Modellgutachten zur Psychodiagnostik.
Störung, die begutachtet wird: Lebenszufriedenheit, Flugangst.
Wiedergegeben ist der anonymisierte vollständige Wortlaut: Anschreiben, Fragestellung, Vorgeschichte, Untersuchung /Untersuchungsbericht, biographische Anamnese, Exploration, Vorstellung verwendeter Tests und Verfahren incl. Ergebnis, Befund, Stellungnahme, Kurzgutachten.
INHALTSVERZEICNIS
Anschreiben an den Auftragnehmer (Arzt/ Psychologe)
Vorgeschichte
Untersuchungsbericht - Angewandte und durchgeführte Untersuchungsverfahren
Aufnahmegespräch - Krankheitsanamnese
Beschwerdefragebogen (BFB), durchgeführt am 21
CIDI - Composite International Diagnostic Interview ( Sektion D)
Biographische Anamnese
Rücksprache mit dem Ehemann
Exploration der Patientin zu Umgebungsvariablen, Organismusvariablen
kognitiven und zur Leistungsfähigkeit E-P-I Eysenck Personality Inventory
Aufmerksamkeits- und Belastungstest d
Tempoleistung und Merkfähigkeit Erwachsener (TME)
Differentieller Interessentest ( DIT ), durchgeführt am
Leistungsprüfsystem (LPS), durchgeführt am 15.04
FLL - Fragebogen zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit
Befund
tellungnahme
Kurzgutachten
ANSCHREIBEN AN DEN AUFTRAGNEHMER
Herrn
Dr. med. H. M.
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
Betrifft: Die psychologische Untersuchung der Patientin Ilona S.. Einschätzung des
Schweregrades der Flugangst o. g. Patientin und ihre psychologischen Voraussetzungen für eine berufliche Umorientierung.
Sehr geehrter Herr Dr. M.
Mit diesem Schreiben und den beigefügten Ausführungen zu Erhebungen und Untersuchungen beziehen wir uns auf die von Ihnen überwiesene Patientin Ilona S., geb. am 22.11.1943 in O. Mit Einverständnis der Patientin nehmen wir Stellung zu Ihrer Frage, wie stark die Beeinträchtigungen hinsichtlich Lebenslage und Selbstwertgefühl in bezug auf die Ausprägung der von ihr angegeben Flugangst sei und welche psychischen Voraussetzungen, die familiäre Situation, Alter und Motivation der Patientin bedenkend, sie für eine eventuelle berufliche Umorientierung besitzt.
VORGESCHICHTE
Die 50jährige Patientin Ilona S. wurde vom Neurologen Dr. Heiner M. zur Begutachtung überwiesen. In einem Telefonat vom 11.03.1994 teilte er folgendes mit: Der Ehemann der Patientin habe sie gebeten, sich neurologisch untersuchen zu lassen. Der Grund der Konsultation bestehe darin, daß die Ehepartner eine Fernreise geplant hätten. Frau S. leide aber seit vielen unter Flugangst und begründe ihre Abneigung gegen damit in Verbindung stehende Reisen mit deren hohen Kosten und Unattraktivität. Diese, in Vorwendezeiten angeführten Argumente konnten nun, nach der Wende, so nicht mehr aufrecht erhalten werden. Auch wollte sie ihrem Ehemann die Freude am Reisen nicht verderben.
Eine allgemein-körperliche und neurologische Untersuchung hat keine pathologischen Befunde ergeben. Desweiteren hat der Ehemann mitgeteilt, die Patientin befürchte, arbeitslos zu werden. Für den Neurologen ergab sich daraus die Fragestellung nach einer beruflichen Umorientierung.
UNTERSUCHUNGSBERICHT
Angewandte und durchgeführte Untersuchungsverfahren
- Aufnahmegespräch mit der Patientin am 21.03.1994
- Beschwerdefragebogen (BFB) von K. Höck und K. Hess am 21.03.1994
- Beschwerdeschilderung mit dem Composite International Diagnostic Interview (Sektion D) der WHO von H.-U. Wittchen und G. Semler am 21.03.1994
- Biographische Anamnese (abgegeben von der Patientin) am 23.03.1994
- Rücksprache mit dem Ehemann am 25.03.1994
- Exploration der Patientin zu Umgebungsvariablen, Organismusvariablen und zur kognitiven Leistungsfähigkeit am 08.04.1994
- Eysenck-Persönlichkeits-Invertar (E-P-I) in der deutschen Bearbeitung von Prof. Dr. Dietrich Eggert am08.04.1994
- Tempoleistungs-Merkfähigkeitstest (TME) von Roether am 08.04.1994
- Aufmerksamkeits-Belastungstest d2 von Brickenkamp am 08.04.1994
- Differentieller Interessen-Test (DIT) von E. Todt am 08.041994
- Leistungsprüfsystem (LPS) von W. Horn am 15.04.1994
- Fragebogen zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit (FLL) von B. Kraak und
D. Nord-Rüdiger am 15.04.1994
Aufnahmegespräch - Krankheitsanamnese
Im Aufnahmegespräch ging Frau S. bereitwillig auf die gestellten Fragen ein, erweiterte die Fragestellung und sprach persönliche Probleme offen an. Hinweise auf Abwehr und Aggravation ergaben sich nicht.
Die Patientin verspüre seit Jahren Angstgefühle in spezifischen Situationen. So im Kino, im Theater oder auf Busfahrten. Die Angst beziehe sich darauf, nicht schnell genug eine Toilette aufsuchen zu können. Um diese Befürchtung minimieren zu können, habe sie eine Routine derart entwickelt, daß sie die Toilette vor dem Ereignis aufsuche, sonst günstige Gelegenheiten, den Raum zu verlassen, nutze, das Problem offen anspreche oder entsprechende Situationen gar ganz meide.
Weiterhin gibt die Patientin Flugangst an. Die Entstehung habe ihrer Meinung nach eine lange Vorgeschichte. So sei sie zum Beispiel stark beeindruckt von Katastrophenberichten, die sie in den Medien verfolge. Das Schicksal der Betroffenen rühre sie stark an. Ihre Angst bestehe darin, im Falle einer Flugzeugkatastrophe selbst eingeschlossen und hilflos zu sein. In der letzten Zeit seien seitens der Familienmitglieder Gedanken an eine Flugreise immer öfter zur Sprache gekommen. Habe sie zu Vorwendezeiten noch gegen eine Flugreise argumentieren und einer solchen ausweichen können, sehe sie sich jetzt seitens der Familie mit dem Argument konfrontiert, daß ihre Flugangst nur eine Erwartungsbefürchtung sei und sie das Fliegen ja noch nie praktisch versucht habe.
Eine andere Befürchtung von Frau S. ist die, daß sie glaubt, aufgrund der gesellschaftlichen Situation in naher Zukunft ihren Arbeitsplatz verlieren und bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage und in ihrem Alter keine berufliche Zukunft mehr haben könne. Ihre Familie versuche sie zu trösten, halte ihre Befürchtungen für grundlos. Diese Ansicht könne sie nicht teilen; sie fühle sich nicht ernstgenommen. Sie könne im Falle einer Arbeitslosigkeit Hausfrau werden, was für sie jedoch mit verschiedenen Problemen verbunden sei. Auch käme eine Umschulung in Frage. Insgesamt überschaue sie die Konsequenzen und Folgen einer solchen Entwicklung nicht. So stelle sie sich die Frage, wozu sie sich eignen würde, wo doch jeder Beruf bestimmte Anforderungen verlange. An einer Meinung zu diesem Thema seitens eines Psychologen sei sie interessiert.
Beschwerdefragebogen (BFB), durchgeführt am 21. 03. 1994
Der Beschwerdefragebogen (BFB) ist ein Siebtestverfahren zur Gewinnung der Aussage über das wahrscheinliche Vorliegen einer funktionell neurotischen Störung anhand einer Neurosenskala. Mittels des BFB wird außerdem die Erhebung des globalen Symptombildes ermöglicht. Erfaßt werden die vorhandenen vegetativen und psychischen neuroserelevanten Beschwerden des Patienten. Die Summen der angegebenen Beschwerden bildet den testkritischen Wert, den Neurotizismuswert. Die Protokollierung erfolgt durch den Patienten selbst, indem er vorliegende Items mit Ja oder Nein ankreuzt. Grundlage des BFB bilden empirische Befunde, die besagen, daß Patienten mit neurotischen Störungen viel spezifischere und eine höhere Zahl an körperlichen und psychischen Beschwerden angeben, als Patienten mit organischen Störungen.
Bei der Patientin konnte kein Hinweis auf das Vorliegen einer funktionell neurotischen Störung nachgewiesen werden. Frau S. gab sieben körperliche und vier psychische
Beschwerden an. Der ermittelte Neurotizismuswert liegt damit bei 11 deutlich unter dem Grenzwert von 24 für ihre Altersstufe.
Das leichte Überwiegen der durch die Patientin angegebenen somatischen Beschwerden läßt sich durch die größere vegetative Irritation in der Zeit des Klimakteriums begründen, in dem sich die Patientin, ihrem Alter nach, mit hoher Wahrscheinlichkeit befindet. Hier ist eine fachliche Abklärung durch einen Spezialisten, Gynäkologen, zu empfehlen.
CIDI - Composite International Diagnostic Interview ( Sektion D)
Der Fragebogen CIDI dient der Erfassung der diagnostischen Kriterien nach ICD 10 für Angststörung. Wir beziehen uns im folgenden auf das internationale Klassifikationssystem psychischer Störungen (ICD 10), welches klinisch- diagnostische Leitlinien enthält. Mit Hilfe des CIDI werden auslösende Faktoren und Situationen der Angstanfälle, Auftrittshäufigkeit, Belastungsgrad, Stärke und Art der Symptomatik erfragt. Des weiteren werden vorhandene Bewältigungsstile ermittelt.
Die Patientin gab folgende Situationen und Faktoren, die für andere nicht bedrohlich sind, als angstauslösend an:
- wenn sie auf Toilette müsse (vor allem bei kleineren Veranstaltungen und Bussen)
- antizipierte Angst vorm Fliegen
- Angst eine Spritze zu bekommen und zum Zahnarzt zu gehen
Die Angstanfälle äußern sich durch folgende Symptome:
- Atemnot oder Beklemmungsgefühle
- Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen
- Erstickungsgefühle
- Empfand Dinge um sich herum als unwirklich ( Derealisationsphänomen)
- Empfand die Befürchtung sterben zu können
Dabei empfindet sie , die Angst auf Toilette gehen zu müssen als Minderung ihrer Lebensqualität. Die Flugangst und die Angst vor Spritzen und vorm Zahnarzt beschreibt sie als belastend.
Die Patientin gibt an, daß die Angstanfälle seit mehreren Jahren bestehen, diese jedoch selten auftreten. Für solche Situationen hat die Patientin Bewältigungsstrategien entwickelt und weder einen Arzt zu rate gezogen noch Medikamente eingenommen. Laut ICD10 erfüllt die Patientin hinsichtlich der Flugangst alle Kriterien für eine spezifische (isolierte) Phobie ( F40.2 ). Dies bedeutet:
- Die psychischen oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn oder Zwangsgedanken beruhen.
- Die Angst muß auf die Anwesenheit eines bestimmten phobischen Objektes oder eine spezifische Situation begrenzt sein.
- Die phobische Situation wird - wann immer möglich - vermieden.
Ebenfalls zeigt sie das Störungsbild einer leichten sozialen Phobie (F40.1). Entsprechend ICD10 sind folgende Symptome zu registrieren:
- Die psychischen, Verhaltens- und vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn und Zwangsgedanken beruhen.
- Die Angst muß auf bestimmte soziale Situationen beschränkt sein oder darin überwiegen.
- Wenn möglich, Vermeidung der phobischen Situationen.
Biographische Anamnese
Die Ausführungen beziehen sich auf die gemachten Angaben der Patientin. Die Patientin wurde in Oppeln (Oberschlesien) geboren. Ihren leiblichen Vater habe sie nie kennengelernt. Aufgrund des Krieges zog die Familie nach Breslau und floh im Winter 1944/45 aus dieser Stadt. Während der Flucht erkrankte sie, ohne Folgeerscheinungen davon zu tragen, schwer. Die Mutter lernte nach dem Krieg ihren zweiten Ehemann kennen. Die Patientin besuchte zu dieser Zeit die Grundschule in Zwickau. Das Lernen fiel ihr leicht. Sie bedurfte keinerlei Unterstützung. Die Patientin habe ihre Mutter wegen ihrer besonderen Tatkraft in schwierigen Situationen immer bewundert. Die Beziehung zu ihrem Stiefvater sei in den ersten Jahren harmonisch gewesen; sie fühlte sich akzeptiert. Schwieriger sei der Umgang mit den angeheirateten Großeltern gewesen. Diese habe sie als steif und humorlos erlebt. Sie hätten stets mit Verboten erzogen.
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- Quote paper
- Dipl. Psychologe Jörg Hartig (Author), 1998, Psychodiagnostik "Modell-Gutachten", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26705
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