entweder Österreich oder Russland zu mobilisieren beginnen, Befehl erteilt, unsere ganze Flotte unverzüglich auf Kriegsfuß zu setzen, so mag dies…Deutschland die Augen über den Ernst der Gefahr öffnen, der es ausgesetzt wäre, falls England am Krieg teilnähme. Angenommen, dieser Entschluß könnte jetzt gefasst werden, dann wäre es richtig, die französische und russische Regierung davon zu unterrichten, und das wäre wiederum das beste, was wir tun könnten, um das Entstehen einer sehr ernsten Lage zwischen England und Russland zu verhindern“.[40]
Britische Logik: Um eine ‚ernste Lage zwischen England und Russland’, also eine zeitweilige Verstimmung zwischen London und St. Petersburg, zu vermeiden, musste ein Weltkrieg entfacht werden. Den naheliegenden Gedanken, dass eine gegenteilige Maßnahme, nämlich die Flotte nicht zu mobilisieren, dämpfend auf die russischen Kriegstreiber wirken würde, ließ Crowe aus Angst vor Russland gar nicht erst aufkommen.
Nehmen wir als letztes Beispiel für schwarzen britischen Humor einige Sätze aus dem Bericht des englischen Botschafters in St. Petersburg vom 16. April 1914 an das Auswärtige Amt in London: „Ich bin mir vollauf all der Schwierigkeiten bewußt, die einem derartigen Abkommen (= Marinekonvention mit Russland) entgegenstehen, aber ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass wir große Gefahr laufen, wenn wir nichts zur Festigung unseres Einvernehmens tun. Russland wird rasch so mächtig, dass wir uns seine Freundschaft fast um jeden Preis erhalten müssen. Wenn es die Überzeugung gewinnt, dass wir als Freund unzuverlässig und nutzlos sind, könnte es eines Tages einen Handel mit Deutschland eingehen… Unsere Lage wäre dann recht übel“.[41] Man scheut sich, dieses Geschwätz für ein Argument zu halten. Denn bei Lichte besehen, meint der Botschafter: Russland ist so mächtig, dass wir es uns nicht leisten können, an dem geplanten russisch-französischen Raubzug gegen Deutschland nicht teilzunehmen. Aus Verärgerung über unsere Neutralität würde Russland sich möglicherweise mit Deutschland arrangieren, mit der Folge, dass nicht Deutschland, sondern England russisches Angriffsziel wäre. Ganz ähnlich äußerte sich Arthur Nicolson, ab 1910 Unterstaatsekretär im Foreign Office: „Wir müssen gegen die Deutschen kämpfen, um nicht gegen die Russen kämpfen zu müssen“.[42] Man fasst sich an den Kopf! Das wäre in etwa so, als ob jemand sagen würde: Wir müssen unsere Freunde von der Mafia bei dem geplanten Banküberfall unterstützen, um uns ihr Killerkommando aus Palermo vom Leibe zu halten. Das war britische Staatskunst vom Feinsten!
Wir haben es kurz von Kriegsbeginn 1914 in London also mit einem völligen Argumentationswechsel zu tun: Tönte es zehn Jahre lang bis zum Überdruss: ‚Wir müssen Krieg gegen Deutschland führen, damit das Gleichgewicht in Europa gewahrt und Deutschland nicht zu mächtig wird’, so war nun das genaue Gegenteil richtig: ‚Wir müssen Krieg gegen Deutschland führen, weil die Russen das Gleichgewicht längst gestört haben und uns die Neutralität übel nähmen’.
Wie man es auch drehte und wendete und wie grotesk und erbärmlich die Rabulistik auch war: Am Ende stand immer der Entschluss, Deutschland als Großmacht auszuschalten, koste es, was es wolle.
[...]
[1] I. Geiss u.a., Epochen und Strukturen, Grundzüge einer Universalgeschichte für die Oberstufe, Frankfurt 1996
[2] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961
[3] zitiert nach J. Röhl, Wilhelm II., Bd. III, Der Weg in den Abgrund, München, 2008, S. 410
[4] Röhl, S. 393
[5] ebd. S. 418
[6] Virginia Cowles, Wilhelm II, München1981, S. 305
[7] Sidney B. Fay, The Origins of the World War, 2 Bände, New York 1928
[8] abgedruckt bei: Erwin Hölzle, Quellen zur Entstehung des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1978, Nr. 15, Nr. 26 und Nr. 30.
[9] Niall Ferguson, Der falsche Krieg, Stuttgart 1999, S. 125
[10] Patrick Buchanan, Churchill, Hitler und der unnötige Krieg, Selent 2008, S. 52
[11] Ferguson, S. 114
[12] Hölzle, S.79ff
[13] Ferguson, S. 8 und S. 30
[14] Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1958, S. 562
[15] Hölzle, S. 70
[16] ebd. S. 71
[17] Sören Neitzel, Kriegsausbruch, Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900-1914, München 2002, S. 118
[18] Ferguson, S. 112
[19] Hölzle, S. 75
[20] Ferguson S. 113
[21] Hölzle, S. 87
[22] Fay, Der Ursprung des Weltkrieges, Berlin 1930, Bd. 1, S. 144
[23] Hölzle, S. 146
[24] ebd. S. 105
[25] ebd. S. 282
[26] ebd. S. 291
[27] ebd. S. 282
[28] ebd. S. 320
[29] Fay, Bd. 1, S. 284
[30] Hölzle, S. 438
[31] Fay, Bd. 1, S. 309
[32] ebd. S. 277f.
[33] Fay, Bd. 2, S. 201
[34] Hölzle, S. 341
[35] ebd. S. 384
[36] ebd. S. 413
[37] ebd. S. 448
[38] ebd. S. 353
[39] ebd. S. 253
[40] ebd. S. 382
[41] ebd. S. 223
[42] Interview mit Christopher Clark in der FAZ vom 24. 9. 2013
- Citar trabajo
- Manfred Schopp (Autor), M.A. Jochen Lehnhardt (Autor), Matti Ostrowski (Autor), Jörn Fritsche (Autor), 2014, Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Die Ursachen der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268233
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