Die Digitalisierung ermöglicht Partizipation in hohem Maße. Ziel dieser Arbeit ist es zu analysieren, inwieweit diese Erwartungen realistisch sind. Welche Möglichkeiten und Grenzen ergeben sich für die Beteiligung an der Stadtplanung?
Im ersten Kapitel gehe ich der Frage nach, was unter Partizipation verstanden wird.
Der Begriff stammt aus der Politikwissenschaft, in welcher verschiedene Theorien
zur Partizipation entwickelt worden sind. Einigkeit besteht darin, dass Partizipation
neben Freiheit und Gleichheit eine Grundvoraussetzung von Demokratie und unabdingbar
für die Legitimation demokratischer Entscheidungen ist. Die konkrete Ausgestaltung
von Partizipation ist jedoch vom jeweiligen Demokratieverständnis abhängig.
Da Stadtplanung und Stadtentwicklung nicht unabhängig von der Einbettung
in das jeweilige politische System begriffen werden können, ist es von Bedeutung, die
politischen und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingung zu kennen, in denen Beteiligungsprozesse
vollzogen werden.
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Partizipation in der Stadtplanung. Um
ein Verständnis für die Praxis von Partizipation zu bekommen, ist es mir wichtig, sie
in den historischen Kontext einordnen zu können. Wie deutlich werden wird, haben
sich sowohl das Aufgabenspektrum der Stadtplanung als auch die Ansprüche und
Realisierung von Beteiligung ständig erweitert. In jüngerer Vergangenheit jedoch sind
durchaus Brüche und gegenläufige Entwicklungen im Hinblick auf die Gewährung
von Partizipation festzustellen. Gleichzeitig kann heute eine Unterscheidung zwischen
formellen Beteiligungsverfahren einerseits und informellen Beteiligungsformen
andererseits getroffen werden, woraus sich sehr unterschiedliche Anforderungen und
Erwartungen an Partizipation ergeben. Zur Bestimmung der Möglichkeiten und
Grenzen von Beteiligung spielen des weiteren Faktoren wie die Entwicklung von
bürgerschaftlichem Engagement und sozialer Ungleichheit eine besondere Rolle.
Auf der Grundlage der ersten beiden Kapitel gehe ich im dritten Kapitel der Frage
nach, inwieweit die Hoffnungen auf verbesserte Partizipationsmöglichkeiten durch
den Einsatz neuer Medien berechtigt sind. Anhand der Thesen einer „elektronischen
Demokratie“ werde ich erste praktische Erfahrungen der Planungsbeteiligung durch
neue Medien auf ihre eventuell verbesserte Teilhabe hin untersuchen.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Partizipation und Demokratie
1.1 Grundlagen der Demokratietheorie
1.2 Normatives versus instrumentelles Demokratieverständnis
1.2.1 Elitäres Demokratieverständnis
1.2.2 Egalitäres Demokratieverständnis
1.3 Repräsentative versus direkte Demokratie
1.3.1 Direkte Demokratie der Schweiz
1.3.2 Repräsentative Demokratie der BRD
1.4 Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation
2. Partizipation in der Stadtplanung
2.1 Geschichte von Partizipation in der Planung
2.1.1 Stadtplanung im Wandel
2.1.2 Entwicklung von Partizipation in der Planung
2.2 Partizipation in der Planung heute
2.2.1 Aufgaben der Planung und formelle Beteiligung
2.2.2 Neue Planungsverfahren und informelle Beteiligung
2.3 Möglichkeiten und Grenzen informeller Partizipation
2.3.1 Erwartungen und Anforderungen an informelle Verfahren
2.3.2 Bürgerschaftliches Engagement in der Zivilgesellschaft
2.3.3 Soziale Ungleichheit und Partizipation
3. Neue Partizipationschancen durch neue Medien?
3.1 Neue Medien und „Elektronische Demokratie“
3.2 Neue Medien in der Planungsbeteiligung
3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Partizipation durch Neue Medien
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einführung
Dem Einsatz neuer Medien, wie z.B. Internet oder Computersimulationen, im Rahmen von Beteiligungsverfahren in der Planung wird zunehmend Aufmerksamkeit zuteil. Mit der verstärkten Verbreitung des Internet als Informations- und Kommunikationsmedium verbinden sich Hoffnungen, Partizipationsmöglichkeiten durch die Erleichterung des Informationszugang und direkter Kommunikation zu verbessern. Ziel dieser Arbeit ist es zu analysieren, inwieweit diese Erwartungen realistisch sind.
Im ersten Kapitel gehe ich der Frage nach, was unter Partizipation verstanden wird. Der Begriff stammt aus der Politikwissenschaft, in welcher verschiedene Theorien zur Partizipation entwickelt worden sind. Einigkeit besteht darin, dass Partizipation neben Freiheit und Gleichheit eine Grundvoraussetzung von Demokratie und unabdingbar für die Legitimation demokratischer Entscheidungen ist. Die konkrete Ausgestaltung von Partizipation ist jedoch vom jeweiligen Demokratieverständnis abhängig. Da Stadtplanung und Stadtentwicklung nicht unabhängig von der Einbettung in das jeweilige politische System begriffen werden können, ist es von Bedeutung, die politischen und zeitgeschichtlichen Rahmenbedingung zu kennen, in denen Beteiligungsprozesse vollzogen werden. Darüber hinaus ist es mir wichtig zu erfahren, welche Möglichkeiten und Grenzen von Partizipation aus politikwissenschaftlicher Sicht gesehen werden.
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Partizipation in der Stadtplanung. Um ein Verständnis für die Praxis von Partizipation zu bekommen, ist es mir wichtig, sie in den historischen Kontext einordnen zu können. Wie deutlich werden wird, haben sich sowohl das Aufgabenspektrum der Stadtplanung als auch die Ansprüche und Realisierung von Beteiligung ständig erweitert. In jüngerer Vergangenheit jedoch sind durchaus Brüche und gegenläufige Entwicklungen im Hinblick auf die Gewährung von Partizipation festzustellen. Gleichzeitig kann heute eine Unterscheidung zwischen formellen Beteiligungsverfahren einerseits und informellen Beteiligungsformen andererseits getroffen werden, woraus sich sehr unterschiedliche Anforderungen und Erwartungen an Partizipation ergeben. Zur Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen von Beteiligung spielen des weiteren Faktoren wie die Entwicklung von bürgerschaftlichem Engagement und sozialer Ungleichheit eine besondere Rolle.
Auf der Grundlage der ersten beiden Kapitel gehe ich im dritten Kapitel der Frage nach, inwieweit die Hoffnungen auf verbesserte Partizipationsmöglichkeiten durch den Einsatz neuer Medien berechtigt sind. Anhand der Thesen einer „elektronischen Demokratie“ werde ich erste praktische Erfahrungen der Planungsbeteiligung durch neue Medien auf ihre eventuell verbesserte Teilhabe hin untersuchen.[1]
1. Partizipation und Demokratie
„People ... associate the very concept of democracy with the activity of participating in government decision making. Although many do little more than vote, the term embraces much more.“[2] Partizipation, abgeleitet vom spätlateinischen „participatio“, bedeutet wörtlich Beteiligung im Sinne von Teilnahme als auch Teilhabe. Partizipation, oder Bürgerbeteiligung, ist einer der Schlüsselbegriffe politikwissenschaftlicher Theorie als auch politischer Praxis und meint hier die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß einer Gesellschaft. Bürgerbeteiligung gilt als ein Kernprinzip demokratisch verfasster Gesellschaften und es besteht heute in der Politikwissenschaft grundsätzlich Einigkeit über das Recht auf Partizipation sowie deren funktionale Notwendigkeit.[3]
Doch ebenso wie die Auffassungen über die Reichweite, den konkreten Zweck und die tatsächliche Ausgestaltung von Partizipation weit auseinandergehen, sind auch die institutionelle Verankerung und die angestrebte Reichweite politischer Partizipation je nach politischem System sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Gründe dafür sind u.a. die verschiedenen zugrundeliegenden Demokratieauffassungen, der jeweilige gesellschaftsgeschichtliche Kontext sowie das spezifische Verhältnis von Politik und Gesellschaft im Land. „Wer also Partizipation angemessen erfassen will, kann dies nicht ohne die Erörterung der kontroversen demokratietheoretischen Grundsatzpositionen tun.“[4]
Dieses Kapitel fragt in diesem Sinne nach dem Verhältnis von Partizipation und Demokratie aus politikwissenschaftlicher Sicht. Zu Beginn steht eine kurze Einführung in die Grundbegriffe von Demokratie - Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit – und ihrer Bedeutung für Partizipation. Daran schließt sich eine Gegenüberstellung zweier Demokratietheorien, die sich jeweils aus sehr verschiedenen Blickwinkeln mit der Reichweite und Ausgestaltung von Partizipation befassen und anhand derer die Grundpositionen in der Diskussion um Partizipation deutlich werden. Im Mittelpunkt des dritten Teils steht der Vergleich der verfassten Partizipationsmöglichkeiten in den beiden Grundtypen von Demokratie: die direkte Demokratie am Beispiel der Schweizer Referendumsdemokratie und die repräsentative Demokratie am Beispiel des politischen Systems der BRD. Den Schluss des Kapitels bildet eine Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation.
1.1. Grundlagen der Demokratietheorie
Demokratie, vom griechischen „demos“ (Volk) und „kratein“ (herrschen), bedeutet wörtlich „Herrschaft des Volkes“ oder auch Herrschaft der Mehrheit, der Vielen. Sie grenzt sich somit ab zu anderen Herrschafts- oder Staatsformen, wie z.B. Monarchie oder Diktatur. Laut der berühmten Gettysburg-Formel Abraham Lincolns von 1863 ist Demokratie „government of the people, by the people, for the people“, d.h. eine Herrschaft, die aus dem Volk hervorgeht (of), die durch das Volk (by) und in seinem Interesse (for) ausgeübt wird. Die Interpretation und praktische Ausgestaltung dieser Prinzipien können sehr unterschiedlich ausfallen, wie dieses Kapitel zeigen wird. Demokratische Herrschaft gründet sich jedoch immer auf das Prinzip der Volkssouveränität, welche fordert, dass es im Staat keine höhere legitimierende Instanz als das Volk gibt. Es ist Verfassungsgrundsatz aller demokratischen Staaten, dass herrschaftliches Handeln immer auf den Willen des Volkes zurückgeführt werden muss.[5]
Mit der Idee und der Entwicklung von Demokratie als Volksherrschaft ist auch eng die Vorstellung von politischer Freiheit und Gleichheit verbunden. Mit den sich wandelnden Auffassungen dieser Begriffe hat sich auch der Kreis jener, die als frei und gleich angesehen und somit zum beteiligten Volk gerechnet wurden, verändert. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein hielt sich die Auffassung, dass Menschen von Natur aus ungleich seien und somit die Unterscheidung in Herrschende und Beherrschte, in Freie und Unfreie, der natürlichen bzw. gottgegebenen Ordnung entspricht. So war in der altgriechischen „polis“ Freiheit streng auf die öffentliche Sphäre begrenzt und politische Beteiligung das alleinige Privileg der männlichen, besitzenden Vollbürger. Erst in der Naturrechtslehre der Aufklärung wurde die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen postuliert und erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 verfassungspolitisch festgeschrieben. Auch die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution 1789, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, gründet sich auf der Überzeugung, dass alle Menschen nach ihrer Natur und unantastbaren Würde gleich sind, unabhängig von Religion, Rang und Stand.[6]
Im Zuge dieser Entwicklungen ging eine Aufwertung des Begriffs Demokratie einher, die sich von einer reinen Staatsformenlehre zum politischen und sozialen Ziel wandelte. Demokratie stand fortan für bürgerliche Autonomie- und Mitbestimmungsforderungen sowie für Bestrebungen und Ideen zur sozialen Gleichheit. Die graduelle Demokratisierung in vielen Staaten nach der Restauration im 19. Jh. war u.a. durch eine wachsende Integration der Bürger in das politische System geprägt. Dass Veränderungen im politischen System eines Staates Zeit brauchen und Demokratie immer nur unter dem Aspekt des „prozesshaft Unabgeschlossenen“ betrachtet werden kann, zeigt das Beispiel des Frauenwahlrechts: in den meisten modernen Staaten (erst) Anfang bis Mitte des 20 Jh. eingeführt, zählen Frauen in einigen Kantonen der Schweiz sogar erst seit den 1980er Jahren zum allgemeinen Wahlvolk.[7]
Heute sind Freiheit und Gleichheit als Teil der Grundwerte des demokratischen Zusammenlebens in fast allen demokratischen Verfassungen verankert. Beide Werte gehören hier zusammen, sie bedingen einander, begrenzen sich gegenseitig und dürfen nicht absolut gesetzt werden. „Demokratie bedarf einerseits eines hohen Grades an sozialer wie politischer Gleichheit; andererseits liegen ... gerade hierin die Gefahren für die Freiheit des einzelnen wie der Gesellschaft. Diese doppelte Widersprüchlichkeit steht seither im Zentrum der Partizipationsdiskussion.“[8]
Freiheit bedeutet in modernen Demokratien die Freiheit von unrechtmäßiger Gewalt, d.h. „von willkürlichen Beschränkungen der Handlungssphäre des Individuums durch den Staat oder durch Dritte.“[9] Allerdings ist Freiheit nicht Willkür, und die Grenzen zwischen Freiheit und Willkür dürfen nicht willkürlich gezogen werden. Freiheit bedeutet somit auch die gesellschaftliche Einschränkung der Freiheit des einzelnen im Interesse der Freiheit aller.
Ähnlich verhält es sich mit dem Grundwert der Gleichheit. In einer Demokratie bedeutet Gleichheit die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die grundsätzliche Gleichheit des Menschen in seiner Natur und Würde. Allerdings gilt auch hier: „Gleichheit herzustellen ist vornehmste Aufgabe des demokratischen Staates. Herstellung von Gleichheit bedeutet Eingriff in die Freiheit, denn uneingeschränkte Freiheit macht Gleichheit unmöglich.“[10]
Die Anerkennung der politischen Gleichheit findet sich u.a. in den Grundsätzen des demokratischen Wahlrechts wieder, die allgemein, frei, gleich und direkt durchgeführt werden sollen. Gleichheit meint allerdings nicht, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien oder gleich gemacht werden können. „Gleichheit besteht nicht in einer unterschiedlosen Gleichbehandlung aller in allen Beziehungen. Sondern nur das, was gleich ist, soll gleich behandelt werden. (...) Die Frage ist, welche Sachverhalte gleich sind und deshalb nicht ungleich geregelt werden dürfen.“[11]
Diese Frage führt zurück zu einem Grundproblem demokratischer Theorie und politischer (Beteiligungs-)Praxis: Die Tatsache, dass Menschen nicht in jeder Hinsicht als gleich angesehen werden können und die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse weitere Ungleichheiten erzeugen, bedeutet eine tendenzielle Gefährdung des Ideals, nach dem sich alle Mitglieder des Volkes frei und mit gleichen Chancen an der Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligen können. Betrachtet man die soziale Realität in vielen Staaten, und nimmt soziale Gleichheit als Voraussetzung für politische Gleichheit an[12], so wird sie dem Idealbild einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger kaum gerecht. „Freiheit und Gleichheit gehören zu jenen Zielvorstellung moderner Gesellschaftsordnungen, die zwar allgemein anerkannt werden und die bevorzugten Schlagworte der politischen Propaganda sind, jedoch nur zum Teil verwirklicht werden.“[13]
1.2 Normatives versus instrumentelles
Demokratieverständnis
In der Politikwissenschaft werden unter dem Begriff Partizipation die freiwilligen Handlungen der Bürgerinnen und Bürger verstanden, die mit dem Ziel unternommen werden, politische Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen bzw. unmittelbar an diesen Entscheidungen mitzuwirken.[14] Wie einleitend ausgeführt, besteht heute kein Zweifel mehr am allgemeinen Recht auf Partizipation in demokratischen Gesellschaften. Doch wie begründet sich das Postulat von und die Forderung nach mehr Partizipation in einer Demokratie? Welche unterschiedlichen Vorstellungen von Partizipation und deren Ausgestaltung haben die verschiedenen Demokratietheorien? Dieses Kapitel soll Antworten auf diese Fragen geben.
Wie schon erwähnt, gibt es nicht die eine Theorie zur Demokratie, sondern es existiert eine Vielzahl von Theorien und Erklärungsversuchen, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen und jeweils andere Begriffe und Zusammenhänge in den Vordergrund rücken. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist dabei, ob Demokratie „nur“ als eine Form der staatlichen Herrschaft gesehen (instrumentell) oder ob sie als eine Gesellschaftsform begriffen wird, die alle Lebensbereiche umfasst (normativ). Parallel dazu stehen sich auch in der Debatte um die Rolle von Partizipation zwei unterschiedliche Sichtweisen gegenüber:[15]
Ein instrumentelles bzw. zweckrationales Verständnis von Partizipation. Das zugrundeliegende elitäre Demokratieverständnis ist konfliktorientiert und basiert meist auf Repräsentation und demokratischer Elitenherrschaft. Politische Teilnahme der Bürger ist v.a. ein Mittel, um politische Entscheidungen zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen. „Es geht um Teilnahme, Wertberücksichtigung und Interessendurchsetzung.“[16]
Ein normatives Verständnis von Partizipation. Das zugrundeliegende egalitäre Demokratieverständnis ist konsensorientiert und kommunitär. Partizipation dient nach dieser Auffassung nicht nur der individuellen Bedürfnisbefriedigung und Interessendurchsetzung, sondern ist auch Ziel und Wert an sich. Das Verständnis von Partizipation geht dabei über die Sphäre des Politischen hinaus und zielt auf politisch-soziale Teilhabe in möglichst vielen Bereichen der Gesellschaft. „Es geht um Selbstverwirklichung im Prozess des direkt-demokratischen Zusammenhandelns.“[17]
Seit dem Beginn der Demokratisierung von Herrschaft stehen diese beiden Partizipationsverständnisse im Zentrum der theoretischen Kontroversen und politischen Konflikte um die konkrete Ausgestaltung von Partizipation. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Kombinationen zwischen diesen extremen Positionen herausgebildet, z.B. pluralistische oder neokorporatistische Demokratietheorien. Die Grundprobleme, mit denen sich die partizipationstheoretischen Positionsbestimmungen immer wieder auseinandersetzen, sind folgende:[18]
Aufwandsproblem: Wie können Kosten an Ressourcen und Zeit für Partizipation mit den Möglichkeiten des einzelnen in Einklang gebracht werden?
Komplexitätsproblem: Ob und inwieweit erfordert die Komplexität der Entscheidungsgegenstände spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten und begrenzt damit Möglichkeiten und Formen der Partizipation?
Homogenitäts-/Heterogenitätsproblem: Ob und inwieweit sind bestimmte Formen der Partizipation an gesellschaftliche Homogenität und/oder an einen Basiskonsens gebunden?
Gleichheitsproblem: Wie wirkt sich der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Gleichheit auf die Partizipationschancen und -gestaltung aus?
Größenproblem: Inwieweit erfordert die Größe eines Staates (sowohl territorial als auch bevölkerungsmäßig repräsentative Strukturen bzw. inwieweit ist direkt-demokratische Partizipation möglich?
Im folgenden einige Antworten auf diese Fragen von Vertretern des elitären Demokratieverständnisses im Kontrast zu den Vertretern des egalitären Demokratieverständnisses.
1.2.1 Elitäres Demokratieverständnis
Die Theorien mit einem elitären Verständnis von Demokratie gründen sich u.a. auf die Theorie der Führerdemokratie Max Webers, die Ökonomische Demokratietheorie Anthony Downs und das Elitenmodell Peter Schumpeters. „Die Anhänger der elitären Demokratietheorie gehen von der empirischen Erfahrung aus, dass auch unter der Bedingung demokratischer Mehrheitsherrschaft die politischen Entscheidungen überwiegend von Minderheiten gefällt werden.“[19] Sie sehen in dem Phänomen demokratischer Elitenherrschaft allerdings keinen Nachteil, sondern erheben es zur Methode.
Der demokratische Anspruch reduziert sich im Sinne dieser Theorien auf eine formale, instrumentelle Methode der Herrschaftsbestellung von Eliten.[20] Vor allem die ökonomischen Demokratietheorien gehen von der Demokratie als Markt aus, auf welchem professionelle, konkurrierende politische Eliten („Unternehmer“) in freiem Wettbewerb um freie Stimmen („Kunden“) werben. Mittels dieser Art „politischer Arbeitsteilung“ hat das Volk das Recht zu bestimmen, welcher Elite es erlaubt ist, auf Zeit zu regieren. Entgegen dem Anspruch des permanenten Mitspracherechts in anderen Theorien wird das Volk hier zwischen den Wahlen zu einer „nicht sprech- und handlungsfähigen Bevölkerungsmehrheit“[21]
Elitäre Theorien favorisieren in ihrer engen Auslegung von Demokratie die Regulierung gesellschaftlicher Konflikte durch Repräsentation und andere Formen der Institutionalisierung. Sie betonen dementsprechend die Bedeutung der Formalisierung und Generalisierung von Partizipation, welche vorrangig als Akt der „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann) und als Mittel der Übertragung von Handlungsvollmacht an die politischen Eliten gesehen wird. Partizipation bleibt auf die Sphäre des Politischen beschränkt, wird also nur bedingt auf weitere gesellschaftliche Bereiche ausgeweitet.[22]
Eine Begründung für die Bedenken gegen weitreichende politische Beteiligung ist die Forderung nach dem effizienten Funktionieren des Staates, d.h. Teilnahme wird v.a. unter dem Gesichtspunkt der Stabilität des Systems beurteilt Partizipation habe tendenziell eine effizienzbeeinträchtigende Wirkung, könnte das Funktionieren von Gesellschaften stören und würde eher zur Unzufriedenheit und zu Konflikten anstacheln. In diesem Zusammenhang wird auch auf die technische Unmöglichkeit der Umsetzung umfassender Partizipation verwiesen.[23] „Entscheidungsprozesse sind ... Prozesse des Ausscheidens anderer Möglichkeiten. Sie erzeugen mehr Neins als Jas, und je rationaler sie verfahren, je umfassender sie andere Möglichkeiten prüfen, desto größer wird ihre Negationsrate. Eine intensive engagierte Beteiligung aller daran zu fordern, hieße Frustration zum Prinzip machen. Wer Demokratie so versteht, muss in der tat zu dem Ergebnis kommen, dass sie mit Rationalität unvereinbar ist.“[24]
Als ein weiteres Argument zur Beschränkung politischer Beteiligung führen Vertreter dieser Theorierichtung die aus ihrer Sicht mangelnde Kompetenz der Bürger an. In ihrem Menschenbild bezweifeln sie die von normativen Theorien angenommene „Selbstverwandlungsfähigkeit des Menschen vom eigennützigen bourgeois zum gemeinschaftlichen citoyen durch demokratische Partizipation.“[25] Laut ihrem Verständnis ist der Bürger hauptsächlich durch individuelle, fixierte Präferenzen definiert und ein rational seinen Nutzen verfolgender Konsument. Da die individuellen Interessen durch gesellschaftliche Institutionen und Einflüsse außerhalb des politischen Bereichs geformt werden, ist Demokratie demnach ein Mechanismus, welcher diese Interessen „zu entscheidungsfähigen Alternativen bündelt.“[26] Das Wettbewerbsprinzip dient dabei als „Versicherung“ der Wählerwünsche.
Die elitären Demokratietheoretiker sehen sich in ihrer Sicht u.a. durch die Ergebnisse der wahlsoziologischen Forschung bestätigt, wonach politische Partizipation von den Bürgern mehrheitlich als Pflicht begriffen und als instrumenteller Akt angesehen wird. „Aufgrund des geringen politischen Interesses wie der begrenzten Informationen und Kenntnisse der Bürger seien vernünftige Entscheidungen bei direktdemokratischer Partizipation wenig wahrscheinlich und die Politik insgesamt unkalkulierbar.“[27] Aufgrund der bestehenden ungleichen Zugangsvoraussetzungen zur effektiven Partizipation würden sich die politische und gesellschaftliche Ungleichheit sogar noch wechselseitig verschärfen. Diesen Tendenzen könne nur durch eine starke gesellschaftliche Interessenorganisation, durch repräsentative Institutionen und eine verantwortungsbewusste Elitenkonkurrenz begegnet werden.[28]
Besonders in modernen Elitentheorien werden auch Argumente für Partizipation geäußert, die sich allerdings größtenteils auf ihren Beitrag zur Stabilisierung des politischen Systems beziehen. Partizipation in Maßen kann z.B. die Responsivität und Legitimität von politischen Institutionen erhöhen und eignet sich besonders zur Implementierung von Entscheidungen und zur Reduzierung bzw. Beilegung von Konflikten. „Public participation is undertaken to attain the ends of system maintenance without satisfying the extraneous needs and desires of the individual participant.“[29]
Der elitären Demokratietheorie wurde aus verschiedenen Gründen auch vehemente Kritik zuteil. Zum einen wird ihr entgegengehalten, dass man Politik nicht als Markt begreifen kann und politische Konkurrenz nicht mit wirtschaftlicher Konkurrenz gleichzusetzen ist. Demokratie sei nicht nur Markt, „sondern Markt und Forum. Dort werden folglich Güter und Argumente gehandelt.“[30] Außerdem herrsche in der Realität durchaus keine freie Konkurrenz, da die Durchlässigkeit der Eliten von unten nach oben sehr zugunsten privilegierter Bevölkerungsschichten beschränkt sei. Des weiteren seien das Menschenbild der elitären Theorie als auch die These vom rationalen Wähler eine zu große Vereinfachung der Wirklichkeit.[31]
Vieler dieser Kritikpunkte, besonders ein anderes Verständnis von Demokratie und ein sehr unterschiedliches Menschenbild, finden sich in den Theorien des egalitären Demokratieverständnisses wieder.
1.2.2 Egalitäres Demokratieverständnis
Theorien mit einem egalitären Demokratieverständnis, wie z.B. die partizipatorische[32] oder direkte Demokratie, streben nach der „Beteiligung möglichst vieler über möglichst vieles, und zwar im Sinne von Teilnehmen, Teilhaben, und seinen-Teil-Geben einerseits, innerer Anteilnahme am Geschehen und Schicksal des Gemeinwesens andererseits.“[33] Partizipation ist nach dieser Auffassung die moralische und funktionale Voraussetzung zur Gewährleistung zentraler demokratischer Werte, wie Volkssouveränität und politische Gleichheit, und wird als Verbesserung der Demokratie angesehen.
Die partizipatorischen Theorien basieren auf der normativen Vorstellung einer möglichst weitgehenden politischen und sozialen Gleichheit und dem uneingeschränkten Mitspracherecht des Bürgers an den ihn betreffenden Entscheidungen. Aus dieser Sicht widerspricht nicht nur die staatliche sondern auch jede private Herrschaft über Menschen prinzipiell der Menschenwürde, wenn sie nicht durch die Zustimmung der Beherrschten legitimiert ist. Partizipatorische Theorien fordern somit mehr als jede andere Demokratietheorie, die Beteiligung an der Aussprache, der Willensbildung und der Entscheidungsfindung über öffentliche Angelegenheiten zu vertiefen und zu intensivieren.[34]
Damit einher geht der Anspruch, die Demokratie der politischen Ordnung zur Demokratie der Gesellschaft weiter zu entwickeln. Demokratie ist nicht vorrangig Staatsform oder Markt, sondern sie wird als eine möglichst weit zu verallgemeinernde „Lebensform“ (Barber) oder „Seinsweise“ (Benhabib) angesehen. Konkret bedeutet dies auch die Demokratisierung jener gesellschaftlichen Sphären, die bisher noch nicht der demokratischen Verfassung unterstehen, wie weite Bereiche der Arbeitswelt, der Ausbildungssektor oder die Privatsphäre. Demgemäß sollte z.B. wirtschaftliche Macht nicht die Möglichkeit bieten, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen.[35]
Diese Forderungen nach Maximierung der Partizipationschancen gründen sich u.a. auf dem gesellschaftlichen und ethischen Wert, den diese Theorien Beteiligung beimessen. Betont werden in diesem Zusammenhang u.a. die erzieherische Funktion der Demokratie und die Selbstverwirklichung des Bürgers im Vorgang der Beteiligung. Dieser Vorstellung liegt der Glaube zugrunde, dass Partizipation an der Entscheidungsfindung das moralische und intellektuelle Wachstum fördert, und dass Menschen über die Beteiligung an demokratischen Prozessen „Demokratie lernen“.[36] Möglichst vielfältige individuelle Partizipationserfahrungen sind somit wichtiger Bestandteil der persönlichen und sozialen Entwicklung jedes Individuums. Sie verbessern die demokratischen Bildungschancen und sie verleihen dem Menschen die Möglichkeit zur Selbstverwaltung und die Fähigkeit zu gemeinwohlorientiertem Entscheiden. Denn durch demokratische Lern- und Aufklärungsprozesse wird gemäß dieser Auffassung eine höhere Sensibilität für die eigenen Interessen als auch für die anderer entwickelt, wodurch auch mehr Verantwortung für die Belange des Gemeinwesens entwickelt wird. Das Menschenbild der partizipatorischen Demokratie betont dabei, anders als in elitären Theorien, „dass der durchschnittliche Bürger zu mehr und besserer Beteiligung befähigt sei, oder dass er hierfür durch entsprechende Organisation des Willensbildungsprozesses befähigt werden könnte.“[37] Die empirisch belegte mehrheitliche Selbstbezogenheit, Apathie und Entfremdung der Wähler wird hier nicht auf mangelndes Interesse oder fehlende Kompetenz der Bürger zurückgeführt. Diese Phänomene seien vielmehr das Produkt begrenzter Mitwirkungschancen im politischen Diskurs, die v.a. durch Restriktionen politischer Institutionen und demokratischer Praxis bestimmt werden. Die Forderungen nach weitreichender Dezentralisierung politischer Entscheidungsfindung und der Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten gründen sich u.a. auf diese Überzeugung.[38]
Ein weiterer wichtiger Aspekt egalitärer Demokratietheorie ist die These, dass der politische Wille jedes Bürgers dem Willensbildungs- und Entscheidungsprozess nicht vorgelagert, sondern ein Produkt desselben sei. Die individuellen Präferenzen werden aus der Sicht der partizipatorischen Demokratie also nicht außerhalb des politischen Bereichs geformt, sondern erst durch die öffentliche Aussprache, Willensbildung und der dabei erfolgenden Aufklärungsprozesse hervorgebracht, geformt und verändert. Viele egalitäre Demokratietheorien betonen aus diesem Grund die Wichtigkeit fairer und präzise einzuhaltender Verfahren zur Willensbildung und Entscheidungsfindung, um ein Höchstmaß an authentischer Beteiligung und Verständigung erreichen zu können.[39]
Der Hauptkritikpunkt am egalitären Demokratieverständnis ist das „Primat des Normativen.“[40] Oft werden die Soll-Werte unrealistisch hoch gesteckt und sind zu wenig erfahrungswissenschaftlich abgesichert. Es fehlen Aussagen dazu, unter welchen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen partizipatorische Demokratie entwickelt und aufrechterhalten werden kann. Die Maximierung politischer Beteiligung wird ohne Frage nach der Effizienz, möglichen Zielkonflikten und eventuellen Qualitäts- oder Folgeproblemen politischer Entscheidungen postuliert. „Die Leistungen und Schwächen der Demokratie sind nicht nur mit Blick auf die Willensbildung und den Konfliktaustrag zu erörtern, sondern auch hinsichtlich der politischen Steuerung, der Staatstätigkeit. Wird letzteres unterbelichtet, wie in den partizipatorischen Demokratietheorien, schrumpft der potenzielle Ertrag der Theorie.“
Extreme Kritiker sehen in der Umsetzung partizipatorischer Demokratie sogar eine Bestandsgefährdung bestehender Demokratien. Im Sinne elitärer Theorien bringt übermäßige Beteiligung nicht nur Bürgertugenden hervor, sondern kann auch die politische Ordnung destabilisieren. Durch den „Überschuss“ an Ansprüchen gegenüber dem politischen System werde „die erforderliche Balance zwischen Konflikt und Konsens sowie zwischen Aktivismus und Apathie unterminiert.“[41]
Des weiteren wird der partizipatorischen Demokratietheorie ein unrealistisches, zu optimistisches Menschenbild vorgeworfen. „Sie übersehe, dass der Bürger ein Maximierer individuellen Eigennutzens und nur unter speziellen Bedingungen zu gemeinwohlorientierter Kooperation willens und fähig sei.“[42] Nicht nur die politische Kompetenz und das individuelle Interesse werden überschätzt, sondern auch die verfügbaren (Zeit-)Ressourcen des durchschnittlichen Bürgers. Die Beschaffung von Informationen bedeutet Aufwand und ist kostspielig, was oft in keiner Relation zum Nutzen der Beteiligung steht. Partizipatorische Demokratie bietet demnach keinen ausreichend hohen Gewinn in den Augen der Bürger, die ihre Kosten-Nutzen-Rechnung gegenüber dem repräsentativen System anstellen.[43]
Es wird ebenfalls übersehen, dass die Belohnung und der Anreiz zur politischen Beteiligung in der Gesellschaft höchst unterschiedlich verteilt sind. Dies stellt die dauerhafte Motivation der Bürger, als weitere wichtige Bestandsbedingung partizipatorischer Demokratien, in Frage. Gleichwertige demokratische Beteiligung erfordert, dass „die Stimmen der Bürger in der Politik klar, laut und gleich sein müssten. ‚Klar’, so dass die Politiker wissen, was die Bürger wollen und brauchen; ‚laut’, so dass die Politik überhaupt auf sie hört; und ‚gleich’, so dass das Ideal gleicher Responsivität erreicht wird. Wie eine große empirische Beteiligungsstudie allerdings gezeigt hat, sind diese Bedingungen nur teilweise erfüllt: ‚the public’s voice ist often loud, sometimes clear, but rarely equal.’“[44]
Zusammenfassend kann man egalitäre und elitäre Demokratietheorien v.a. nach folgenden Kriterien unterscheiden:[45]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3 Repräsentative versus direkte Demokratie
Zu Beginn dieses Kapitels wurde auf das demokratische Prinzip der Volkssouveränität hingewiesen, welches fordert, dass herrschaftliches Handeln immer auf den Willen des Volkes zurückgeführt werden muss. Eine interessante Frage dabei ist, wie sich diese Forderung im staatlichen Handeln komplexer Gesellschaften verwirklichen lässt.
Ebenso wie unterschiedliche Theorien zur Demokratie existieren, gibt es auch eine Vielzahl von Formen und Ausprägungen demokratisch verfasster Staatswesen. Sie werden in der Politikwissenschaft nach verschiedenen Kriterien unterschieden, z.B. nach der Gesellschaftskonzeption, dem Politikstil oder den demokratischen Entscheidungsmustern. Betrachtet man sie nach der Art der Beteiligung, kann man heute grundsätzlich zwei Formen von Demokratie unterscheiden:[46]
Die direkte Demokratie, in welcher das Volk im Rousseauschen Sinne die Herrschaft „über sich“ unmittelbar ausübt, indem es Gesetze selbst beschließt sowie Regierung und Gerichte bestellt und kontrolliert. Im engeren Sinn würde dies eine permanent tagende Volksversammlung in kleinsten staatlichen Einheiten erfordern, ähnlich der griechischen „polis“. In den heutigen direktdemokratisch regierten Staatengemeinschaften wird die Selbstregierung jedoch über Volksabstimmungen zu wichtigen Entscheidungen und über gewählte Beauftragte ausgeübt, die an ein formales Mandat gebunden sind und jederzeit abgewählt werden können.
Die mittelbare, repräsentative Demokratie, in welcher ein souveränes Volk die Herrschaftsausübung auf Repräsentanten überträgt, die in seinem Namen für eine bestimmte Zeit die Verantwortung für Gesetzgebung und Regierung übernehmen. Die Volksvertreter verstehen sich als freie Repräsentanten des ganzen Volkes, d.h. sie sind anders als in direkten Demokratien freie Mandatsträger und nicht an lokale oder partikulare Interessen gebunden. Aus diesem Grund ist ein wesentliches Merkmal und Voraussetzung für den Bestand repräsentativer Demokratien eine „Herrschaft auf Zeit“: in periodischen Legitimationsakten (Wahlen) muss diese Herrschaft, unter der Voraussetzung von Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit, immer wieder bestätigt werden.
Bei den dargestellten Demokratieformen handelt es sich um idealtypische Unterscheidungen, die in dieser reinen Form in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Ebenso wie in direkten Demokratien meist auch repräsentative Elemente existieren, weisen repräsentativ-verfasste Staatswesen immer auch plebiszitäre Züge auf.[47]
Im folgenden werden zwei reale Beispiele für die dargestellten Idealformen von Demokratie einander gegenübergestellt, mit besonderem Fokus auf die in ihnen gebotenen Möglichkeiten zur Partizipation. Zu Beginn steht eine Betrachtung der Verfahrensweise, der Stärken und Schwächen der Direktdemokratie am Beispiel des politischen Systems der Schweiz. Daran schließt sich eine Einführung in das repräsentative Staatssystems der BRD. Da die Beteiligung in der Stadtplanung, als Fokus dieser Arbeit, hauptsächlich auf kommunaler Ebene ansetzt, wird diese detaillierter betrachtet.
1.3.1 Direkte Demokratie der Schweiz
„In den vormodernen Demokratien war Demokratie als Volksherrschaft gedacht. In großen Flächenstaaten ist dieses Demokratiemodell nicht praktikabel. Selbst wenn jeder Bürger zur Beratung und Beschließung einer wichtigen Entscheidung nur 10 Minuten sprechen dürfte, müssten in einem nur 1000 Vollbürger umfassenden Staatswesen alle 167 Stunden zuhören. Unterstellt man einen Acht-Stunden-Tag käme man auf mehr als 20 Beratungstage. ... Will man größere Staaten dennoch demokratisch verfassen, ist der Einbau repräsentativ-demokratischer Einrichtungen unabdingbar. Das schließt direkt-demokratische Institutionen nicht aus.“[48]
Dieses Zitat verdeutlicht, dass in modernen Massendemokratien das Ideal der Vollversammlung aller Bürger für die demokratische Entscheidungsfindung aus organisatorischen und zeitlichen Gründen nicht umsetzbar ist. Hinzu kommt, dass es in den komplexen sozialen und ökonomischen Strukturen moderner Verfassungsstaaten kaum einfache Entweder-Oder-Fragen für die Gesetzgebung gibt, die sich für Beratungen in Volksversammlungen eignen würden. Aus diesem Grund wird in direkt-verfassten Staaten die Volksherrschaft hauptsächlich über zwei Institutionen ausgeübt: über gewählte Delegierte, die an ein formales Mandat gebunden sind, sowie über Referenden und Volksinitiativen.[49]
Referendum und Volksinitiative wirken jeweils in verschiedene Richtungen:
Das Referendum, auch Plebiszit oder Volksabstimmung genannt, hat den Charakter eines Vetos, welches den Stimmberechtigten erlaubt, nach Abschluss des parlamentarischen Entscheidungsprozesses den Inhalt der Entscheidung anzugreifen. Das Instrument des Referendums erlaubt also die permanente Kontrolle des „Output“ der Politik durch das Stimmvolk. „Das Referendum ermöglicht sachfragenspezifische Opposition. Solche direktdemokratische Opposition kann den Fortschritt hemmen, wie Max Weber meinte, ... aber auch den Rückschritt.“[50] Da Gesetzgebungsvorhaben jederzeit durch ein Referendum bedroht werden können, versucht der Gesetzgeber möglichst frühzeitig, referendumsfähige Interessen in den Gesetzgebungsprozess einzubeziehen. Das Schweizer politische System habe sich somit z.B. in eine „permanente Verhandlungsdemokratie“ gewandelt, welche im Laufe der Geschichte wichtige Integrationsleistungen innerhalb der Gesellschaft vollbracht habe.[51]
In eine andere Richtung wirkt die Volksinitiative oder das Volksbegehren. Mit diesem Instrument kann ein Teil der Staatsbürger die Vorlage eines Gesetzes oder die Durchführung eines Volksentscheids verlangen und die politischen Führungsschichten zwingen, sich eines bestimmten Themas anzunehmen. Die Volksinitiative bietet somit die Möglichkeit des „Inputs“ in die Politik durch das Volk. Da dieses Instrument eine verbindliche Stellungnahme der Stimmbürger verlangt, wird ihr eine Stärkung der öffentlichen Meinungsbildung zugesprochen. Im Gegenzug ist allerdings der Organisations- und Finanzbedarf zur Initiierung und Bestreitung einer Volksinitiative so hoch, dass organisationsmächtige und konfliktfähige Interessengruppen hierdurch bevorteilt werden können.[52]
„Unangefochtener Spitzenreiter der Direktdemokratie in den modernen Staaten ist die Schweiz. Kein anderes Land bietet seinen Staatsbürgern so viele Beteiligungsgelegenheiten wie die Eidgenossenschaft.“[53] Wie groß der Abstand zur Direktdemokratie anderer Länder ist, veranschaulicht die Zahl nationaler Referenden im Zeitraum 1945-1998 (s. Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Nationale Referenden und Volksinitiativen 1945-1998 in ausgewählten Demokratien.
Angaben aus: Schmidt, 2000, S. 360.[54]
In der Schweiz ist die Direktdemokratie in ungewöhnlich starkem Maße ausgebaut. Dies trifft sowohl auf die nationale wie auf die Ebene der Kantone und Gemeinden zu. Allein auf Bundesebene stehen den Schweizer Bürgern vier direktdemokratische Instrumente zur Verfügung:[55]
Fakultatives Gesetzesreferendum: Als erste direkt-demokratische Institution auf Bundesebene 1874 eingeführt. Es können vom Parlament verabschiedete Gesetze dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden, wenn ein Begehren von 50.000 Stimmbürgern oder 8 Kantonen vorliegt.
Volksinitiative: Eingeführt 1891. Die Volksinitiative ermöglicht die Volksabstimmung über eine partielle Verfassungsänderung unter der Voraussetzung, dass ein vorausgehendes Begehren von 100.000 Stimmbürgern unterzeichnet wurde. Regierung und Parlament müssen bei Zustandekommen der Volksinitiative über die Verfassungsänderung neu beraten und gegebenenfalls einen Gegenvorschlag entwickeln. Beides wird sowohl dem Volk als auch den Kantonen zur Abstimmung vorgelegt.
Fakultatives Staatsvertragsreferendum: Eingeführt 1921. Vorgesehen zur Volksabstimmung über unbefristete internationale Verträge; seit 1977 auch über den Beitritt der Schweiz zu internationalen Organisationen und über Verträge zur multilateralen Rechtsvereinheitlichung.
Obligatorisches Referendum für sogenannte allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschlüsse: Eingeführt 1949. Es dient zur Abstimmung über alle Verfassungsänderungen sowie allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschlüsse, d.h. notstandsartige gesetzliche Regelungen mit befristeter Dauer. Letztere müssen bis ein Jahr nach Inkrafttreten dem Volk und den Kantonen zur Abstimmung vorgelegt werden, bei Ablehnung treten sie außer Kraft.
Auf Kantons- und Gemeindeebene sind die direkt-demokratischen Beteiligungsformen sogar noch weiter ausgebaut als auf Bundesebene. Neben der Gesetzesinitiative existiert hier auch das Finanzreferendum: In den meisten Kantonen sind Ausgabenbeschlüsse der Regierungen ab einem bestimmten Betrag einem obligatorischen Referendum unterworfen, in den übrigen Kantonen ist dies fakultativ möglich. Auch interkantonale Verträge bedürfen in den meisten Kantonsverfassungen der Abstimmung durch ein Referendum. Auf Gemeindeebene z.B. entscheiden die Bürger über Steuervorlagen sowie zahlreiche Angelegenheiten der öffentlichen Infrastruktur, der öffentlich finanzierten Bauvorhaben, der Finanzierung von Schulen und Krankenhäusern etc.
Der Direktdemokratie wird nachgesagt, sie mache mehr als andere Demokratien Ernst mit „government by the people.“ Zu den Erfolgen der Direktdemokratie in der Schweiz werden z.B. die erhöhte Responsivität der Politik, d.h. eine bessere Verbindung zur Basis, und die Erhöhung der Kontrollchancen durch das Volk gezählt. Des weiteren trägt direkte Demokratie zur Versachlichung der politischen Diskussion bei, da sich die Abstimmungen auf sachliche Fragen konzentrieren, d.h. nicht wie bei Wahlen auf die Regierung oder das System allgemein. Durch das Befassen mit den politischen Sachentscheidungen bei Abstimmungen leistet direkte Demokratie dabei auch einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung des Volkes. Die direktdemokratischen Instrumente tragen zudem zur Verbesserung der Integrationsfähigkeit des politischen Systems bei und können Gegengewichten zu starken Interessenverbänden schaffen.[56]
Zu den Schwachstellen der Direktdemokratie wird die Verkomplizierung des politischen Entscheidungsprozesses gerechnet. Der erschwerte und verlängerte Willensbildungs- und Entscheidungsprozess resultiert in hohen zeitlichen, sachlichen und sozialen „Konsensbildungskosten“. So sind rasche politische Reaktionen selten: die oftmals beklagte „helvetische Verzögerung“ in der Schweizer Politik. Dies zeigt, dass Direktdemokratie die Effektivität und Effizienz der politischen Steuerung beträchtlich mindern kann.[57]
Des weiteren ist die direkte Demokratie keine Überwindung der Mehrheitsherrschaft, ganz im Gegenteil: sie sei sogar „ein scharfes mehrheitsdemokratisches Instrument – mit entsprechendem Potenzial zur Tyrannei der Mehrheit.“[58] Mit einem Volksbegehren beispielsweise erwirbt sich eine funktionale Minderheit, nämlich diejenigen, die sich eingetragen haben, das Recht zu fragen. Die Antwort darauf wird allerdings immer vom gesamten Stimmvolk, bzw. dessen Mehrheit gegeben. Das bedeutet zum einen, dass Volksentscheide immer nur das ausdrücken können, was in der jeweiligen Gesellschaft mehrheitsfähig ist. Und rein mehrheitsdemokratische Entscheidungen, wie jene in der Direktdemokratie, können potentiell zu Lasten von Minoritäten gehen. Zum anderen können Gruppen mit hoher Organisations- und Konfliktfähigkeit in direkten Demokratien mehr Einfluss als in Repräsentativdemokratien erlangen. Sie bietet einen „Startvorteil“ für Partizipationswillige und –fähige, wobei es sich dabei meist um besser informierte und ausgebildete Bürger und eher die Habenden als die Nichthabenden handelt.[59] Das Problem der Mehrheitsherrschaft wird im Exkurs zur Kritik der Mehrheitsregel am Ende des 1. Kapitels nochmals aufgegriffen.
Hieran schließt sich ein weiterer Kritikpunkt, den Theodor Heuss einmal mit den Worten ausdrückte, Direktdemokratie sei eine „Prämie für Demagogen.“[60] Von diesem Standpunkt werden direkt-demokratische Verfahren als reine Instrumente demagogischer Werbung von Gefolgschaft und als Ursachen politischer Destabilisierung gewertet. Auch wenn dies nicht generell und für jedes direkt-demokratische Instrument gilt, so können Plebiszite nicht nur in Diktaturen durch Propaganda missbraucht werden, um ohne äußeren Zwang zu großen Mehrheiten zu gelangen. Direktdemokratie kann „bedrohlich für die Stabilität (eines Staates) werden, wenn die politischen Führer zur Demagogie neigen und das Volk mehrheitlich politisch wenig informiert und zugleich für aufputschende Propaganda anfällig ist.“[61] Diese Art der Demagogie und Manipulation wird v.a. im Hinblick auf die Möglichkeiten moderner Massenmedien geäußert.[62]
Von Verfechtern der direkten Demokratie wird diesen Vorwürfen entgegengehalten, dass die Volksgesetzgebung zum einen durch das „Prinzip des langsamen Verfahrens“ vor Stimmungsschwankungen geschützt ist. Teilweise ziehen sich plebiszitäre Verfahren jahrelang hin und gehen damit über kurzfristige Stimmungen hinweg. Direkte Demokratie ist nicht mit Demoskopie gleichzusetzen, sie ist keine augenblickliche Abfrage von Meinungen, sondern eine langsame Bildung eines staatsbürgerlichen Willens. Die Schweiz ist hierfür ein Beispiel: auch sie hat nachweislich Agitatoren und Volksverführer, diese sind allerdings nicht strukturbestimmend im politischen und gesellschaftlichen System.[63]
Von der Forschung werden heute v.a. die integrierenden und die strukturkonservierenden Funktionen der Direktdemokratie in der Schweiz betont. Eine sozial und politisch integrative Wirkung geht v.a. vom größeren Mitspracherecht, den hohen Mehrheitsschwellen und des damit gegebenen Minderheitenschutzes aus. Die konservativ-stabilisierende Funktion der Direktdemokratie besteht in ihrer Sicherung gegen weitergehende Staatseingriffe und Umverteilungen, durch welche z.B. die Kantone vor dem Bund geschützt werden. „Die Demokratie der Schweiz ist lehrreich. Man kann von ihr unter anderem lernen, dass eine starke Direktdemokratie auch in modernen Gesellschaftssystemen möglich ist und weder in die Anarchie noch in den Staat der permanenten Reform führen muss.“[64]
1.3.2 Repräsentative Demokratie der BRD
„Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates ... , die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen.“[65]
Anders als in direkten Demokratien überträgt in repräsentativ-verfassten Staatssystemen das Volk durch Wahlen die Herrschaft auf Volksvertreter, d.h. seine Repräsentanten. Diese Form der mittelbaren Volksherrschaft ist heute verfassungsrechtliche Norm in den meisten westlichen Demokratien, wo sie je nach Land mehr oder weniger durch direkt-demokratische Strukturen ergänzt werden.[66]
Die Bundesrepublik Deutschland zählt im internationalen Vergleich zu den Ländern, in denen das repräsentativdemokratische Element auf Bundesebene stark, das direktdemokratische eher schwach ausgeprägt ist. Wie aus Artikel 20 des Grundgesetzes hervorgeht, übt das Volk seine Herrschaft streng repräsentativ über die Wahlen zum Bundestag aus; in der Zeit zwischen diesen Legitimationsakten wird sein Wille durch Abgeordnete vertreten. Bisher ist auf Bundesebene nur eine direktdemokratische Abstimmung nach Art. 29 GG, d.h. im Fall der Neugliederung des Bundesgebiets, vorgesehen. Dieser Artikel fand z.B. bei der Gründung des Bundeslandes Baden-Württemberg 1952 Anwendung. Als ein weiteres „schwach direktdemokra-tisches“ Instrument des Grundgesetzes wird von einigen Autoren das Kollektiv-petitionsrecht nach Art. 17 GG angese-hen, es wird „mitunter als eine schwache Variante einer Volksinitiative gedeutet.“[67]
Die schwache Ausprägung von direktdemokratischen Strukturen auf Bundesebene muss im Hinblick auf die deutsche Geschichte gesehen werden. „Das Erschrecken der Verfassungsväter des Grundgesetzes darüber widerspiegelnd, welche verhängnisvolle Rolle bei der Zerstörung der Weimarer Republik der agitatorische Missbrauch der plebiszitär-demokratischen Verfahren gespielt hatte, erkannte die neue Bundesverfassung dem Bundesvolk praktisch keine direkt-demokratischen Rechte zu.“[68] In der Weimarer Republik hatte eine Kombination aus Volksentscheiden und Volksbegehren, aus der Volkswahl des Präsidenten und dem fast uneingeschränkten Recht des Präsidenten zur Parlamentsauflösung sowie Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers zu großer Instabilität und schließlich Handlungsunfähigkeit des Staates geführt. Auch im Nationalsozialismus wurden Volksabstimmungen manipulativ missbraucht, wie z.B. die Volksbefragungen zum Austritt aus dem Völkerbund 1933 oder zur Übernahme des Reichspräsidentenamts durch Hitler 1934.[69]
Als Konsequenz aus diesen Erfahrungen wurden im deutschen Grundgesetz 1949 „Sicherungen“ gegen solche potentiellen Destabilisierungen verankert: die starke und unabhängige Stellung des Bundeskanzlers, die Schwächung der Stellung des Präsidenten, der Verzicht auf jegliche plebiszitären Elemente, eine allgemeine Grundrechtverbürgung und die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollfunktion. Der politisch-gesellschaftliche Aufbruch der späten 1960er Jahre hinterließ zwar tiefreichende Spuren im Politik- und Demokratieverständnis der BRD, hatte allerdings keine Ergänzung des Grundgesetzes durch direktdemokratische Institutionen zur Folge.[70]
In Hinsicht auf Konfliktregelung und Entscheidungsfindung besteht in der BRD ein Nebeneinander von einerseits mehrheitsdemokratischen Elementen, v.a. infolge des Parteienwettbewerbs auf Bundes- und Länderebene, und andererseits verhandlungsdemokratischen Strukturen, die u.a. in der bundesstaatlichen Gliederung verankert sind. Im parlamentarischen Regierungssystem der BRD nehmen die Parteien eine Schlüsselposition ein: nicht nur bei der Regierungsbildung und -ausübung, sondern auch bei der politischen Willensbildung des Volkes. Aus diesem Grund sind Parteienpluralismus und Koalitionsfreiheit wichtige Voraussetzungen für das langfristige Bestehen des repräsentativ-demokratischen Systems.[71]
Am deutschen Regierungssystem wird immer wieder die „Kanzlerdominanz“ oder auch „Kanzlerhegemonie“ kritisiert. Die Position des Kanzlers sei so stark, dass Bundestagswahlkämpfe eher Personalplebiszite für einen politischen Führer als Sachplebiszite für oder gegen politische Inhalte seien. In der Folge hat auch der Bundestag keine andere Möglichkeit, als den Wahlsieger auch zum Kanzler zu wählen.[72]
Interessant im Hinblick auf die von der Regierung eingeräumten Möglichkeiten zur Partizipation ist der Prozess der deutschen Einheit: die DDR trat der BRD nicht nach Art. 146 GG bei, welcher die Möglichkeit einer vom Volk beschlossenen neuen Verfassung enthält. Der Beitritt erfolgte vielmehr nach Art. 23 GG, der eine Akzeptanz des Grundgesetzes voraussetzt und somit ein gesamtdeutsches Plebiszit oder die Ausarbeitung einer neuen Verfassung erübrigte. „Damit wurde die historische Chance einer Verfassungsgebung durch das Volk selbst zu diesem Zeitpunkt nicht genutzt.“[73]
Bundestag und Bundesrat setzten in Erfüllung eines Auftrags aus dem Einigungsvertrag eine Gemeinsame Verfassungskommission ein, welche von 1992 bis 1994 über mögliche Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes beriet. Neben dem Konsens über die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder das Benachteiligungsverbot für Behinderte fand sich in der Kommission allerdings keine verfassungsrechtliche Mehrheit für die Einführung sozialer Grundrechte, für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages und für Bestimmungen zu Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Ein Grund dafür war, dass CDU, CSU und FDP die Aufnahme direkter Demokratiemethoden mit Hinweis auf die deutsche Geschichte grundsätzlich ablehnten.[74]
Insgesamt kann man in der deutschen Politiklandschaft sehr widerstrebende politische Tendenzen feststellen: auf der einen Seite vermehrte Forderungen nach Möglichkeiten der politischen Partizipation in Form von plebiszitären Mitbestimmungen, auf der anderen Seite die traditionell-konservativen Positionen mit Forderung nach Souveränität staatlichen Handelns. Vor diesem Hintergrund sind auch die aktuell geführten Diskussionen um die Ergänzung der Verfassung durch direkt-demokratische Elemente zu sehen. Am 21.02.2002 wurde von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wie in ihrem Koalitionsvertrags 1998 festgelegt, ein „Gesetzentwurf zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz“ in den Bundestag eingebracht. Das vorgeschlagene Volksgesetzgebungsverfahren ist dreistufig aufgebaut:[75]
1. Eine Volksinitiative zur Einbringung eines Gesetzesentwurfs der Bürger in den Bundestag. Von den Initiatoren müssen dafür 400.000 Unterschriften von wahl- und stimmberechtigten Bürgern gesammelt werden. Das Parlament kann nach Befassung der Gesetzesvorlage zustimmen, sie ablehnen oder ein ähnliches Gesetz verabschieden.
2. Stimmt das Parlament dem Vorschlag der Volksinitiative innerhalb von acht Monaten nicht zu, kann von den Initiatoren ein Volksbegehren durchgeführt werden. Als Unterstützung sind die Unterschriften von 5 Prozent der Stimmberechtigten (ca. 3 Mio.) erforderlich. Kommt das Begehren zustande, hat das Parlament sechs Monate Zeit, über die Gesetzesvorlage abzustimmen.
3. Findet das Gesetz keine Mehrheiten im Parlament, kommt es nach sechs Monaten zum Volksentscheid. Das Gesetz ist angenommen, wenn sich 20 Prozent der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt haben, und die Mehrheit davon dem Gesetz zugestimmt hat. Verfassungsänderungen erfordern ein höheres Beteiligungsquorum[76] von 40 Prozent der Stimmberechtigten sowie eine Zweidrittel-Mehrheit der Abstimmenden.
Da es sich bei diesen Vorschlägen um eine Verfassungsänderung handelt, wird für die Verabschiedung des Gesetzes auch die Zustimmung der Unionsparteien benötigt. Die bisher geführten Diskussionen im Bundestag verlaufen entlang der alten, oben erwähnten Konfliktlinien und es bleibt abzuwarten, ob in den nächsten Monaten ein Konsens über dieses Thema möglich ist.
Einigkeit herrscht bei den politischen Parteien darüber, dass es sich bei diesen direkten Beteiligungsmöglichkeiten nur um eine Ergänzungen des repräsentativen Systems handeln kann, nicht um seine Ersetzung durch Direktdemokratie. „Überdies entstünden größte Spannungen, wenn eine Direktdemokratie nach Schweizer Art mit dem Primat der Verfassung und der Verfassungsgerichtbarkeit nach deutscher Spielart zusammenstieße und auf die Weise die ‚Volkssouveränität‘ mit der ‚Verfassungssouveränität‘ aneinander geriete. (...) Ausgebaute Direktdemokratie verträgt sich wenig mit starker Repräsentativdemokratie, funktionsfähigem Parteienwettbewerb und kräftiger Zügelung der Legislative und Exekutive durch ein mächtiges Verfassungsgericht.“[77] Als weiteres Bedenken wird die mögliche Unterhöhlung des Föderalismus durch direktdemokratische Institutionen genannt, wenn nicht wie in der Schweiz zwischen Gliedstaaten und Gemeinden ebenfalls plebiszitäre Sicherungen gegen Eingriffe von oben und unten eingebaut sind. Das heißt, ihr Einbau nur auf nationaler Ebene kann eine Zurückdrängung des Parlamentarismus zur Folge haben und damit die Beweglichkeit der Politik gegenüber neuen Herausforderungen mindern.[78]
Direktdemokratische Instrumente sollen die Kontrolle und Erneuerung des repräsentativen Systems verstärken; sie eignen sich dabei v.a. „zur Legitimation einfacher Entscheidungen von großem verfassungspolitischem Gewicht, und sparsam eingesetzt, zur Kontrolle deutlicher Divergenzen zwischen organisierter Politik und der tatsächlichen Wählermeinung. Für die Bewältigung der Quantität und Komplexität der laufenden Entscheidungsproduktion moderner politischer Systeme sind die Instrumente der direkten Demokratie aber ungeeignet.“[79]
[...]
[1] Ich habe mich entschieden, der besseren Lesbarkeit wegen in dieser Arbeit nur die männliche Form zu verwenden.
[2] Webler et al, 1995, S. 17.
[3] Nohlen, 2001, S. 51. Schmidt, 2000, S. 363. Bauer, 1993, S. 31. Nohlen, 1998, S. 396.
[4] Nohlen, 1998, S. 397.
[5] Drechsler et al, 1995, S. 184. Nohlen, 1998, S. 37. Nohlen, 2001, S. 51. Jung et al, 2001, S. 676.
[6] Drechsler et al, 1995, S. 311 und S. 357. Bauer, 1993, S. 56.
[7] Nohlen, 1998, S. 37-38. Webler et al, 1995, S. 17-18.
[8] Zitat: Nohlen, 2001, S. 402. Vgl. auch Drechsler et al, 1995, S. 359.
[9] Bauer, 1993, S. 58.
[10] Drechsler et al, 1995, S. 359.
[11] K. Hesse zitiert in Drechsler et al, 1995, S. 357.
[12] Drechsler et al, 1995, S. 359.
[13] Drechsler et al, 1995, S. 357.
[14] Jung et al et al, 2001, S. 698. Bauer, 1993, S. 37.
[15] Frevel, 1995, S. 77. Webler et al, 1995, S. 21. Nohlen, 2001, S. 363. Nohlen, 1998, S. 398.
[16] Nohlen, 2001, S. 363.
[17] Nohlen, 2001, S. 363.
[18] Nohlen, 1998, S. 400.
[19] Nohlen, 1998, S. 42.
[20] Was unter einer „Elite“ verstanden wird, ist wissenschaftlich sehr umstritten. Übereinstimmung gibt es nur darüber, dass es sich um eine Minderheit handelt, die dem Rest der Gesellschaft überlegen ist und durch Auslese zustande kommt. Unterschieden wird u.a. zwischen Werteliten, Funktionseliten und Machteliten. (vgl. Nohlen, 2001, S. 73)
[21] Zitat: Nohlen, 1998, S. 43. Vgl. auch Bauer, 1993, S. 34. Schmidt, 2000, S. 198. Webler et al, 1995, S. 22.
[22] Nohlen, 1998, S. 43 und S. 402. Bauer, 1993, S. 34.
[23] Bauer, 1993, S. 33. Nohlen, 1998, S. 402.
[24] Luhmann zitiert in: Thomaßen, 1988, S. 17.
[25] Nohlen, 1998, S. 402.
[26] Zitat: Schmidt, 2000, S. 257. Vgl. auch Webler et al, 1995, S. 22. Nohlen, 1998, S. 402.
[27] Nohlen, 1998, S. 403.
[28] Nohlen, 1998, S. 403. Schmidt, 2000, S. 257.
[29] Webler et al, 1995, S. 23.
[30] Schmidt, 2000, S. 211.
[31] Bauer, 1993, S. 35-36. S 223
[32] Dazu zählen auch die unterschiedlichen Lehren und Schulen partizipatorischer Demokratie mit jeweils eigenen Akzenten, wie z.B. expansive (Warren), starke (Barber), dialogische (Giddens) oder deliberative (Fishkin, Habermas) Demokratie.
[33] Schmidt, 2000, S. 251.
[34] Schmidt, 2000, S. 251. Webler et al, 1995, S. 21.
[35] Schmidt, 2000, S. 252ff. Drechsler et al, 1995, S. 187. Nohlen, 1998, S. 402.
[36] Schmidt, 2000, S. 254. Webler et al, 1995, S. 22.
[37] Schmidt, 2000, S. 257.
[38] Nohlen, 1998, S. 404. Schmidt, 2000, S. 257.
[39] Schmidt, 2000, S. 257 und S. 259. Vgl. auch Diskurstheorie von Habermas in Webler et al, 1995, S. 35-77.
[40] Schmidt, 2000, S. 261.
[41] Schmidt, 2000, S. 262.
[42] Schmidt, 2000, S. 263.
[43] Lüttringhaus, 2000, S. 154.
[44] Schmidt, 2000, S. 267-268.
[45] Schmidt, 2000, S. 256 (Tabelle sinngemäß nach Bachrach).
[46] Drechsler et al, 1995, S. 186. Vgl. auch Nohlen, 2001, S. 53 und S. 438.
[47] Nohlen, 2001, S. 53.
[48] Schmidt, 2000, S. 355.
[49] Drechsler et al, 1995, S. 186 und S. 193.
[50] Schmidt, 2000, S. 367.
[51] Drechsler et al, 1995, S. 629. Schmidt, 2000, S. 367. Als Beispiele werden genannt: die Kooptation der katholisch-konservativen und der Bauernopposition sowie die Einbindung der Sozialdemokratie in die Verhandlungsdemokratie der Schweiz.
[52] Drechsler et al, 1995, S. 847.
[53] Schmidt, 2000, S. 359.
[54] Die Auswahl der Länder erfolgte nach absteigender Anzahl der nationalen Referenden, BRD als Vergleich.
[55] Schmidt, 2000, S. 364f.
[56] Jung et al, 2001, S. 66-67. Schmidt, 2000, S. 366.
[57] Schmidt, 2000, S. 366 und S. 372 und S. 518.
[58] Schmidt, 2000, S. 391.
[59] Jung et al, 2001, S. 56. Schmidt, 2000, S. 371.
[60] zitiert in: Schmidt, 2000, S. 362.
[61] Schmidt, 2000, S. 363. Als ein Beispiel wird die weit ausgebaute plebiszitäre Demokratie im US-Bundesstaat Kalifornien angeführt, wo plebiszitäre Verfahren vielfach als Mittel zur Ausgrenzung von Missliebigen und der Abwehr staatlich vermittelter Sozialintegration eingesetzt werden (z.B. Verweigerung öffentlicher Dienstleistungen an illegal Zugewanderte, Proposition 187 im November 1994). Vgl. Schmidt, 2000, S. 371.
[62] Drechsler et al, 1995, S. 186 und S. 629-630. Schmidt, 2000, S. 363 und S. 371.
[63] Jung et al, 2001, S. 57. Schmidt, 2000, S. 370.
[64] Zitat: Schmidt, 2000, S. 369. Vgl. auch Schmidt, 2000, S. 363 und S. 370.
[65] Fraenkel zitiert in Nohlen, 2001, S. 437.
[66] Drechsler et al, 1995, S. 193.
[67] Zitat Schmidt, 2000, S. 356. Drechsler et al, 1995, S. 186 und S. 193. Bundeszentrale..., 1998, S. 31.
[68] Wollmann, 1998, S. 135. Interessant ist, dass dies von Vertretern der Direktdemokratie anders gesehen wird. Für sie führte die „obsessive Angst vor Attacken der Kommunisten“ zu dieser „klassischen Kalte-Kriegs-Entscheidung.“ Die negativen Weimarer Erfahrungen als Grund gehörte jedoch aus Gründen der besseren Argumentationskraft bald „zum eisernen Bestand des politischen Katechismus der Bundesrepublik Deutschland.“ Jung et al, 2001, S. 27.
[69] Schmidt, 2000, S. 361-362. Drechsler et al, 1995, S. 194.
[70] Drechsler et al, 1995, S. 194. Schmidt, 2000, S. 361-362. Frevel, 1995, S. 82. Wollmann, 1998, S. 136.
[71] Schmidt, 2000, S. 317 und S. 517 und S. 521. Jung et al, 2001, S. 78.
[72] Schmidt, 2000, S. 314 und S. 356. Drechsler et al, 1995, S. 194-195.
[73] Zitat aus Drechsler et al, 1995, S. 630. Schmidt, 2000, S. 355-356.
[74] Drechsler et al, 1995, S. 394 und S. 630.
[75] vgl. Deutscher Bundestag 2002.
[76] Das Quorum bestimmt die Höhe der Mindestbeteiligung der Stimmberechtigten, um Zufallsmehrheiten bei einer Abstimmung zu vermeiden. Das heißt konkret, für das Zustandekommen eines Volksentscheids reicht die Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden nicht aus, sondern es muss ihm ein bestimmter Prozentsatz der Abstimmungs berechtigten zustimmen. (Bundeszentrale..., 1998, S. 31.)
[77] Schmidt, 2000, S. 372. Vgl. auch Jung et al, 2001, S. 80.
[78] Schmidt, 2000, S. 372.
[79] Scharpf zitiert in Schmidt, 2000, S. 370.
- Citation du texte
- Antonia Vettermann (Auteur), 2002, Partizipation in der Stadtplanung - Möglichkeiten und Grenzen neuer Medien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26518
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