"Reformstau" und "Blockadepolitik" – diese Schlagworte fallen häufig, wenn es um die derzeitige
Zustandsbeschreibung bundesdeutscher Politik geht, vor allem auf dem Gebiet der
Arbeits- und Sozialpolitik. Dass eine grundlegende Reform des Sozialstaates notwendig ist,
damit der Staat handlungsfähig bleiben kann, sei es im Bereich des Gesundheitswesens, des
Arbeitsmarktes oder im Rentensystem, ist kaum umstritten. Doch welche Gründe sind dafür
verantwortlich, dass es trotzdem derart schwierig ist, Reformen in Deutschland durchzuführen
und vor allem auch sie durchzusetzen?
Auch andere westeuropäische Staaten1 standen oder stehen vor der Herausforderung ihre Sozialsysteme
zu reformieren. Doch scheinen andere Staaten hierbei, zumindest auf den ersten
Blick, erfolgreicher zu sein als die Bundesrepublik. So vermochten Instrumente wie das Zeitarbeitsmodell
aus den Niederlanden oder die Idee einer stärker kundenorientierter Stellenve rmittlung
in Schweden die Arbeitslosenquoten in den betreffenden Staaten binnen weniger
Jahre radikal zu senken. Auch Gesundheitswesen und Rentensystem wurden in diesen Lä ndern
reformiert.2
In der vorliegenden Arbeit soll nun untersucht werden, inwieweit Deutschland im Vergleich
mit den Niederlanden und Schweden überhaupt reformfähig ist. Hierbei soll eine Antwort auf
die Frage gefunden werden, ob und in welcher Weise Reformen überhaupt zustande kommen
und durchgesetzt werden können, nicht darauf, ob diese dann auch das gewünschte Ergebnis
brachten.
Die Grundlage des Vergleichs bildet dabei das Konzept der Verhandlungsdemokratie. Dieses
Konzept eignet sich hervorragend für vergleichende Untersuchungen, da hier sowohl Messkonzepte
als auch international vergleichende Daten vorliegen. Des Weiteren beinhaltet es
zahlreiche verfassungstheoretische Aspekte und es handelt sich um einen der am weitesten
entwickelten Erklärungsansätze der empirischen Demokratieforschung. 3 [...]
1 Die Bezeichnung "westeuropäische Staaten" bezieht sich auf den politischen Begriff, nicht auf den
geographischen
2 Vgl. Pötzl, Norbert F.: Klare Verhältnisse. In: Der Spiegel. Heft 20/2003. S. 46-49.
3 Vgl. Czada, Roland: Demokratietypen, institutionelle Dynamik und Interessenvermittlung: Das Konzept der
Verhandlungsdemokratie. In: Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.): Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung.
Wiesbaden 2002. S. 294.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einführung
2. Das Konzept der Verhandlungsdemokratie
2.1. Konkordanz
2.2. Korporatismus
2.3. Politikverflechtung
3. Politikverflechtung und Reformunfähigkeit in Deutschland
3.1. Politikverflechtung in der Bundesrepublik
3.2. Reformpolitik in der Bundesrepublik am Beispiel Bündnis für Arbeit
4. Reformpolitik in den Niederlanden
4.1. Überblick über das politische System der Niederlande
4.2. Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme in den Niederlanden
5. Reformpolitik in Schweden
5.1. Überblick über das politische System Schwedens
5.2. Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme in Schweden
6. Fazit
1. Einführung
"Reformstau" und "Blockadepolitik" – diese Schlagworte fallen häufig, wenn es um die derzeitige Zustandsbeschreibung bundesdeutscher Politik geht, vor allem auf dem Gebiet der Arbeits- und Sozialpolitik. Dass eine grundlegende Reform des Sozialstaates notwendig ist, damit der Staat handlungsfähig bleiben kann, sei es im Bereich des Gesundheitswesens, des Arbeitsmarktes oder im Rentensystem, ist kaum umstritten. Doch welche Gründe sind dafür verantwortlich, dass es trotzdem derart schwierig ist, Reformen in Deutschland durchzuführen und vor allem auch sie durchzu setzen ?
Auch andere westeuropäische Staaten[1] standen oder stehen vor der Herausforderung ihre Sozialsysteme zu reformieren. Doch scheinen andere Staaten hierbei, zumindest auf den ersten Blick, erfolgreicher zu sein als die Bundesrepublik. So vermochten Instrumente wie das Zeitarbeitsmodell aus den Niederlanden oder die Idee einer stärker kundenorientierter Stellenvermittlung in Schweden die Arbeitslosenquoten in den betreffenden Staaten binnen weniger Jahre radikal zu senken. Auch Gesundheitswesen und Rentensystem wurden in diesen Ländern reformiert.[2]
In der vorliegenden Arbeit soll nun untersucht werden, inwieweit Deutschland im Vergleich mit den Niederlanden und Schweden überhaupt reform fähig ist. Hierbei soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob und in welcher Weise Reformen überhaupt zustande kommen und durchgesetzt werden können, nicht darauf, ob diese dann auch das gewünschte Ergebnis brachten.
Die Grundlage des Vergleichs bildet dabei das Konzept der Verhandlungsdemokratie. Dieses Konzept eignet sich hervorragend für vergleichende Untersuchungen, da hier sowohl Messkonzepte als auch international vergleichende Daten vorliegen. Des Weiteren beinhaltet es zahlreiche verfassungstheoretische Aspekte und es handelt sich um einen der am weitesten entwickelten Erklärungsansätze der empirischen Demokratieforschung.[3] Dass die Auswahl der Vergleichsländer hierbei nicht willkürlich erfolgt, sondern sich logisch aus diesem Konzept erschließt, wird im Zuge dessen Vorstellung begründet werden, die Gegenstand des folgenden Kapitels ist. Anschließend wird die Reformpolitik Deutschlands mit der der Niederlande und der Schwedens verglichen, wobei zunächst jeweils das politische System skizziert wird, um anschließend auf dieser Basis auf die jeweilige Reformpolitik im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einzugehen. Der Schwerpunkt des Vergleichs wird dabei auf den 1980er und 1990er Jahren liegen. Zum Abschluss der Arbeit wird ein Fazit gezogen.
2. Das Konzept der Verhandlungsdemokratie
Um Missverständnissen beim Gebrauch des Begriffes Verhandlungsdemokratie vorzubeugen ist es zu Beginn der Untersuchung notwendig, klar festzulegen, wie er in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Eine kurze und einprägsame Definition findet man bei Roland Czada. Er bezeichnet Demokratien dann als Verhandlungsdemokratien, wenn „wesentliche politische Entscheidungen nicht mit Stimmenmehrheit, sondern auf dem Wege von Aushandlungsprozessen getroffen werden“.[4] Hierbei ist nach Czada zu berücksichtigen, dass dies auch Entscheidungen umfasst, die nicht in direkten Verhandlungen, sondern vorausschauend aufgrund des Wissens der einzelnen Akteure um die Existenz eines mächtigen "Gegenspielers" im politischen System, getroffen werden.[5] Zentrales Merkmal einer Verhandlungsdemokratie ist also die große Bedeutung politischer Handlungsressourcen, die nicht aus Wahlen und Abstimmungen resultieren.
Czada unterscheidet drei wesentliche Ausprägungen der Verhandlungsdemokratie – Konkordanz, Korporatismus sowie konstitutionelle Vetostrukturen beziehungsweise Politikverflechtung, die nun vorgestellt werden.[6]
2.1. Konkordanz
In Konkordanz- beziehungsweise Proporzdemokratien[7] wird das Prinzip der Mehrheitsentscheidung zugunsten einer Art "gütlichen Einvernehmens" als zentrales Konfliktregelungsmuster ausgeschaltet. Institutionell abgesichert wird dieser Grundsatz in der Regel dadurch, dass die wichtigsten politischen Kräfte in der Exekutive vertreten sind und auch durch die Besetzung bedeutender Ämter in Politik und Gesellschaft ihren Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess sicherstellen.[8] Kennzeichnend für solche Systeme sind im Querschnitt über Jahrzehnte bestehende übergroße Regierungskoalitionen (mehr als 60 Prozent der Stimmen im Parlament[9]). Der Parteienwettbewerb ist in Konkordanzdemokratien gezügelt und wird durch die Konsensbildung in einem Kartell von Parteieliten ersetzt oder zumindest ergänzt. Beispiel hierfür ist die so genannte schweizerische Zauberforme l, nach der die Regierung aus allen wichtigen Parteien gebildet wird, unabhängig vom Ausgang der Wahlen. Ziel einer solchen Konstruktion ist es im Falle einer inhomogenen Wahlbevölkerung, wie sie in der Schweiz mit ihren vier verschiedenen Sprachgruppen zweifellos existiert, strukturelle Mehrheiten zu verhindern. Des Weiteren sollen sie dazu dienen, dass politische Entscheidungen nicht ausschließlich zu Lasten struktureller Minderheiten gehen und so die Legitimationsbasis der Politik in einer fragmentierten Gesellschaft erhalten bleibt.[10]
Auch die Niederlande gelten in der Literatur als Musterbeispiel einer Konkordanzdemokratie. Gleichzeitig werden sie in der Literatur auch als Vertreter des Subtyps des Korporatismus genannt.[11] Deswegen und aufgrund der Tatsache, dass die niederländischen Sozialreformen von einigen deutschen Politikern und Experten als vorbildhaft angesehen werden[12] sollen die Niederlande im Zuge dieser Arbeit näher auf ihre prinzipielle Reformfähigkeit untersucht werden.
Zuvor jedoch wendet sich die Untersuchung den beiden anderen Ausprägungen der Verhandlungsdemokratie zu, zunächst dem Korporatismus und anschließend der Politikverflechtung.
2.2. Korporatismus
Unter Korporatismus versteht man im Allgemeinen eine auf Kontinuität ausgerichtete Beteiligung von Interessensgruppen am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und zwar auf der Basis von Interorganisationsnetzwerken zwischen Regierung und politischer Verwaltung einerseits und zentralisierten gesellschaftlichen Verbänden andererseits.[14] Diese Einbindung der Verbände geht dabei über punktuelle Einflussmöglichkeiten oder bilaterale Konsultationen in verschiedenen Phasen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens hinaus. Es geht vielmehr um formalisierte und institutionalisierte Verhandlungsprozesse im Rahmen der Willensbildungs- und Entscheidungsfindung.[15] Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Konzertierung. Präziser ausgedrückt werden mit diesem Begriff in der Regel tripartistische, also dreiseitige, korporatistische Institutionen und Prozesse bezeichnet, die auf der Makroebene des politischen Systems angesiedelt sind und bei denen es um politikfeld übergreifende Probleme geht, gerade im Bereich der Sozialpolitik.[16] Dieser Typ des Korporatismus wird auch Makro- Korporatismus genannt und ist zu unterscheiden vom so genannten Meso -Korporatismus, der nur eine sektorale, also problemfeld spezifische Beteiligung von Verbänden, beispielsweise im Gesundheitswesen oder im Rentensystem, umfasst. Der Meso-Korporatismus ist vor allem in Deutschland traditionell sehr stark ausgeprägt.[17] [13]
Die Einbindung der zentralisierten und mit Repräsentationsmonopolen ausgestatten Verbände in die Willensbildungs- und Entscheidungsfindung gilt als gute Alternative zur pluralistischen Einflusspolitik, bei der eine Vielzahl von verschiedenen Interessengruppen jeweils für sich um Einfluss auf die staatliche Politik ringt. Der Staat zügelt somit auch Verteilungskonflikte zwischen Produzentengruppen. In als hoch korporatistisch klassifizierten Staaten wie beispielsweise Österreich oder Schweden sind die Verbände in der Regel vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik stark in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden.[18]
Am Beispiel Schwedens soll später erörtert werden, inwieweit sich der Makro-Korporatismus auf die Reformfähigkeit von Staaten auswirkt.
2.3. Politikverflechtung
Der Begriff Politikverflechtung bezeichnet eine von der Verfassung vorgegebene formelle Teilung der Regierungsmacht zwischen verschiedenen staatlichen Organen, deren Repräsentanten der gleichen Wählerschaft verantwortlich sind. Klassisches Beispiel hierfür ist die föderale Entscheidungsverflechtung im deutschen Bundesstaat zwischen Bundestag und Bundesrat. Diese Konstellation birgt die Gefahr der politischen Blockade, insbesondere bei unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen in den beiden Organen. Neben dieser föderalen Entscheidungsverflechtung sind aber auch diverse ähnliche Konstellationen denkbar wie etwa zwischen Regierung und Zentralbank oder zwischen Legislative und Verfassungsgericht. Man spricht dann von Vetospielern.[19] Das Vorhandensein solcher Vetomächte gilt in der Literatur allgemein als eine mehr oder weniger große Hürde für Reformpolitik, da sie den Staat fragmentieren und damit als Wirkungseinheit schwächen.[20]
Zwischen Konkordanzdemokratie und Korporatismus bestehen trotz diverser Unterschiede funktionale Ähnlichkeiten, da es bei beiden Subtypen der Verhandlungsdemokratie prinzipiell um die Organisation von Konsens im Schatten des Mehrheitsprinzips geht. Sie schließen sich gegenseitig auch nicht aus. Bestes Beispiel hierfür sind die Niederlande. Der Subtyp der Politikverflechtung ist von diesen beiden hingegen klar abzugrenzen. Die konstitutionelle Gewaltenteilung birgt die Gefahr, dass es im Falle der Nichteinigung zwischen den beteiligten Organen zur Nichtentscheidung kommt und damit zum Erhalt des status quo. In Fachkreisen spricht man in solchen Fällen von der Politikverflechtungsfalle. Parteienkonkordanz und Korporatismus können hingegen in dieser Situation prinzipiell durch alternative Entscheidungsverfahren, wie beispielsweise die Durchsetzung per Stimmenmehrheit im Parlament, ersetzt werden.[21]
[...]
[1] Die Bezeichnung "westeuropäische Staaten" bezieht sich auf den politischen Begriff, nicht auf den
geographischen
[2] Vgl. Pötzl, Norbert F.: Klare Verhältnisse. In: D e r Spiegel. Heft 20/2003. S. 46-49.
[3] Vgl. Czada, Roland: Demokratietypen, institutionelle Dynamik und Interessenvermittlung: Das Konzept der
Verhandlungsdemokratie. In: Lauth, Hans-Joachim (Hrsg.): Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung. Wiesbaden 2002. S. 294.
[4] ebd. S. 294.
[5] Vgl. ebd. S. 294f.
[6] Vgl. ebd. S. 295
[7] Die beiden Begriffe werden synonym verwendet, wobei Konkordanzdemokratie der modernere Begriff ist.
[8] Vgl. Lehmbruch, Gerhard: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Stuttgart 1976. S. 7.
[9] Dies ist ein Richtwert und kann durchaus etwas nach unten abweichen
[10] Vgl. Czada. S. 298f.
[11] Vgl. ebd. S. 298
[12] Vgl. Pötzl, Norbert F. S. 46ff. sowie Jochem, Sven/Siegel Nico A.: Konzertierung, Verhandlungsdemokratie
und wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik. In: dies. (Hrsg.): Konzertierung, Verhandlungsdemokratie und Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat. Das Modell Deutschland im Vergleich. Opladen 2003. S. 7ff.
[13] Die Analysen beschränken sich auf korporatistische Politikprozesse in wirtschaftlich entwickelten
Demokratien. Ältere Formen des Korporatismus in Autokratien sind nicht von Interesse. In dieser Arbeit ist deshalb bei Verwendung des Begriffes Korporatismus der präzisere Begriff Neo-Korporatismus gemeint.
[14] Vgl. Czada. S. 300f.
[15] Vgl. Jochem/Siegel. S. 13.
[16] Vgl. ebd. S. 13 f.
[17] Czada sieht in dieser, auf sektoraler Ebene angesiedelten Form des Korporatismus, die Gefahr einer
empfindlichen Störung der makrokorporatistischen Konzertierung von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern zur Erreichung volkswirtschaftlicher Ziele, insbesondere wenn der sektorale Korporatismus die wechselseitige Abschottung von Politikfeldern verstärkt. Dies ist der Fall, wenn autonome korporatistische Politiknetzwerke etwa in der Gesundheitspolitik entstehen, die gegenüber den Zielen einer gesamtwirtschaftlich abgestimmten Politik, andere Positionen vertreten und behaupten.
[18] Vgl. ebd. S. 301f.
[19] Weitere mögliche Vetospieler sind Staatsoberhaupt, Koalitionsparteien, Streitkräfte, aber auch direkt-
demokratische Beteiligungsrechte.
[20] Vgl. Czada. S. 303f.
[21] Vgl. ebd. S. 306ff.
- Arbeit zitieren
- Urban Kaiser (Autor:in), 2003, Reformfähigkeit des Sozialstaates - Die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit den Niederlanden und Schweden - auf Grundlage des Konzeptes der Verhandlungsdemokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26512
-
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