Geschichten lassen sich grundsätzlich unterschiedlich erzählen und ebenso unterschiedlich analysieren. Zu den im vergangenen Jahrhundert entwickelten Literaturtheorien zählt die Erzähltheorie. Einer der führenden Narratologen, Gérard Genette, entwickelte ein Modell, in dem er literarische Texte in Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme unterteilte. Eine Untergruppe des Modus ist die Fokalisierung. Dieser Begriff beschreibt, aus wessen Sicht erzählt wird („wer sieht ?). Genette unterscheidet zwischen „Nullfokalisierung (focalisation zéro)“, „interne Fokalisierung (focalisation interne)“ und „externe Fokalisierung (focalisation externe)“. Die interne Fokalisierung unterteilt er in „fest“ (hier wird durchgehend aus dem Blickwinkel ein und der selben Personen erzählt), in „variabel“ (die fokale Figur wechselt) und in „multipel“ (ein bestimmtes Ereignis wird von verschiedenen Personen beschrieben).
Selten wird in einer Erzählung der Fokalisierungstyp durchgängig beibehalten, oft wechseln sich die verschiedenen Formen untereinander ab . In Kafkas „Das Urteil“ findet sich sowohl die Nullfokalisierung, als auch die interne und die externe Fokalisierung. Den beiden agierenden Personen (Vater und Sohn) ist gleichbleibend ein bestimmter Typus zugeordnet. Inwieweit sich dies auf die Rezeption auswirkt und ob eventuell eine Verbindung zu einem der damaligen gesellschaftlichen Parallel-Diskurse herzustellen ist, möchte ich versuchen in diesem Essay zu klären.
Dazu beschreibe ich zuerst kurz die vorhandenen Fokalisierungstypen, danach gebe ich Beispiele aus der Vater-Sohn-Darstellung. In der Schlussbetrachtung versuche ich die Frage nach der Wirkung der angewandten Fokalisierungstypen auf den Rezipienten zu beantworten und eventuelle Verbindungen zu dem gesellschaftlichen Décadence-Diskurs der Jahrhundertwende aufzuzeigen.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung Seite
2. Fokalisierungstypen in „Das Urteil“ Seite
3. Vater- und Sohn-Darstellung Seite
4. „Das Urteil“ und der Décadence-Diskurs Seite
5. Literaturverzeichnis Seite
1. Einleitung
Geschichten lassen sich grundsätzlich unterschiedlich erzählen und ebenso unter-schiedlich analysieren. Zu den im vergangenen Jahrhundert entwickelten Literaturtheorien zählt die Erzähltheorie. Einer der führenden Narratologen, Gérard Genette [1], entwickelte ein Modell, in dem er literarische Texte in Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme unterteilte. [2] Eine Untergruppe des Modus ist die Fokalisierung. Dieser Begriff beschreibt, aus wessen Sicht erzählt wird („wer sieht ?) [3]. Genette unterscheidet zwischen „Nullfokalisierung (focalisation zéro)“ [4], „interne Fokalisierung (focalisation interne)“ [5] und „externe Fokalisierung (focalisation externe)“ [6]. Die interne Fokalisierung unterteilt er in „fest“ (hier wird durchgehend aus dem Blickwinkel ein und der selben Personen erzählt), in „variabel“ (die fokale Figur wechselt) und in „multipel“ (ein bestimmtes Ereignis wird von verschiedenen Personen beschrieben). [7]
Selten wird in einer Erzählung der Fokalisierungstyp durchgängig beibehalten, oft wechseln sich die verschiedenen Formen untereinander ab [8]. In Kafkas „Das Urteil“ findet sich sowohl die Nullfokalisierung, als auch die interne und die externe Fokalisierung. Den beiden agierenden Personen (Vater und Sohn) ist gleichbleibend ein bestimmter Typus zugeordnet. Inwieweit sich dies auf die Rezeption auswirkt und ob eventuell eine Verbindung zu einem der damaligen gesellschaftlichen Parallel-Diskurse herzustellen ist, möchte ich versuchen in diesem Essay zu klären.
Dazu beschreibe ich zuerst kurz die vorhandenen Fokalisierungstypen, danach gebe ich Beispiele aus der Vater-Sohn-Darstellung. In der Schlussbetrachtung versuche ich die Frage nach der Wirkung der angewandten Fokalisierungstypen auf den Rezipienten zu beantworten und eventuelle Verbindungen zu dem gesellschaftlichen Décadence-Diskurs der Jahrhundertwende aufzuzeigen.
2. Fokalisierungstypen in „Das Urteil“
Zu Beginn der Geschichte berichtet die Erzählinstanz über die Situation in der sich Georg Bendemann befindet. Er sitzt an seinem Schreibtisch und ist damit beschäftigt, einen Brief an seinen im Ausland wohnenden Freund zu schreiben. Der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler skizziert die Umgebung, das Haus, das Zimmer, er beschreibt die Gedanken und das Verhalten des jungen Mannes. Genette nennt diese Art der Darstellung „Nullfokalisierung“. Dieser narrative Modus findet sich am Anfang, in der Mitte und am Ende der Geschichte.
Den Kern der Erzählung bildet der Dialog zwischen Vater und Sohn. Dem Rezipienten werden die Gedanken und Empfindungen des Georg Bendemann geschildert. Den benutzten narrativen Typus könnte man mit dem Personalpronomen „ich“ wiedergeben. Genette spricht von „interner Fokalisierung“ [9]. Auf die Gefühle und Gedankengänge des Vaters gibt es keine Hinweise. Es findet sich nur die Beschreibung dessen was er tut und was er sagt. Beim Einsetzen des Personalpronomens der ersten Person Singular würde sich keine Sinnübereinstimmung ergeben. Genette bezeichnet dies als „externe Fokalisierung“ [10].
3. Vater- und Sohn-Darstellung
Die Erzählinstanz führt den Vater mit folgenden Worten in die Erzählung ein: „Der Vater saß beim Fenster in einer Ecke […] und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte.“ [11] An dieser Stelle wird dem Leser das Bild eines älteren und schutzbedürftigen Mannes vermittelt, so wie er von seinem Sohn wahrgenommen wird.
[...]
[1] Gérard Genette, geb. 1930 in Paris, französischer Literaturwissenschaftler.
[2] Vergl. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, München 2 1998, S. 5 ff
[3] Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007, S. 63.
[4] Nullfokalisierung: Erzähler > Figur (Übersicht - der Erzähler weiß bzw. sagt mehr als irgendeine der Figuren
weiß bzw. wahrnimmt), s. Martinez,Mathias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München,
7 2007, S. 64.
[5] Interne Fokalisierung: Erzähler = Figur (Mitsicht - der Erzähler weiß bzw. sagt mehr als irgendeine der
Figuren weiß bzw. wahrnimmt), ), s. Martinez/Scheffel: Einführung Erzähltheorie, S. 64.
[6] Externe Fokalisierung: Erzähler < Figur (Außensicht - der Erzähler weiß bzw. sagt mehr als irgendeine der
Figuren weiß bzw. wahrnimmt), s. Martinez/ Scheffel: Einführung Erzähltheorie, S. 64.
[7] Vergl. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, München 2 1998,
S. 134 -135.
[8] Ebd.: S. 136.
[9] Vergl.: Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, München 2 1998,
S. 137.
[10] Ebd.
[11] s. Kafka, Franz: Das Urteil, in: Jahrhaus, Oliver/ Neuhaus, Stefan (Hrsg.): Kafkas „Urteil“ und die
Literaturtheorie, zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002, S. 12.
- Citar trabajo
- Gudrun Kahles (Autor), 2012, Fokalisierungstypen in Kafkas "Das Urteil", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267587
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.