Und wenn sie nicht gestorben sind… dann haben sie nochmal Glück gehabt! Im Kampf des Guten gegen das Böse gehen Märchenfiguren über Leichen. Es wird gefoltert, gemordet, verbrannt und zerstückelt. Da wird eine kannibalistische Hexe am Ende in den brennenden Backofen geschubst, eine böse Königin muss in rotglühenden Pantoffeln tanzen und ein faules Mädchen wird zur Strafe in siedendes Pech getaucht. Märchen sind voll von ausführlichen Gewaltdarstellungen.
Wie grausam sind Märchen wirklich? Welche Folgen haben diese Gewaltdarstellungen auf die kindliche Entwicklung? In diesem Buch finden Sie Antworten auf diese Fragen.
Aus dem Inhalt:
Ursprüngliche Funktion des Märchens
Rechtsgeschichte und kulturhistorische Relativität von Grausamkeit
Grausame Sachverhalte, subtile und kontextabhängige Grausamkeiten
Grausamkeit in exemplarischen Märchen und ihr Wandel
Das kindliche Verständnis von Grausamkeiten in Märchen
Inhaltsverzeichnis
Kerstin Prinz: Grausamkeit im Märchen
Einleitung
Hauptteil
Schluss
Literaturverzeichnis
Jeannine Richter: Grausamkeit in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – Der Tanz in den rotglühenden Schuhen
Einleitung
Die Sammlung der Brüder Grimm
Das Volksmärchen
Die Grausamkeit in den Märchen der Brüder Grimm
Grausamkeit in exemplarischen Märchen und ihr Wandel
Fazit
Literaturverzeichnis
Paolo Parisi: Kannibalismus in Märchen und Sagen
Einführung
Kategorien von Kannibalismus
Kannibalismus in Märchen und Sagen
Kannibalismus als Metapher in der Vorstellungswelt der Märchen und Sagen
Schluss
Literaturverzeichnis:
Ina Böttcher: Grausamkeiten im Märchen – Welche Wirkung haben sie auf Kinder? Eine Analyse des deutschen Volksmärchens Hänsel und Gretel
Einleitung
Theoretischer Hintergrund
Grausamkeiten im Volksmärchen
Untersuchung
Auswertung
Fazit
Literaturliste
Anhang
Claudio Seipel: Grausamkeiten in Märchen. Wie gehen Kinder damit um? – Eine Fallstudie
Einführung
Theoretischer Hintergrund
Methodendiskussion
Untersuchung
Untersuchungsablauf
Datendokumentation
Zusammenfassung der Kinderbefragung
Auswertung
Untersuchungsergebnis
Schlusswort
Literatur
Kerstin Prinz: Grausamkeit im Märchen
Einleitung
„In keiner anderen Erzählgattung wird so viel geköpft, zerhackt, gehängt, verbrannt oder ertränkt wie im Märchen.“ (Enzyklopädie des Märchens[1])
Scheinbar ungeniert bedient sich das Märchen einer großen Zahl verschiedenster Darstellungen von Grausamkeit und Gewalt. Selbst in der letzten, stark überarbeiteten Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm fände sich eine erschreckende Zusammenstellung von Grausamkeiten. Anscheinend aber seien zahlreiche Züge von Grausamkeit nicht aus der Sammlung der KHM genommen worden, weil sie wesentlich zum Grundbestand der Erzählungstypen gehörten.[2]Dafür spricht, dass die Darstellung von Grausamkeit durchaus nicht auf die Erzählungen der Brüder Grimm beschränkt ist:
Antti Aarne veröffentlichte 1910 ein „Verzeichnis von Märchentypen“, welches Stith Thompson 1961 erweiterte. Es entstand ein literarisch-volkskundlicher Märchentypenkatalog, welcher die in zahllosen Varianten weltumlaufenden Erzählungen auf gewisse Grundtypen zurückführt.[3]Innerhalb dieses Typenkataloges lassen sich zudem verschiedene Motive von Grausamkeit auffinden, wie z. B. Brudertötung, Einmauern, Kannibalismus oder Kindstötung.
Röhrich untersuchte anhand einzelner zentraler Beispiele, wie vielseitig grausame Motive hinsichtlich ihrer kulturhistorischen und psychologischen Beziehung sind.[4]Er unterscheidet 11 Motive von Grausamkeit, und auch hier finden sich Motive von Frauenmord, Menschenopfern, Kannibalismus, Zerstückelung, oder Motive von der Sitte des Hinrichtens und grausamer Strafen.
In dieser Arbeit soll anhand konkreter Beispiele aufgezeigt werden, wie Grausamkeit im Märchen auftritt und wie dieses Auftreten interpretiert werden kann.
Problematisierung der Methode
Innerhalb der Märchenforschung lassen sich drei grundsätzliche Betrachtungsweisen unterscheiden:
Die didaktische Märchenforschung untersucht unter soziologischen und psychoanalytischen Aspekten die pädagogische Funktion und die Vertretbarkeit dargestellter Grausamkeit. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob die „Darstellung von Gewalt zur Nachahmung reize […] oder eher vorhandene Aggressionen ableite […].“ (EM, 104).
Die volkskundliche Märchenforschung konzentriert sich neben psychologischen auf kulturhistorische und rechtsgeschichtliche Aspekte; hier steht vor allem die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der Grausamkeit im Vordergrund, „da jedes Volksmärchen noch irgendwie mit der Wirklichkeit verbunden“ und phantastisch und realistisch zugleich sei. Diese Mischung mache einen wichtigen Teil seines Wesens aus[5].
Der literaturwissenschaftliche Ansatz schließlich untersucht das Märchen auf seine formalen und inhaltlichen Charakteristika. Er konzentriert sich auf dessen strukturelle Bedingtheit und erzählerischen Besonderheiten, denn „den Literaturwissenschaftler interessiert das Märchen nicht als Geschichtsquelle, sondern als Erzählung.“ Dazu seien Wesen und Funktion dieser Erzählungsform zu erfassen[6]. Der Aspekt Grausamkeit wird hier demnach als Phänomen innerhalb der Gattung Märchen betrachtet.
Den Aspekt eines Phänomens scheinen sowohl Märchendidaktik als auch Volkskunde auszuklammern: Die Didaktik interessiert sich vorwiegend für Grausamkeit im Märchen hinsichtlich ihrer Wirkung auf die psychische Entwicklung des Kindes innerhalb bestimmter Sozialisationsprozesse. Sie betrachtet das Phänomen nur als mögliche Ursache. Die Volkskunde dagegen stellt historische Rechtshandhabung und kulturelles Brauchtum in den Mittelpunkt ihres Interesses, so dass die im Märchen untersuchte Grausamkeit der Gefahr unterliegt, lediglich als Nachweis historischer Begebenheiten zu dienen. So behauptet z. B. Panzer, der Hauptwert solch „phantastisch törichter Geschichten“ bestehe darin, Bruchstücke der „Weltanschauung urtümlicher Menschheit“ aufzubewahren: „Was auf den ersten Blick eine lächerliche Erfindung schien, wird in solcher Beleuchtung zu einer ernsthaften Geschichtsquelle.“ (F. Panzer, Berlin 1926, Abschnitt 37; zit. n. Lüthi, 76) Eine solch einseitige Betrachtungsweise scheint aber fragwürdig, da Motive von Grausamkeit zwar durchaus aus urtümlichem Denken erwachsen sein mögen, doch stellt sich auch die Frage, ob der Gattung Märchen anstelle bloßer Geschichtsschreibung nicht auch der Status volkskundlicher Dichtung eingeräumt werden muss. So besteht Röhrichs Verdienst darin, dass er neben dem Realitätsbezug des Märchens auch dessen epische Besonderheiten erkannte.
Betrachtet man Literaturwissenschaft als Disziplin, die in Bezug zu Wirklichkeit und Gesellschaft sowie zu deren Wert- und Tradierungssystemen steht, so scheint hier eine interdisziplinäre Vorgehensweise angebracht, die volkskundliche und literaturwissenschaftliche Aspekte miteinander verbindet. Die pädagogische Betrachtungsweise wird hier ausgeschlossen.
Hauptteil
Die dargestellte Grausamkeit
„Da rief sie einen Jäger, und sprach ,bring das Kind hinaus in den Wald, ich wills nicht mehr vor meinen Augen sehen. Dort sollst dus töten, und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.’“[7](Sneewittchen[8], KHM 53)
Nach Mallet gehört das Märchen vom Sneewittchen zu den schlimmsten Mord- und Totschlaggeschichten der Grimmschen Märchen. Auf keine andere Heldin würden so viele Mordanschläge ausgeübt. Die ihm zugedachten Todesarten gingen von Erdolchen über Erwürgen bis zum Vergiften[9]:
„[…] aber die Alte schnürte geschwind, und schnürte so fest, dass dem Sneewittchen der Atem verging, und es für tot hinfiel.“[10]
„[…] aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte, und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel.“[11]
„Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder.“[12]
Folgende Züge des Sneewittchen-Märchens der Grimmschen Fassung sind hinsichtlich ihrer Varianten interessant: Der Auftrag des Jägers, Sneewittchen im Wald zu erstechen, die Anschläge der eifersüchtigen Stiefmutter mittels Schnürriemen, Kamm und Apfel sowie die Vereitlung der ersten beiden Anschläge durch die Zwerge, welche Sneewittchen aus Ehrfurcht vor ihrer Schönheit bei sich aufnahmen.
So zeigt eine andere Erzählung folgende Abweichung: Im Wald in einer Höhle wohnten sieben Zwerge, die töteten jedes Mädchen, das sich ihnen nahte. Das wusste die Königin [Stiefmutter, K.P.], und weil sie Sneewittchen nicht geradezu ermorden wollte, hoffte sie es dadurch loszuwerden, dass sie es hinaus vor die Höhle führte und zu ihm sagte: „Geh da hinein und wart, bis ich wieder komme!“ Dann ging sie fort, Sneewittchen aber getrost in die Höhle. Die Zwerge kamen und wollten es anfangs töten; weil es aber so schön sei, ließen sie es leben und sagten, es sollte ihnen dafür den Haushalt führen.[13] Hier ersetzen also mädchenmordende Zwerge einen zum Töten befohlenen Jäger, in weiteren Varianten wird der Jäger durch Sneewittchens Bruder ersetzt; neidische Schwestern, Hexen oder ein wilder Mann ersetzen die böse Stiefmutter, an die Stelle von Schnürriemen, Kamm und Apfel treten Mordwerkzeuge wie Nadeln, Ringe oder vergiftete Kleider. Die Tortur wird sogar noch fortgesetzt: Selbst nach der Hochzeit Sneewittchens wird es noch vom eigenen Vater oder seinen Geschwistern verfolgt, bisweilen in ein Tier verwandelt, damit der Neider in dessen Rolle schlüpfen kann.[14] Anscheinend bemüht sich das Märchen vom Sneewittchen mit aller Kraft, das Mädchen auf grausame Art und so oft wie möglich aus dem Weg zu räumen. Dabei scheint jede Kombination willkommen.
Der grausame Zug, den Märchenhelden oder die -heldin zu beseitigen, scheint dem Märchen ein gewichtiges Anliegen zu sein und lässt sich in verschiedenen Motiven noch an weiteren Märchen festmachen, wobei der Verlauf des Märchens wie z. B. im Grimmschen Sneewittchenmärchen durch die Wiederbelebung der Heldin ein für sie glimpfliches Ende nehmen oder aber auch mit dem endgültigen Tod der Heldin oder einer anderen ,guten’ Märchenfigur besiegelt werden kann. So werden in der Grimmschen Fassung des Rotkäppchen-Märchens (KHM 26) Rotkäppchen und seine Großmutter von dem bösen Wolf verschlungen, nachher aber von einem Jäger wieder befreit. Dagegen entwickelten französische Varianten kannibalistische Züge[15]: Nachdem der Wolf die Großmutter weder im Ganzen noch mit heiler Haut gefressen hat, bietet er [dem nichtsahnenden, K.P.] Rotkäppchen das Fleisch und Blut seiner eigenen Großmutter an, welches Rotkäppchen auch aß und trank und daraufhin selbst vom Wolf verspeist wurde. „Da eine geschlachtete Großmutter, deren Fleisch und Blut das Kind genossen hat, nicht gut wieder lebend aus dem Bauch des Wolfes herausgeholt werden kann, endet das Märchen tragisch mit dem Tod der beiden.“ (Röhrich, S. 126)
Auch die Grimmschen Fassungen sparen nicht an der Schilderung grausamer Züge und grässlicher Ermordung – ein Hexenmeister ermordet eine große Zahl von Mädchen und zerhackt ihre Körper:
„[…] Wie erschrak sie aber, als sie hineintrat: Da stand in der Mitte ein großes blutiges Becken, und darin lagen tote zerhauene Menschen. […] Darauf ergriff er sie, führte sie hinein, zerhackte sie, dass ihr rotes Blut auf der Erde floss, und warf sie zu den übrigen ins Becken.“[16](Fitchers Vogel, KHM 46)
Menschen werden zerstückelt, um daraufhin verspeist zu werden:
„[…] Dein Bräutigam will dir das Leben nehmen. Siehst du, da hab ich einen großen Kessel mit Wasser aufsetzen müssen, wenn sie dich in ihrer Gewalt haben, so zerhacken sie dich ohne Barmherzigkeit, kochen dich und essen dich, denn es sind Menschenfresser […].’ […] Sie brachten eine andere Jungfrau mitgeschleppt, waren trunken, und hörten nicht auf ihr Schreien und Jammern. Sie gaben ihr Wein zu trinken, drei Gläser voll, ein Glas weißen, ein Glas roten, und ein Glas gelben, davon zersprang ihr das Herz. Darauf rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, und zerhackten ihren schönen Leib in Stücke, und streuten Salz darüber.“[17](Der Räuberbräutigam, KHM 40)
Im Gegensatz zum Märchen vom Sneewittchen und vom Rotkäppchen erfahren die Märchenheldinnen die dargestellte Grausamkeit jedoch nicht am eigenen Leibe; die Gewalt vollzieht sich hier an Nebenfiguren. Während im Räuberbräutigam anstelle der Heldin das tödliche Schicksal „eine andere Jungfrau“ ereilt, die im Laufe der Handlung nicht mehr erwähnt wird, entgeht die Heldin in Fitchers Vogel nicht nur dem grausamen Ritual des Mädchenmörders, sondern belebt auch ihre zuvor getöteten Schwestern wieder:
„Ach, was erblickte sie! ihre beiden lieben Schwestern, die, jämmerlich ermordet, in dem Becken lagen. Aber sie hub an und suchte ihre Glieder zusammen und legte sie zurecht, Kopf, Leib, Arm und Beine. Und als nichts mehr fehlte, da fingen die Glieder an sich zu regen, und schlossen sich an einander, und beide Mädchen öffneten die Augen, und wurden wieder lebendig.“[18]
Grausame Handlungen werden aber nicht allein an Märchenhelden und -heldinnen vollzogen – meist ahndet das Märchen begangene Verbrechen und entledigt sich der Täter auf grausame Art.
Hinrichtungen
Den Abschluss des Grimmschen Sneewittchen-Märchens und gleichzeitig den letzten Höhepunkt der Geschichte bilde die Hinrichtung der Stiefmutter; so sei die fünfte Gewalttat die einzig erfolgreiche und zugleich die grausamste[19].
„Und wie sie hereintrat, erkannte sie Sneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da, und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt, und wurden glühend herein gebracht: da musste sie die feuerroten Schuhe anziehen, und darin tanzen, dass ihr die Füße jämmerlich verbrannten: und sie durfte nicht aufhören bis sie sich tot getanzt hatte.“[20]
Der Räuberbräutigam und seine Bande werden ebenfalls für ihre Schandtaten gerichtet, und auch der Hexenmeister aus Fitchers Vogel entgeht nicht seiner Strafe:
„Wie er aber samt seinen Gästen ins Haus gegangen war, da kam die Hilfe von den Schwestern an, und sie schlossen alle Türen des Hauses zu, dass niemand entfliehen konnte, und steckten es an, also Dass der Hexenmeister mitsamt seinem Gesindel verbrennen musste.“[21]
Neben wenigen Ausnahmen[22] gibt es die unterschiedlichsten Abwandlungen der Todesstrafe, die zum Teil paradox erscheinen: In KHM 9 („Die zwölf Brüder“) werde die böse Stiefmutter in ein Fass gesteckt, „das mit siedendem Öl und zu allem Überfluss, paradoxerweise auch noch mit giftigen Schlangen angefüllt ist.“ (Röhrich, S. 143) Zum Zwecke des Ertränkens werden Fässer durchlöchert und mit dem Täter oder der Täterin ins Wasser gestoßen, und auch als „Nageltonne“ findet das Fass Verwendung: So werde die falsche Braut in KHM 89 („Die Gänsemagd“) „splitternackt ausgezogen in ein Fass, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist, geworfen“, „und zwei weiße Pferde, davor gespannt, müssen sie Gasse auf und Gasse ab zu Tode schleifen.“[23] Röhrich bemerkt dazu, dass mit dieser Strafe eigentlich der Höhepunkt aller Märchengrausamkeiten erreicht sei[24].
Offenbar wird die Hinrichtung der Täter und Täterinnen im Märchen ins Extreme gesteigert. Ebenso erscheint die an den Märchenhelden oder -heldinnen vollzogene Todesstrafe besonders grausam: Die Strafe stehe oft in keinem Verhältnis zur begangenen Freveltat, und auch kleinere Vergehen wie z. B. Neugierde würden im Märchen streng geahndet[25]. So betreten neugierige Mädchen eine verbotene Kammer und werden zur Strafe zerstückelt (Fitchers Vogel). Sneewittchens Vergehen besteht darin, makellos schön zu sein und schürt damit die mörderische Eifersucht der Schwiegermutter.
Erklärungsmodelle
Strukturelle Bedingtheit und epische Gesetze[26]
Nach Auffassung Röhrichs stehen grausame Taten oft nicht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern seien zumeist bloße Handlungsbeweger. In den Erzählungen vom Blaubarttyp [AT 311, 312 ® Fitchers Vogel, K.P.] sei das Schicksal der Schwestern der Heldin nicht Selbstzweck einer blutrünstigen Schilderung, sondern interessiere nur als mögliche Gefahr für die Heldin selbst. Denn das Märchen liebt das Extrem: Die Leistung des Helden wirke umso gewaltiger, je größer die Gefahr geschildert werde, der er ausgesetzt war; die grausame Strafe im Falle des Misslingens könne nicht abschreckend genug ausfallen. Hinsichtlich des erzählerischen Aspektes erfüllen Motive der Grausamkeit die Funktion epischer Spannungselemente. So erreicht die Handlung in Fitchers Vogel durch das Zerstückelungsmotiv ihren dramatischen Höhepunkt: Erst indem die Schwestern der Heldin dem Mädchenmörder zum Opfer fallen, gerät die Heldin potentiell in die Gefahr des gleichen grausamen Schicksals; was für die Schwestern jedoch tragische Wirklichkeit wird, bleibt für die Heldin lediglich abschreckende Möglichkeit. Hinsichtlich der dargestellten Grausamkeit besteht die gewaltige Leistung der Heldin in ihrem Überleben und der Überlistung des bösen Gegenspielers.
Ebenso wird die Todesdrohung des Jägers im Sneewittchen-Märchen nicht verwirklicht, sondern schafft die epische Voraussetzung für die Flucht Sneewittchens in den Wald und bringt somit die konfliktreiche Handlung erst in Gang. Augenscheinlich geglückte Anschläge auf Sneewittchen schlagen zuletzt fehl, die Leistung Sneewittchens liegt anscheinend in ihrer ständigen Wiederbelebung.
Wie die Handlung, so unterliegt die Schilderung der Grausamkeiten, die Helden und Gegenspieler erfahren, ebenfalls strengen epischen Gesetzen, denn „nur was handlungswichtig ist, wird erwähnt, nichts um seiner selbst willen; nichts wird ausgemalt.“ (Lüthi, S. 26) Die epische Technik der bloßen Benennung lasse die Dinge automatisch zu einfachen Bildern erstarren[27]. Aufregende Sensationen würden mit derselben Ruhe berichtet wie die einfachen Bezüge und Funktionen des Alltags. Ohne tragischen Ton erzähle das Märchen von Mord, Gewalttat, Erpressung […][28].
Tatsächlich werden die auf Sneewittchen verübten Mordanschläge ungemein sachlich und knapp geschildert: „Die Alte“ schnürt das Mädchen so fest, „dass es für tot hinfiel“; die Märchen von Fitchers Vogel und vom Räuberbräutigam bekunden zwar, dass Mädchen „zerhackt“ werden, jedoch erfährt das Zerstückelungsmotiv keine weitere Ausschmückung.
Nach Mallet unterscheiden sich durch Neid, Missgunst und Habgier motivierte Mord- und Totschlagszenen von vielen anderen Gewaltszenen durch ihren Realismus. Sie seien weder märchenhaft verfremdet, weder traumhaft-irreal noch zauberisch, was auf oben genannte Beispiele zutrifft. Ebenso erwähnt er die auffallenden Übertreibungen, die viele Märchen-Gewalttaten eindeutig in den Bereich der Phantasie verwiesen[29]. So kombiniert das Märchen diverse an Gegenspielern zu begehende Hinrichtungsmethoden und schildert sie bis in grausame Details, wie zum Beispiel das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllte Fass oder die Beschaffenheit der Nageltonne.
Das Märchen verfolge ein bestimmtes Stilprinzip, indem es das Kriminelle ,entwirkliche’: Die Auswirkungen grausamer Behandlung würden nicht körperlich fühlbar. Misshandelte Protagonisten und bestrafte Gegenspieler beklagten sich nicht über die ihnen widerfahrende Grausamkeit.
Es scheint, als seien die Märchengestalten wie Papierfiguren, bei denen man beliebig irgendetwas wegschneiden könne. Denn in der Regel äußere sich bei solchen Verstümmelungen weder körperlicher noch seelischer Schmerz[30]: „Von den gepeinigten Bösewichtern, die in glühenden Schuhen tanzen müssen oder im Nagelfass den Berg hinuntergejagt werden, vernehmen wir keinen Schmerzenslaut.“ (Lüthi, 15)
Der Erzählstrategie des Märchens entspreche die Auffassung, dass gegen einen Bösewicht jedes Mittel recht sei. Die grausamste und ausgefallenste Vernichtung sei darum erzählerisch auch immer die wirkungsvollste.
Um diese Wirkung zusätzlich zu erhöhen, bediene sich das Märchen wiederholt eines Topos, der nur dem Märchen eigen sei: Das Urteil werde nämlich häufig von dem Angeklagten selbst gefällt. Das Wesentliche sei, dass der Angeklagte gar nicht wisse, wessen Urteil er ausspreche. Die epische Besonderheit dieses Topos liege in der Steigerung von Spannung und Wirkung durch die doppelte Erwähnung der grausamen Strafe: Sie werde verkündet und vollzogen[31].
„Als sie nun gegessen und getrunken hatten, und guten Mutes waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf, und fragte ,welches Urteils ist diese würdig?’ Da sprach die falsche Braut ,die ist nichts Besseres wert als splitternackt ausgezogen in ein Fass, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist, geworfen zu werden: und zwei weiße Pferde, davor gespannt, müssen sie Gasse auf und Gasse ab zu Tode schleifen’. ,Das bist du’, sprach der alte König, ‚und dein eigen Urteil hast du gefunden, und danach soll dir widerfahren’; welches auch vollzogen wurde.“[32] (Die Gänsemagd, KHM 89)
Das Märchen kenne keine Barmherzigkeit für den Bösewicht, sondern nur dessen radikale Beseitigung. Dabei idealisiert das Märchen seine Helden geradezu. Es bemühe sich, seine Helden von der Verantwortung für die Härte der grausamen Strafen zu entlasten[33]. So ist es im Beispiel des Märchens von der Gänsemagd nicht der König, der die Härte der Strafe bestimmt, sondern die Kammerfrau selbst. Dass „der Held sich nicht selbst besudelt“ werde oft durch solche und ähnliche Motive hervorgehoben, so werde zum Beispiel die Strafe im Aschenputtel-Märchen durch Tauben vollstreckt, welche den neidischen Schwestern die Augen aushackten[34].
In einer französischen Variante des Sneewittchen-Märchens bleibt die Heldin an der Bestrafung der bösen Stiefmutter gänzlich unbeteiligt: Die Mutter tötet sich selbst[35].
Rechtsgeschichte und kulturhistorische Relativität von Grausamkeit[36] am Beispiel „Fitchers Vogel“
Wie bereits in der Einleitung angesprochen, geht Röhrich der Frage nach, welchen Wirklichkeitsbezug die Märchengrausamkeit hat und inwieweit grausame Motive in kulturhistorische Beziehung gebracht und gedeutet werden können. Kulturhistorische Bezüge seien bei den grausamen Hinrichtungen am deutlichsten. Die Strafen der [überlieferten, K.P.] Märchen seien größtenteils Erinnerungen an die reale Rechtshandhabung vergangener Zeiten[37]. Wie deutlich sich Märchenerzählung und historische Rechtsprechung entsprechen könnten, zeigt sich zum Beispiel im Märchen von Fitchers Vogel: Die Heldin und ihre Schwestern verbarrikadieren das Haus des Hexenmeisters und stecken es in Brand. Hier wirkt deutlich der historische Prozess der Hexenverbrennung nach[38]. Es stehe außer Zweifel, dass die Strafe durch Verbrennen einen Bezug zum Volksglauben gehabt haben müsse:
„Von dem Verbrecher als unheimlich-schadenbringendem Wesen musste man sich reinigen: Feuer und Wasser sind nun die reinigenden Elemente schlechthin, und deshalb wurden - und nicht nur bei den Germanen - die Hexen und Zauberer verbrannt oder ertränkt. Zugleich ist die Flamme das radikalste Mittel, das schadenbringende Wesen auszutilgen und am Wiederkommen zu hindern.“ (Röhrich, 145)
Ebenso wird mit Hilfe des Zerstückelungsmotives im Märchen „Fitchers Vogel“ ein grausam erscheinendes Vorkommnis geschildert: Die Heldin findet die zerstückelten Leichen ihrer Schwestern. Daraufhin sucht sie deren Gliedmaßen zusammen und fügt diese zusammen; „als nichts mehr fehlte“ schließen sich die Gliedmaßen aneinander, und die Schwestern erwachen wieder zum Leben.
Grausame Vorkommnisse [hier die Zerstückelung, K.P.] hätten ihren Hintergrund in magischen Vorstellungen oder rituellen Handlungen. Innerhalb des Zerstückelungsmotives sei die Wiederbelebung des Toten aus den gesammelten und richtig zusammengelegten Knochen von entscheidender Bedeutung. Denn so zeige gerade dieses Motiv seine sichere Abkunft von ursprünglichen jägerlichen Vorstellungen von Tod und Wiedergeburt. So gelte auch heute noch bei nordasiatischen Naturvölkern der Brauch, die Knochen des erlegten Tieres weder zu brechen, noch zu verbrennen oder wegzuwerfen, sondern sie an einem besonderen Ort aufzubewahren, wobei kein Knochen fehlen dürfe. Im Märchen aber sei diese Vorstellung nicht mehr historische oder mythische Realität, sondern sei zum ,Motiv’ grausamer Handlungen erstarrt und stelle erzähltechnisch Extremfälle des abscheulichen Verhaltens des Gegners des Helden dar, die wegen ihrer epischen Wirksamkeit immer wieder verwendet worden seien[39].
„So steht das Märchenmotiv in einem weltweiten Vorstellungskomplex, von dessen ursprünglich mythisch-religiöser Wirklichkeit es sich freilich längst abgelöst hat, indem es festes Erzähl-, Motiv’ geworden ist. Dabei ist ein völliger Wandel eingetreten: unter ethnologischen Gesichtspunkten gewinnt es einen geradezu gegenteiligen Aspekt, als er sich im Machandelboom-Märchen [auch Fitchers Vogel, K.P.] zeigte: Die Zerstückelung eines Menschen war also ursprünglich nicht ein Motiv, das grausame Ermordung sondern geradezu das Gegenteil, die Erhaltung des Lebens, bedeutete. Nicht der abscheuliche Vorgang der Zerstückelung war das Entscheidende, sondern die Wiederbelebung aus den Knochen.“ (Röhrich, 135)
Dennoch lassen sich nicht alle Märchengrausamkeiten rechts- oder kulturhistorisch deuten. So falle zum Beispiel auf, dass die Todesstrafe fast die einzige Strafe im Märchen, die Härte der Urteile aber oftmals in gar keinem Verhältnis zur begangenen Freveltat stehe. So büßen die Schwestern im Märchen von Fitchers Vogel ihre Neugierde mit dem Tod für ein Delikt, das kein Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches darstelle. Wo ein geschichtlicher Hintergrund fehle, erfinde das Märchen entsprechend seiner erzählerischen Bedürfnisse sogar eigene Rechtsbräuche, wie das Beispiel am Sneewittchenmärchen zeige, wo die böse Stiefmutter in rotglühende eiserne Pantoffeln treten und solang darin tanzen müsse, bis sie tot zur Erde falle[40].
Schluss
Wie lässt sich nun dieses erzählerische Bedürfnis des Märchens erklären?
Im Beispiel des Rotkäppchen-Märchens begeht Rotkäppchen lediglich den Frevel, vom Wege abzukommen. Dafür wird es ungleich grausam mit dem Tod durch Gefressen werden bestraft. Die französische Märchenvariante findet sein Ende in dem tragisch endgültigen Tod Rotkäppchens. M. Rumpf habe gezeigt, dass das Rotkäppchenmärchen ursprünglich zur Gattung sogenannter ,Warnmärchen’ gehöre, welches Kindern erzählt worden sei, um sie vor den Gefahren des Waldes, wie wilde Tiere oder lauernde Personen, zu warnen[41].
Auch unter dem Aspekt der Unterhaltung scheint die epische Steigerung geschilderter Grausamkeit plausibel: Ungeachtet des ersten Anschlages fällt Sneewittchen immer wieder auf die böse Stiefmutter hinein, und zu Recht behauptet Mallet, dass die Heldinnen der Märchen trotz alle Warnungen nicht umkehrten, weil sie es wegen der Hörer oder Leser nicht dürften: Derentwegen müssten sie sich in reizvoll-grausige Gefahren begeben. Zur Befriedigung der Sensationslust der Rezipienten müssten Mädchen sich ausziehen, zerhacken und fressen lassen.
Die strikte Trennung von Gut und Böse, die Erhöhung der guten Heldenfiguren und die Vernichtung der bösen Gegenspieler bestimmen das Wesen des Märchens und rechtfertigt seine grausamen Handlungen mit Hilfe epischer Spannungsformeln, deren Ursprung teilweise in der Menschheitsgeschichte begründet liegt.
Literaturverzeichnis
Textausgabe
Rölleke, Heinz (Hrsg.): Grimms Märchen. Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der 3. Aufl. (1837); Frankfurt am Main 1985
Sekundärliteratur
Brednich, Rolf Wilhelm / Bausinger, Hermann / Brückner, Wolfgang u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 6; Berlin / New York 1990
Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 9. Aufl.; Tübingen 1992
Mallet, Carl-Heinz: Kopf ab! Gewalt im Märchen; Hamburg 1985
Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. 2., erw. Aufl.; Wiesbaden 1964
Internetliteratur
Schneewittchen, Märchentyp 709: www.maerchenlexikon.de/at-lexikon/at709.htm
Jeannine Richter: Grausamkeit in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – Der Tanz in den rotglühenden Schuhen
Einleitung
Auch heute noch sind Märchen ein beliebter Lesestoff und neuere märchen- ähnliche Stoffe, wie Harry Potter oder Herr der Ringe, erfreuen sich höchster Beliebtheit und beide Erscheinungen begeistern gleich mehrere Generationen. Doch trotz aller märchenhaften und positiven Motive der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, findet man unterschiedlichste Formen der Grausamkeit in ihnen. In Anbetracht der Tatsache, dass Märchen schon sehr kleinen Kindern zugänglich sind, stellt sich nun die Frage, welche Funktion die in den Märchen enthaltene Grausamkeit hat und welche Wirkung sie auf die Rezipienten hat, zumal bei keinem anderen Medium schon so früh so selbstverständlich so brutale Inhalte weitergegeben werden. Weiterhin soll in dieser Arbeit der historische und kulturelle Hintergrund von grausigen und makabren Motive in Verbindung zu ihrer heutigen Wirkung gestellt werden. In der Literatur finden sich verschiedenste Stellungnahmen zu der Wirkung der Grausamkeit in Märchen. So vertritt Lutz Röhrich die Meinung, dass Kinder die Bestrafung oder Tötung des Bösen im Märchen als selbstverständlich und nicht als grausam wahrnehmen.[42] Otto F. Gmelin hingegen erteilt den Grimmschen Märchen aufgrund der Grausamkeit eine radikale Absage. Er geht davon aus, dass Aggression und Gewalt vornehmlich gelernt würden und diese somit durch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gefördert werden.[43]
Weiterhin wird der Grausamkeit in der Literatur besonders eine historische Dimension zugesprochen. Sie spiegelt politische und familiäre Zustände wieder und offenbart uns vergangene Ahndungen von Verbrechen. Ebenso spiegeln sie Aberglauben und kirchliche Einflussnahme wieder. Hans Gerd Rötzer und Harlinde Lox thematisieren dies in ihren Arbeiten und beziehen sich dabei immer wieder auf Lutz Röhrich.
In der folgenden Arbeit soll versucht werden, zu klären, wie die Grausamkeit in den Märchen auf ihre Rezipienten wirkt und welche Funktion sie für das Märchen hat. Dazu sollen zunächst typische Eigenschaften des Märchens erläutert werden. Da sich die Ausführungen auf die für deutsche Volksmärchen exemplarischen Märchen der Brüder Grimm beziehen, folgt eine kurze Darstellung der Entstehung der Grimmschen Sammlung.
Um die Problematik der Gewalt im Märchen zu verdeutlichen, folgt eine Zusammenstellung von beispielhaften Brutalitäten aus den Grimmschen Märchen, wobei auch frühere Fassungen der Märchen Erwähnung finden werden. Dabei werde ich mich mit den auftretenden Formen der Grausamkeit – der Kannibalismus, die Strafen und der Tod – auseinander setzen. Hier werden auch die Funktion und der historische Hintergrund – soweit belegbar – mit einbezogen werden. Daran anschließend werde ich mich mit den Märchen Rotkäppchen (KHM 26) und dem Blaubartmotiv (KHM46) befassen und dabei die Entwicklung des Textes, unter besonderer Berücksichtigung der Grausamkeiten, herausarbeiten. Im Fazit soll versucht werden die Wirkung dieser Grausamkeiten auf die Rezipienten – besonders auf die Kinder – herauszuarbeiten, wobei ich auf verschiedene Positionen in der Literatur eingehen werde.
Die Sammlung der Brüder Grimm
Die Brüder Wilhelm (1786-1859) und Jacob Grimm (1785-1863) sammelten ab dem Jahr 1806 alte Lieder aus der Kasseler Bibliothek für Clemens Brentano (1778-1842), der mit Arnim eine Fortsetzung der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805-08) plante. Brentano schreibt an Achim von Arnim 1807:[44]
„Ich habe hier zwei sehr liebe, liebe altteutsche vertraute Freunde, Grimm genannt, welche ich früher […]für die alte Poesie interessirt hatte, und die ich nun […] so gelehrt und so reich an Notizen, Erfahrungen und den vielseitigen Ansichten der ganzen romantischen […] Poesie wiedergfunden habe […] Sie selbst werden uns alles, was sie besitzen, noch mitteilen, und das ist viel.“[45]
Bis 1810 arbeiten Wilhelm und Jacob mit Clemens Brentano in reziprokem Austausch und der zweite und dritte Band des Wunderhorns entstanden in enger Zusammenarbeit mit den Brüdern Grimm. Die Sammlung von Märchen begann etwa im Oktober 1807. Es ist deutlich zu erkennen, dass sie Brüder Grimm sich bei ihren Märchensammlungen an Brentanos Empfehlungen und Geschmack orientierten, da sich – natürlich auch durch die sehr ähnlichen literarischen Bestrebungen – die Brüder Grimm die gleichen Texte wie Brentano heranzogen. Hier sind beispielhaft Schelmufsky von Christian Reuter, Die Geschichte von Mäuschen und Bärenhäuter zu nennen.[46]
Die mündliche Erzähltradition wurde den Brüder Grimm von Clemens Brentano nahe gebracht, der keineswegs seine Märchendichtungen allein aus literarischen Quellen bezog. Vielmehr besaß er ein besonderes Geschick, wodurch Menschen aller Schichten ihm ihre Märchen und Sagen erzählten. Er zeichnete sich ebenfalls als Märchenerzähler aus, was den Brüder Grimm nicht zugeschrieben werden kann. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich in den Aufzeichnungen von Jacob und Wilhelm Grimm kein Text findet, der aus eigener Erinnerung zu Papier gebracht wurde. Allein unter einer Kurzfassung des Sternthalers steht die Anmerkung von Jacob Grimm:
„Nach dunkeler Erinnerung aufgeschrieben, mögte es jemand ergänzen und berichtigen.“[47]
Ebenso wichtig wie der Hinweis auf die mündliche Tradition ist die Begeisterung Brentanos für die Rungeschen Märchendichtungen, die sich auf die Brüder Grimm übertrug und maßgeblich zur Gestalt der Kinder- und Hausmärchen beitrug. Die Brüder Grimm waren in ihrer Arbeit sehr stark durch Clemens Brentano geprägt, was ihnen durchaus bewusst war und Brentano konnte sich ihres Dankes sicher sein.[48]
Doch sorgte die nicht erfolgte Zurückgabe der handschriftlichen Märchen-sammlung der Brüder Grimm für Verstimmungen zwischen ihnen und Bren- tano. Auch die Tatsache, dass Brentano die Brüder in der Veröffentlichung des Märchens Die Gründung Prags nicht erwähnt verschärfte den Konflikt.[49]
Dies spiegelt sich in der Vorrede der Kinder- und Hausmärchen von Wilhelm Grimm aus dem Jahr 1819 wieder:
In diesem Sinne gibt es unseres Wissens sonst keine Sammlung von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig erhaltene, die man mitteilte, oder man betrachtete sie bloß als rohen Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden.[50]
Doch trotz alledem profitierten die Grimms und Brentano immer wieder von-einander. Der jeweils andere beeinflusste die Arbeiten des anderen und zuletzt verdankt Brentano den Brüdern die Beschränkung auf die eigentlichen Märchenmotive.[51]
Die erste Ausgabe veröffentlichten die Brüder Grimm im Jahr 1812. Bis zur Ausgabe letzter Hand veränderten sich die Märchen jedoch noch in ihrer Form. Vor allem Wilhelm Grimm überarbeitete die Märchensammlung. Die Ausgabe letzter Hand enthält 211 Texte. Durch eine umfassende philologische Erforschung müsste das Werk der Brüder Grimm auf etwa 240 Einzelmonographien beziffert werden. Neben zahlreichen Parallelfassungen, die durch die Brüder Grimm in den umfassenden Anmerkungen wiedergegeben werden, zählen auch die 30 ausgeschiedenen Märchen dazu. Die Überarbeitung der Märchen zeigt sich besonders in der Tatsache, dass es ursprünglich von den Brüdern Grimm nicht beabsichtigt war ein Märchenbuch für Kinder herauszugeben, was dennoch eintraf. Die Eignung ihrer Kinder- und Hausmärchen für Kinder legen sie in der Vorrede von 1819 dar:
Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, dass die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, dass es als ein Erziehungsbuch diene. […] Sollte man dennoch einzuwenden haben, dass Eltern eins und das andere in Vergangenheit setze und ihnen anstößig vorkomme, so dass sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, […] im ganzen, das heißt für einen gesunden Zustand, ist [die Sorge] gewiss unnötig.[52]
Die Hinwendung zu den Kindern als Rezipienten-Gruppe drückt sich bei- spielsweise in Diminuitiven und der Ausschmückung der Märchen aus. Die Funktion als Erziehungsbuch zeigt sich in der Verbürgerlichung der Märchen. Besonders deutlich wird dies in der Änderung der Märchenmoral zugunsten der vorherrschenden Arbeits- und Gehorsamsvorstellungen des Bürgertums.[53] Die Märchen dienten dazu „den Kindern des Bürgertums […] die Vergangenheit und den geistigen Besitz des deutschen Volkes näher [zu] bringen.“[54]
Das Volksmärchen
Volksmärchen wurden Jahrhunderte in ganz Europa erzählt, wodurch sie sich immer wieder veränderten. Es lässt sich ein Grundmuster erkennen, dass allen Märchen eigen ist, auch wenn die Märchen aus unterschiedlichen Epochen oder Völkern zuzuordnen sind.[55]
Der Handlungsablauf ist dadurch gekennzeichnet, dass der Held oder die Heldin Schwierigkeiten bewältigen muss. Auch wenn Spannung und Ent- spannung für den Verlauf eines Märchens wichtig sind, so zielen sie nicht darauf, ob der Held die Gefahren meistert, sondern vielmehr darauf, wie der Held auf die Probe gestellt wird. Das gute Ende – als typisches Merkmal des Märchens – beeinflusst die Erwartungshaltung des Lesers oder Hörers je- doch nicht, auch wenn es bereits bekannt ist.
Der Ausgangspunkt eines Märchens ist meist eine Mangelsituation. Sie kann in verschiedensten Formen auftreten; durch Armut – wie bei Hänsel und Gretel (KHM 15) – oder auch einen Generationskonflikt, wie er bei Aschenputtel (KHM 21) oder Sneewittchen (KHM 53) zu finden ist. Dieser Mangel kann nur durch die Auseinandersetzung des Helden mit dem Bösen aufgehoben werden. Nach dieser Auseinandersetzung geht der Held immer als weiter entwickelt hervor. So kann der Prinz oder auch ein einfacher Mann beispielsweise zum König werden (KHM 53, 21, 12), oder ein verwandelter Mensch nimmt wieder seine menschliche Gestalt an (KHM 1, 25).
Max Lüthi beschreibt als weiteres Merkmal der Märchen das Numinose. Hierbei handelt es sich um etwas Unerklärliches, Übernatürliches oder Zauberhaftes, durch dessen Hilfe der Held des Märchens die Schwierigkeiten überwindet.[56]
So geschieht es beispielsweise in Aschenputtel (KHM 21), wo ein Vogel Aschenputtel ein stolzes Kleid herab wirft, mit dem sie alle Gäste der Hochzeit erstaunte.[57]
Weiterhin spricht er von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erfül- lung. Diesen spricht er eine große Bedeutung zu. Es sei jedoch nicht so, dass der Rezipient erwarte, was passiert, sondern vielmehr wie es passiert. Denn das gute Ende im Volksmärchen sei gewiss.[58]
Die Figuren in den Märchen der Brüder Grimm sind Typen, keine Charaktere. Sie vereinen typische Merkmale auf sich, sind jedoch nicht ausgestaltet. So ist in Frau Holle (KHM 24) die Stieftochter der Witwe besonderes schön und fleißig, während die richtige Tochter faul und hässlich ist. Entsprechend der Rolle im Märchen werden den Figuren positive oder negative Attribute zugeschrieben. Die Märchen konzentrieren sich allein auf die Handlung, wodurch die Gefühle der Figuren oft keine Erwähnung finden und eine emotionale Tiefe nicht möglich ist. Durch das Fehlen von Gefühlen werden auch Grausamkeiten in den Kinder- und Hausmärchen nicht wirklichkeitsnah beschrieben, da sie sich ohne Schmerz vollziehen. Die Grausamkeit dient der Handlung und ist entscheidendes Merkmal des Märchens.[59]
Die Grausamkeit in den Märchen der Brüder Grimm
Schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm wurden die Grausamkeiten in ihren gesammelten Märchen kritisiert. Bei seiner Kritik bezog Achim von Arnim vor allem auf das 22. Märchen der Erstausgabe Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben, das zwei Teile enthält. Ein paar Kinder in Westfriesland beschlossen miteinander zu spielen. Ein Junge war der Metzger, ein anderer der Koch und ein weiterer eine Sau. Die beiden Mädchen sollten Köchin und Unterköchin sein. Weiter heißt es in dem ersten Teil des Märchens:
„Der Metzger gerieth nun verabredetermaßen an das Büblein, das die Sau sollt seyn, riß es nieder und schnitt ihm mit einem Messer die Gurgel auf […].“[60]
Im zweiten Teil beobachten zwei Kinder ihren Vater dabei wie ihr Vater ein Schwein schlachtet und ahmen es nach. Die Mutter hört den Schrei ihres Kindes, das das Schwein gespielt hat, und lässt ihr jüngstes allein im Badezuber zurück.“[…] als sie sah, was vorgegangen, zog sie das Messer dem Kind aus dem Hals und stieß es im Zorn dem andern Kind, welches der Metzger gewesen, ins Herz“[61], doch ertrinkt in der Zwischenzeit das Kind im Zuber. Aus Verzweiflung darüber erhängt sich die Frau selbst – ihr Mann stirbt kurz darauf aus Trauer über das Geschehene. Unter Berufung auf die Überlieferungstreue verteidigten die Grimms die grausamen Teile ihrer Märchen und verwiesen darauf, dass diese Grausamkeit durchaus eine wichtige Seite der Überlieferungen sei.[62]
Die Märchen sind in verschiedenen Zeiten entstanden und zahlreiche Generationen haben an deren Gestalt vor ihrer Verschriftlichung durch die Brüder Grimm mitgewirkt. Ebenso wenig wie ein Märchen dem anderen gleicht, kann man die Grausamkeiten in ihnen verallgemeinert betrachten. Ursprünge und Ursachen für ihr Erscheinen in Märchen finden sich in Stoff- und Motivgeschichte, Kompositionszwang und Bruchstellen von unterschiedlichen Erzähltraditionen, die sich überlagerten. Ebenso muss berücksichtigt werden, dass die Grausamkeiten eine andere Wirkung bei den Lesern einzelner Altersstufen hat.[63]
Die Märchen müssen im jeweiligen ursprünglichen ethnischen und kulturellen Kontext gesehen werden, wodurch die Interpretation der Grausamkeiten in verschiedenste Bereiche führt. So hat beispielsweise das Abkochen und Zusammenlegen der Knochen eines Toten seinen Ursprung in den Bräuchen von Jägervölkern. Diese im Märchen Von dem Machandelboom (KHM 47) als Grausamkeit wahrgenommene Handlung, stellte bei den Jägervölkern Vollzug der Wiederbelebung und ein Zeichen eines fortdauernden Lebens dar.[64] Somit zeigt sich, dass diese Märchenzüge als grausam empfunden werden, weil sie nicht verstanden werden und nicht mehr dem kulturellen Hintergrund des Lesers entsprechen.
Es wird deutlich, dass die grausamen Strafen des Märchens vielfach Reste der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit widerspiegeln. Dies ist jedoch nicht nur als Abbild der Realität zu bezeichnen, sondern auch die erzählerische Umgestaltung der Motive und die veränderte Wirkung auf den Rezipienten müssen Beachtung finden.[65]
Doch vieles was grausam erscheint, wird von Kindern nicht so empfunden. So schreibt Rötzer, dass es „für ein Kind [...] selbstverständlich [ist], das der Märchenheld den Drachen oder den feurigen Hund erschlägt. Keinem Kind würde es einfallen, die armen Riesen etwa zu bedauern.“[66] Genauso wenig wie sich Kinder darüber wundern, dass die sieben Geißlein wieder gesund aus dem Bauch des Wolfes herausspringen, empfinden sie es als grausam, dass dem Wolf Steine in den Bauch gefüllt werden. Kinder nehmen die Bilder der Märchen unmittelbar auf ohne eine Erklärung zu brauchen. Dies mag auch daran liegen, dass der Tod in dem Denken von Kindern noch nicht vorhanden ist. Im Märchen befindet sich der Tod in einem ständigen Übergang zum Leben, vom Dunkel zum Licht und von Böse zu Gut.[67] Bruno Bettelheim vertritt die These, dass die Vernichtung des Bösen für die psychische Stabilität des Kindes notwendig ist, da das Weltbild der Kinder die Zuordnung von Gut und Böse braucht um so Stabilität zu gewinnen. Bettelheim geht davon aus, dass Kinder ihre Ängste auf die negativ besetzen Figuren übertragen und so diese am Ende vernichtet werden. Gerade durch die Fiktionalität der Märchenwelt sei es sogar Vierjährigen möglich die Geschichte zu durchschauen, während das bei Geschichten aus ihrer Wirklichkeit nicht möglich sei.[68] Die Unwirklichkeit der Grausamkeit lässt sie weniger schlimm erscheinen als tatsächliche Gewalt. Die geradezu extreme Darstellung von Gut und Böse in Märchen bedingt einander und lässt somit eine Ausklammerung der Grausamkeit nicht zu. Erst durch das Leiden des Märchenhelden entsteht Mitleid bei dem Rezipienten. Außerdem findet so eine Erhöhung des Helden des Märchens statt, wodurch die Sympathie nochmals gesteigert wird.[69] Dies lässt sich am Meerhäschen (KHM 191) belegen. Eine stolze Königstochter, die aus ihrem Fenster alles über und unter der Erde sehen kann, lässt verkünden, dass ihr Gemahl sich so gut verstecken können müsse, dass sie ihn nicht entdecke. 99 Freier sind bereits gescheitert. Ihre Häupter standen zur Abschreckung auf Pfählen vor dem Schloss. Die Probe scheint unüberwindbar und die Strafe ist grausam. Umso mutiger und glorreicher erscheint der Sieg des Märchenhelden am Ende des Märchens, als er die Probe gesteht und die Königstochter heiratet.[70] Die Entfernung der Grausamkeit aus den Kinder- und Hausmärchen würde gleichzeitig einen historisch-materialistischen Zugang erschweren, da sie Ausdruck geschichtlich-realer Verhältnisse ist. Inwiefern diese Grausamkeit sich nun nachteilig auf Kinder auswirkt kann nicht abschließend geklärt werden. Doch wird davon ausgegangen, dass die kindliche Aggression primär durch die konkrete familiäre und gesellschaftliche Lage der Kinder entsteht und nicht durch das Rezipieren von Märchen.[71] Wilhelm Grimm überarbeitete die Märchen und verharmloste vieles, damit sie auch für Kinder geeignet sind. Doch sind auch in der Ausgabe letzter Hand noch viele grausame Schilderungen zu finden. Diese lassen sich in unterschiedliche Bereiche einteilen.
Kannibalismus
Kannibalismus stellt in den Märchen der Brüder Grimm oft ein Spannungs- motiv dar. So wird in Hänsel und Gretel (KHM 15) die Spannung dadurch er- zeugt, dass sie bei der Hexe in Gefahr sind, da die Hexe, „[…] wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es todt, kochte es und aß es […].“[72]
Erst der Kannibalismus löst hier den dramatischen Höhepunkt des Märchens aus. Nur in wenigen Märchen wird die Verbindung zwischen Kannibalismus und Hexen noch sichtbar. Hierbei handelt es sich jedoch um Überbleibsel des ‚magischen Kannibalismus’. Durch die Tötung eines Menschen und den Verzehr dessen Fleisches oder Blutes soll beispielsweise wie in Sneewittchen (KHM 53) Schönheit erhöht werden.[73]
Die Königin beauftragt den Jäger Sneewittchen zu töten und ihr „[…] zum Wahrzeichen […] seine Lunge und seine Leber [bringt], die [sie] mit Salz kochen und essen [will].“[74] An anderer Stelle soll das Blut zur Heilung von schweren Krankheiten und zu Wiedererweckung zum Leben dienen. Eindrucksvoll wird dies im KHM 6 Der treue Johannes erzählt. Der treue Johannes erstarrt in Stein und der König muss seine beiden Söhne opfern um seinen Getreuen wieder zu erlösen.
Der König erschrak, als er hörte, dass er seine liebsten Kinder selbst töten sollte, doch dachte er an die große Treue, und dass der getreue Johannes für ihn gestorben war, zog sein Schwert und hieb mit eigener Hand den Kindern den Kopf ab. Und als er mit ihrem Blute den Stein bestrichen hatte, so kehrte das Leben zurück, und der getreue Johannes stand wieder frisch und gesund vor ihm.[75]
Diese heilende Wirkung von Blut ist vor allem im Volksglauben und Literatur des Mittelalters zu finden. In Hartmann von Aues Armer Heinrich soll dersel- bige durch das Blut einer Jungfrau – das sie jedoch freiwillig gibt – vom Aus-
satz geheilt werden.[76] Bis ins 19. Jahrhundert lässt sich magischer Kanniba- lismus nachweisen. So wurden 1864 bei der Hinrichtung von zwei Mördern mit Blut getränkte Schnupftücher verkauft.[77]
In dem Zaubermärchen Vom Fundevogel (KHM 51) bereitet das Vorhaben der Köchin das Kind Fundevogel zu kochen die zauberhafte Begebenheit vor. Fundevogel läuft mir Lehnchen zum Waldrand, wo sie sich beim Anblick ihrer Verfolger in ein Rosenstöckchen und ein Röschen verwandeln um nicht entdeckt zu werden.[78]
Strafen
In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm finden sich zahlreiche Bestrafungen, die auf die begangenen Vergehen folgen. Besonders anschaulich wird dies in den Märchen Aschenputtel (KHM 21) und Sneewittchen (KHM 53) dargestellt. Sneewittchens Stiefmutter wird zum Hochzeitsfest Sneewittchens eingeladen. Dort waren für sie eiserne Pantoffeln auf dem Feuer bereitgestellt worden. „Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“[79] Eiserne Schuhe wurden oft als Grabbeigabe gegeben, um den Toten den mühsamen und steinigen Weg ins Totenreich zu erleichtern. Unklar ist jedoch ob es sich in Sneewittchen um einen Straftanz handelt oder ob die die Königin vor Schmerzen tanzt. Hier muss jedoch beachtet werden, dass Schmerzdarstellungen in den Grimmschen Märchen nicht zu finden sind.[80]
Die falschen Schwestern Aschenputtels verlieren auf der Hochzeit ihr Augen-licht. Beim Eintritt in die Kirche pickt die Taube jeder ein Auge aus und auf dem Gang hinaus jeweils das andere, „[wodurch] sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag bestraft [waren].“[81]
Neben Todesstrafen lassen sich auch zahlreiche Arten der Verstümmelungen, Qualen vor der Tötung und Bestrafungen wie Haft oder Hungern her- ausarbeiten. In Die Nelke (KHM 76) wird zunächst die Königin von ihrem Gemahlen für sieben Jahre in einen tiefen Turm ohne Essen und Trinken gesperrt, da sie beschuldigt wird ihr Kind wilden Tieren überlassen habe. Als jedoch herauskommt, dass der Koch den Knaben geraubt hat, lässt der König ihn in vier Stücke zerteilen. Ähnlich erscheint auch die Bestrafung im KHM 9 Die zwölf Brüder, in dem „die böse Stiefmutter […] vor Gericht gestellt [ward] und in ein Fass gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.“[82] Dieses Motiv kehrt in den Märchen Die drei Männlein im Walde (KHM 13) und Die Gänsemagd (KHM 89) abgewandelt wieder. Hier werden die zu bestrafenden Märchenfiguren in ein Fass mit spitzen Nägeln gesteckt. Im KHM 89 wird die Grausamkeit dieser Bestrafung besonders deutlich, da die falsche Braut im Nagelfass von Pferden durch die Straßen geschleift wird bis sie tot ist.[83]
In den Märchen Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11) wird „die Tochter in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und musste jammervoll verbrennen.“[84] Im KHM 47 Von dem Machendelboom wird ein Junge von seiner Stiefmutter geköpft, im KHM 53 versucht die Stiefmutter Sneewittchen immer wieder umzubringen, Rapunzel (KHM 12) wird in einen Turm gesperrt, später im Wald ausgesetzt und ihr Prinz wird geblendet.
Neben aller Grausamkeit, die in das Zauberhafte und Unglaubliche hineinrei- chen, muss jedoch beachtet werden, dass sich in den Märchen der Brüder Grimm durchaus auch die historische Rechtswirklichkeit widerspiegelt. Die Hinrichtungs- und Verstümmelungsstrafen wie Vierteilen, zu Tode schleifen oder das Abschlagen von Händen und Füßen oder Blenden sind historisch belegt.[85]
Es ist auffällig, dass in den Märchen der Brüder Grimm kaum halben Strafen, Abstufungen oder sogar Besserungsversuche zu finden sind. Nur selten führen die Strafen nicht zum Tod. Beispielsweise in Frau Holle (KHM 24) haftet der faulen Schwester lebenslänglich Pech an und versinnbildlicht ihre Faulheit.[86] Da es jedoch meistens Hexen und andere Zauberwesen sind, die bestraft werden, wird der menschliche Aspekt nicht bewusst. Hier wird allein das Böse verkörpert. Hier muss abermals auf die reale Gerichtsbarkeit während der Hexenverfolgung hingewiesen werden. Die Hexen, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, wurden nicht als Menschen, sondern als die Verkörperung des Bösen angesehen.[87]
Die Erlösung durch Tötung, die oft als sehr grausam wahrgenommen wird, hat ihren Ursprung in altertümlichen Verwandlungsglauben. Dieser besagt, dass eine Verwandlungsgestalt für eine gewisse Zeit abgelegt werden kann.[88]
Der Tod im Märchen
Der Tod hat in den Kinder- und Hausmärchen ebenso seinen Platz wie das Leben des Wachsens und Verwandelns. Er tritt in verschiedenen Formen auf. Die Verwandlung des Menschen in eine andere Gestalt wird immer durch Verwünschung oder Verzauberung vollzogen. Erst durch das Fortschreiten der Handlung und die Erledigung einer Aufgabe oder ähnlichem, erlangt der Verwünschte seine menschliche Gestalt zurück.[89] Oftmals müssen die dem Helden nahe stehenden Personen durch nochmaliges Töten erlöst werden. Dies geschieht durch Enthauptung, Durchstechen oder Erschlagen. Die Ursprünge dieser Erlösungsart sind dem altertümlichen Verwandlungsglauben zuzuordnen. Hierbei ist die Vorstellung von zeitweiser Ablegbarkeit der Verwandlungsgestalt zentral. Es finden sich jedoch noch keine Aspekte für eine Tötung. Diese scheint erst später hinzugefügt worden zu sein. Ursprünglich handelt es sich um ein einfaches Ablegen der beispielsweise tierischen Hülle. Somit ist die Erlösung durch nochmaliges Töten primär auch nicht grausam, sondern wurde es erst als das Verständnis für den ursprünglichen Sinn fehlte.[90]
Während grässliche Strafen und Verstümmelungen aus der Rechtswirklichkeit entnommen sind und auch die Todesstrafe belegbar ist, so finden sich doch Märchen, die nur märchenhafte Todesstrafen enthalten. Auffallend ist hier, dass die Bestrafung nicht der Begangenen Tat entspricht. Habgier, Gleichgültigkeit, Ungeduld und Neugier werden ebenso mit dem Tod bestraft wie Verrat und Mordversuche.[91]
In dem Märchen Der Gevatter Tod (KHM 44) erscheint der personifizierte Tod. In diesem Märchen wird besonders deutlich wie Leben und Tod mitein- ander verbunden sind. Der Arzt, der versuchte den Tod zu betrugen, erblickt die Lebenslichter der Menschen und bittet für sich um ein neues. Doch der Tod sagt: „Ich kann nicht. […] erst muss eins erlöschen, eh ein neues an- brennt.“[92] Hier zeigt sich, dass Leben und Tod einander bedingen.
Grausamkeit in exemplarischen Märchen und ihr Wandel
Rotkäppchen (KHM 26)
Ausgehend von der Ausgabe letzter Hand werden Rotkäppchen und ihre Großmutter von dem Wolf gefressen und später von dem Jäger wieder aus dessen Bauch befreit. Die ursprüngliche französische Fassung des 18. Jahrhunderts ist hingegen sehr viel detaillierter:
Er brachte die Großmutter um, füllte ihr Blut in eine Flache, schnitt ihr Fleisch in Scheiben und legte es auf einen Teller. Dann zog er ihr Nachtgewand an und wartete im Bett.
[…]
„Guten Tag, Großmutter. Ich bringe dir Brot und Milch.“
„Iss selbst etwas, liebes Kid. Da ist Fleisch und Wein in der Speisekammer.“
Und da aß das kleine Mädchen, was es geboten bekam; und während es das tat, sagte eine kleine Katze: „So ein Luder! Der eigenen Großmutter Fleisch zu essen und Blut zu trinken!“
[…][93]
Neben dieser gibt es weitere Variationen, die sich noch detaillierter mit den kannibalischen Zügen befassen. So muss Rotkäppchen das Blut seiner Großmutter in Butter schmoren, ihre Zähne als Reis oder Bohnen essen und die Knochen der Großmutter liegen als Feuerholz bereit. Während Ernst Tegethoff diese Züge als für die französischen Fassungen charakteristisch eingestuft hat, wurde bereits nachgewiesen, dass dieser Kannibalismus auch in italienischen und Tiroler Märchen vorkommen und es sich somit um eine Normalform dieses Märchens handelt.[94]
Charles Perrault (1628-1703) fügte dieses Märchen seiner Sammlung Gri-seldis (1695) hinzu, verzichtete jedoch auf die kannibalischen Elemente, da er sie als grausam und geschmacklos empfand und seine Märchensammlung für die feinere Salongesellschaft abzustimmen. Seine Absicht bestand darin die zeitgenössische Moral nicht zu übertreten, was in seiner Vorrede zur 4. Auflage. Er schreibt, dass er sich den Vorsatz gesteckt habe, niemals den Anstand und die Schicklichkeit zu verletzen. Dass diese Märchenfassung den Gewährsleuten der Brüder Grimm als Vorlage diente, wird in den Anmerkungen zu dem KHM 26 erwähnt. Ursprünglich gehörte das Rotkäppchenmärchen zu den Warnmärchen, die Kindern erzählt wurden, um sie vor den Gefahren im Wald zu warnen. Doch hat dieses Märchen wahrscheinlich einen bestimmten Wirklichkeitsbezug. Es ist möglich, dass der Wolf ursprünglich ein Werwolf war, der erst von Perrault zum Wolf gemacht wurde. Dies ist dadurch zu begründen, dass es neuere Varianten mit Werwolf von Rotkäppchen gibt. Der Wirklichkeitsbezug ergibt sich aus den Werwolfprozessen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. In diesen wurde den Angeklagten immer wieder vorgeworfen, dass die Kinder getötet und gefressen haben sollten. Im Volksglauben und Sagen heißt es ebenfalls, dass Werwölfe das Fleisch ihrer Opfer aufbewahren.[95] Somit erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass Kindern diese Geschehnisse zur Warnung in Märchen und Geschichten erzählt wurden.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm begriff das Volksmärchen als das „kollek- tive Unbewusste“ in symbolhafter Sprache, was für ihn nach eigener Aussage sehr leicht war. Fromm sagt, in diesem Märchen ginge es um „ die Konfrontation eines heranwachsenden Menschen mit der Sexualität der Erwachsenen.[96] Hier ergibt sich jedoch das Problem, dass Fromm von dem überarbeiteten Märchentext der Brüder Grimm ausgeht und nicht von den älteren Texten, auf die das Märchen der Brüder Grimm selbst zurückzuführen ist.[97]
Blaubart oder Fitchers Vogel (KHM 46)
Die ursprüngliche Fassung von Blaubart erzählt von einer Jungvermählten, die eine verbotene Tür im Haus ihres Ehegatten öffnet. Ihr Mann hat bereits sechs Ehefrauen überlebt. Sie betritt nun den verbotenen Raum und entdeckt die sechs Leichname der früheren Gattinnen, die an der Wand aufgehängt wurden. Der Schlüssel zur Tür entgleitet ihrer Hand vor Entsetzen und landet in einer Blutlache. Da sie das Blut nicht mehr abwischen kann, entdeckt Blaubart ihr Vergehen. Während Blaubart sein Messer wetzt, um sie als siebte zu töten, zieht die Jungvermählte ihr Hochzeitskleid an und versucht ihre Toilette in die Länge zu ziehen, damit ihre Brüder zu ihrer Rettung eilen können. Diese rief sie mit einer Taube herbei, damit sie vor ihrem Schicksal bewahrt wird.[98]
Diese ursprüngliche Erzählung wurde in verschiedener Weise weiterentwi- ckelt und abgewandelt. Die italienische Version zeigt, wie sehr sich ein Mär- chen verändern kann und doch die Struktur erhalten bleibt. Hier ist Blaubart ein Teufel, der Bauernmädchen in die Hölle lockt. Dies gelingt ihm, indem er sie zum Wäsche waschen einstellt. Blaubart führt die Mädchen mit dem Schlüssel zur verbotenen Tür, die in die Hölle führt, in Versuchung. Dass die Mädchen der Versuchung erlegen sind, erkennt der Teufel daran, dass die von ihm in die Haare der Mädchen gesteckte Blume von den aus der Tür schlagenden Flammen versengt ist. Diese Begebenheit wiederholt sich bis der Teufel Lucia anstellt. Als sie die Tür öffnet verwahrt sie die Blume an einem sicheren Ort und öffnet die Tür nur einen Spalt um ihre vermisste Schwester in der Hölle zu erblicken. Da der Teufel sie nicht wegen Ungehorsam verurteilen kann, hat Lucia letztendlich einen Wunsch frei. Sie wünscht, dass der Teufel die Wäschesäcke zu ihrer Mutter trägt, damit sie ihr hilft. Lucia befreit nacheinander alle gefangenen Mädchen und versteckt sie in den Säcken. Auf diese Weise entkommt auch sie dem Teufel und hält ihn zum Narren.[99]
Obwohl das Blaubartmärchen der Brüder Grimm dem gleichen Erzählfaden folgt, zeigen sich anstelle des Humors in der italienischen Variante Grau- samkeiten und makabre Züge. Hier ist der Bösewicht ein Hexenmeister, der die Mädchen in sein Schloss in einem finsteren Wald entführt. Auch hier wird dem Mädchen ein Schlüssel für einen verbotenen Raum – die Blutkammer – anvertraut und sie bekommt ein Ei, das sie aufheben sollte. In dem Zimmer findet das Mädchen nun tote und zerteilte Menschen und erschreckt sich so, dass sie das Ei in ein Becken voller Blut fallen lässt. Durch ihr Vergehen findet das Mädchen den Tod.[100]
Er warf sie nieder, schleifte sie an den Haaren hin, schlug ihr das Haupt auf dem Block ab und zerhackte sie, dass ihr Blut auf dem Boden dahinfloss. Dann warf er sie zu den übrigen Stücken in das Becken.[101]
Hier wird detailliert auf die Tötung des Mädchens eingegangen. Jedoch ist zu beachten, dass dieser Tod wieder ins Leben übergeht. Denn nachdem auch die zweite von drei Schwestern auf diese Weise getötet wurde, gelingt es der dritten ihr Ei unbeschadet aufzubewahren. Sie geht in die Kammer, sucht die Teile ihrer Schwestern zusammen und legt sie zurecht. Daraufhin fügen sich die Glieder aneinander und beide zuvor getöteten Schwestern leben wieder. Somit ist die Grausamkeit – der Tod – wieder aufgehoben und das Märchen kann ein gutes Ende finden, indem der böse Hexenmeister, wie zuvor der Teufel in dem italienischen Märchen überlistet wird. Auch die Bestrafung des Hexenmeisters bleibt nicht aus. Als er die dritte der Schwestern heiraten soll, wird er mit als seinen Freunden in seinem Haus eingesperrt. Die Brüder der Schwestern zünden das Haus an und alle müssen verbrennen. Der Hexen- meister wird wie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hier wird das Motiv aufgegriffen, dass in Hexenwesen kein Mensch, sondern die Verkörperung des Bösen ist, die durch das Verbrennen vernichtet wird.[102]
Fazit
Die Untersuchung der Grausamkeit in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm hat gezeigt, dass sich in ihnen besonders historische Wirklichkeit widerspiegelt. Doch zeigt sich in dem Vergleich von unterschiedlichen Fassungen wie sehr einige Märchen von den Brüdern Grimm bearbeitet wurden.
Die Funktion der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm hat sich mit der Zeit verändert. Neben der Vermittlung von Arbeits- und Gehorsamsvorstellungen des aufstrebenden Bürgertums ihrer Zeit, sollten sich auch als Abschreckung dienen. Im Wesentlichen würden die Märchen zum bürgerlichen Erziehungsbuch. Die durch die Grimms einsetzende Tendenz, die Märchen kindgerecht darzustellen, hat sich bis heute fortgesetzt. Seit dem 20. Jahrhundert werden Märchen fast ausschließlich als Kindermärchen aufgefasst. Darin begründet sich auch die Kritik an der Grausamkeit in den Märchen. Doch muss beachtet werden, dass die Wahrnehmung der Erwachsenen sich nicht mit der der Kinder deckt. Die Kinder identifizieren sich mit dem Märchenhelden und entwickeln für ihn gerade durch die sehr starke Gegenüberstellung vom guten Helden und dem bösen Gegenspieler Sympathie.
Die Interpretation dieser Grausamkeiten führt in verschiedene Bereiche, wo- durch sie auch aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden muss. Das Märchen muss in den ethnischen und kulturellen Rahmen seines Ursprungs gestellt werden. Hier zeigt sich, dass heute andere Werte und Vorstellungen herrschen und unsere Maßstäbe allein zur Bewertung nicht aus- reichen. So erweist sich beispielsweise das das Abkochen und Zusammen- legen von Knochen als ein Brauchtum zur Wiederbelebung und Zeichen eines fortdauernden Lebens. Ebenso erweisen sich Menschopfer als vergangene Bräuche. Somit zeigt sich, dass die Grausamkeit erst zur Grausamkeit wird, weil ihre ursprüngliche Bedeutung nicht mehr verstanden wird. Selbst die Rechtsprechung des Mittelalters hat durch die Strafen ihr Spuren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm hinterlassen.
Bei näherer Betrachtung der Grausamkeiten lässt sich feststellen, dass sie innerhalb der Märchen eine besondere Funktion haben. Sowohl das Böse, als auch das Gute gibt es in Märchen nur als Extreme. Somit verlangt die Struktur geradezu die schonungslose Vernichtung des Bösen, um den Helden oder die Heldin des Märchens am Ende im Kontrast dazu zu erhöhen.
Die Grausamkeit löst den Konflikt aus, wodurch sie aus dem Märchen nicht wegzudenken ist. Die oft schon übertriebene Grausamkeit wirkt nicht real und wiegt somit nicht so schwer wie tatsächliche Gewalt. Und hier reiht sich die unreale Grausamkeit in die fiktive Märchenwelt ein.
Literaturverzeichnis
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Sekundärliteratur
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Lüthi, Max: Europäische Volksmärchen – Form und Wesen, 4. Aufl., München 1974
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Maennersdoerfer, Maria Christa: Schicksal und Wille in den Märchen der Brüder Grimm, Bonn 1965
Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, 2. Aufl., Wiesbaden 1964
Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, Schriftenreihe Literaturwissenschaft; Bd.50; 2.Aufl., Trier 2004
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Internetquellen:
http://www.sagen.at: Vorrede der Brüder Grimm 1819
Direkter Link: http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchen_deutschland/brueder_grimm/vorrede.html abgerufen am 05.09.2006
www.haeselbarth.de: Die pädagogische Bedeutung von Märchen
Direkter Link: http://www.haeselbarth.de/maerch2.htm abgerufen am 29.09.2006
Paolo Parisi: Kannibalismus in Märchen und Sagen
Einführung
Unter Anthropophagie versteht man das Verzehren von menschlichem Fleisch. Es handelt sich dabei um eine Sonderform des Kannibalismus, die ausschließlich den Menschen betrifft. Im Folgenden seien die beiden Begriffe als Synonym verwendet. Kannibalismus ist in der menschlichen Kultur normalerweise nicht üblich und gehört wie das Inzesttabu zu einem allgemeingültigen Tabu.
Bereits in der Antike sind Fälle von Kannibalismus überliefert, so bei Herodot (IV, 106), wo von Androphagen die Rede ist, vermutlich eine synkopierte Form von Anthropophagen. „Sie sind Nomaden und tragen eine der skythischen ähnliche Kleidung, haben aber ihre eigene Sprache, sie allein unter diesen Völkern verzehren Menschenfleisch“ (Herodot: IV, 106).
Es wurden nur jene Märchen in Betracht gezogen, in denen Kannibalismus vorsätzlich praktiziert wird, nicht solche, in denen bspw. jemandem, der es nicht bemerken soll, Menschenfleisch aufgetischt wird. Es bleiben natürlich noch viele Erzähltypen und solche die Varianten aufweisen, in denen Kannibalismus nebenbei vorkommt. Diese wurden nicht berücksichtigt. Märchen in denen Kannibalismus vorkommt, gehören sicherlich zu den älteren Märchen.[103] Röhrich sieht bspw. Reste älterer Kulturstufen in den Märchen. Hierzu gehört neben den Initiationsriten auch die Erzählung von der Altentötung (AaTh 981). Diese „scheint einen unmittelbaren Realitätsbezug zu urtümlichen Gepflogenheiten wandernder oder nomadisierender Völker, aber generell auch zu allen Notsituationen zu haben, in denen es ratsam war, die Alten zu beseitigen, um selber überleben zu können“ (Wehse 1990: 22).
Im Folgenden wird das Thema Kannibalismus in Sagen und Märchen ausgearbeitet, indem mit dem Kapitel Kategorien von Kannibalismus begonnen wird, das wiederum in seinen Unterkapiteln „Kannibalismus in Ausnahmesituationen“, „Kannibalismus institutionalisiert in Kultur“ (wir werden Endo- von Exokannibalismus unterscheiden), „Kannibalismus als Metapher in der Vorstellungswelt der Märchen und Sagen“ das Phänomen erläutert. Diese Unterkapitel werden dann im zweiten Kapitel wieder aufgenommen, in welchem ausschließlich auf das Phänomen des Kannibalismusʻ in den Sagen und Märchen eingegangen wird.
Kategorien von Kannibalismus
Kannibalismus in Ausnahmesituationen
Diese Form des Kannibalismus tritt bei Hungersnot zum Überleben auf. Ein Beispiel dieser Form des Kannibalismus wird bereits bei Cäsar im Gallischen Krieg überliefert. Er berichtet davon, dass bei der Belagerung von Alesia der adlige Arverner Critognatus seine gallischen Mitbürger zur Gegenwehr ermunterte und dabei davon erzählte, dass die Gallier bei der Belagerung der Kimbern und Teutonen die Alten, die zum Kampfe nicht mehr geeignet waren, verzehrten (vgl. Cäsar: Der Gallische Krieg, VII, 77, 12). Verzehr von Leichen während einer Belagerung kam hingegen noch während der Belagerung Leningrads von 1941 bis 1944 vor (vgl. hierzu: Jones, Michael: Leningrad. State of Siege, London 2008), auch in den Hungerjahren Sowjetrusslands ist Kannibalismus aufgetreten.
Kannibalismus institutionalisiert in Kultur
Hier haben wir es, wenn man so will, mit der ritualisierten Form von Anthropophagie zu tun. Das Menschenfleisch stellt keine Alltagsernährung dar, es dient zuvörderst als Ritualspeise. Anthropophagie vollzieht sich im kulturellen Kontext betrachtet in einem sozial genau definierten Rahmen. Es kann hierbei unterschieden werden zwischen Endokannibalismus und Exokannibalismus.
Unter Endokannibalismus versteht man „das ganze oder partielle Verspeisen von Verwandten als Teil eines Totenrituals“ (Hauser-Schäublin 1993: 940 f.). Man vergleiche hierzu einige frühe Belege aus Herodot (5. Jh.v.u.Z.): die Kalatier, ein indischer Volksstamm, hat die Sitte ihre verstorbenen Väter im Feuer zu verbrennen und zu essen (III, 38). Beim Volk der Issedonen, wahrscheinlich im Asiatischen Russland lebend, wird der verstorbene Vater zerhackt und zu
sammen mit Vieh, das von Verwandten herbeigebracht wurde, zu Opfer geschlachtet. Dann wird alles zusammen zubereitet und zum Mahle vorgesetzt (IV, 26).
Exokannibalismus hingegen „ist mit Aggression und Gewalt verbunden und bedeutet das teilweise oder ganze Verspeisen von Feinden, Gefangenen oder Sklaven“ (Hauser -Schäublin 1993: 941). Oft wird auch nur ein Organ oder nur ein Teil des Feindes verspeist, wie es bspw. im Thebanischen Sagenkreis überliefert ist, wo Amphiaraos den Thebaner Melanippos tötet und ihm den Kopf abschlägt, den er dann Tydeus bringt, der ihn aufschlägt und dann das Gehirn aufisst (vgl. Grimal 2011[1951]: 31, Sp. 2). Hier liegt ein Orendismus zu Grunde, also die Vorstellung, dass man durch das Verspeisen des Feindes oder durch das Verspeisen eines Körperteils, seine Kraft übernimmt. In der Tat wurde Tydeus vorher von Melanippos im Bauch verletzt.
Das Verspeisen von Gefangenen ist aus vielen Reisebeschreibungen bekannt, in denen fremde Völker, um die eigene Eroberung des Landes zu legitimieren, meist als Kannibalen dargestellt und stigmatisiert wurden. Diese Art von Zuschreibung ist uns auch aus der Antike überliefert, meist im Zusammenhang mit nomadisierenden Gruppen und Völkern.
„Die Nomadenstämme, im geographischen Weltbild der Antike […] repräsentierten im Bewusstsein der Griechen eine frühere Entwicklungsstufe“ (Baudy 1999: 229). Literarische Quellen stellen dar, dass die Menschen, sobald sie zu Ackerbauern wurden, ihr Hirten-Dasein aufgaben und sie „überwanden zugleich den kulturlosen Zustand der Allelophagie [Verzehren von Mitgliedern der eigenen Gruppe]: Sie verschmähten es fortan, sich gegenseitig zu verspeisen“ (ebd.: 230; mythische Quellen in Ägypten und Griechenland zu diesem Aspekt siehe in: ebd., Anm. 44). Dass Nomadismus und Kannibalismus kulturgeschichtlich und ethnographisch in Zusammenhang gebracht werden können, verdeutlicht Baudy dadurch, dass griechische Quellen der Kaiserzeit Hirten aus dem Nildelta als Kannibalen bezeichnen. Kostümierte Rinderhirten (bukoloi) erschlugen, wie der Historiker Dio Cassius berichtet, bei einem Aufstand einen römischen Centurio und seinen Begleiter. „Letzteren opferten sie, schworen sich gegenseitige Treue über seine Eingeweide und aßen diese auf“ (ebd.). In diesem Falle hätten wir ein Beispiel von Exokannibalismus, bei welchem man sich die Stärke des Feindes einverleiben wollte. Bezüglich des Kannibalismus‘ bei Hirten, erscheint in diesem Zusammenhang wichtig, dass im Roman Leukippe und Kleitophon von Achilleus Tatios (2. Jh. n.u.Z.) räuberische Hirten von einem Menschenopfer, das allerdings geschauspielert war, die Leber (es handelt sich eigentlich um die Leber eines Opfertiers) essen (vgl. ebd.: 235).
Kannibalismus als Metapher in der Vorstellungswelt der Märchen und Sagen
K kann, vor allem in Bezug auf Märchen, auch in ihrer metaphorischen Bedeutung aufgefasst werden, die durch die Phantasie und die Ängste der Menschen bestimmt sind. Hiermit wird zum einen auf Macht hingewiesen, auf das Aussaugen des gemeinschaftlichen Gutes von seitens selbstgefälliger Tyrannen. Zum anderen als Verdeutlichung von Gewalt und das psychische Verletzten-wollen innerhalb familiärer Beziehungen, das womöglich nur imaginäre Jemanden-auffressen-wollen als eine auf einen Schaden hinzielende Verdeutlichung.
Kannibalismus in Märchen und Sagen
Kannibalismus in Ausnahmesituationen
Was den Kannibalismus in Ausnahmesituationen anbelangt, den Hungerkannibalismus also, belegt Burwick 2001 für die KHM (Kinder- und Hausmärchen) der Gebrüder Grimm, dass Hunger Thema einiger Märchen ist und dass beispielsweise im Märchen Hänsel und Gretel (KHM, Nr. 15)[104] die zwei Kinder während einer großen durch Teuerung verursachten Hungersnot ausgesetzt werden. Die Hexe in diesem Märchen steht außerdem im Bereich des alten Rechts und Aberglaubens, der durch ein Dekret Karls des Großen, nach der Eroberung der „barbarischen“ Sachsen und der damit zusammenhängenden Verbreitung des Christentums, aus den Jahren 775 bis 790 die Todesstrafe auf Kannibalismus gab (vgl. Burwick 2001: 243 f.). Im 17. Jh. wurden Hexen in Deutschland verfolgt, da sie als vom Teufel besessen galten und wurden wegen Kinderausgraben und –essen zu Tode verurteilt (vgl. ebd.). „Auch im Märchen sind Hexen mit dem Motiv des Kannibalismus verbunden“ (ebd.).[105]
Doch es gibt auch volkstümliche Überlieferungen, die konkreter sind. Ein volkstümlicher Bericht, der die französische Stadt Belfort (in Franche-Comté) betrifft, eine Stadt, die durch den Krieg und die Pestepidemie im Jahre 1630 verwüstet wurde, erzählt, dass ein Chirurg, der einem Soldaten einen brandigen Arm amputiert hatte, dieses als Bezahlung verlangen, damit er es aufessen könne (vgl. GFM 1964: 128).
Kannibalismus institutionalisiert in Kultur
Endokannibalismus
Das Verspeisen von Toten und Kranken, eine Form des Kannibalismus, die bereits in der Antike beschrieben wird,[106] kommt in mündlichen Überlieferungen als eine in der Kultur verankerte institutionalisierte Gepflogenheit vor. In einer ägyptischen mündlichen Überlieferung ist von einem Land die Rede, es heißt, es sei der Sudan, in dem es keine Gräber gibt. Hier bietet ein Scheich einem Neuankömmling menschliche Körperteile von seiner verstorbenen Frau zum Essen an (vgl. Sayce 1920: 178).
Eine ähnliche Erzählung erscheint als mündliche Überlieferung des Schilluk-Volkes im Süd-Sudan, hier ist von einem Dorf die Rede, in welchem Kranke verspeist werden, nachdem sie erschlagen worden sind. Familienangehörige bekommen darauf von der Dorfgemeinde Geld dafür (vgl. Westermann 1912: 228 f.). Hier hätten wir es eher mit Endokannibalismus zu tun, wobei in der letzteren Überlieferung als ironische Wendung der Erzählung eventuell, je nach Auslegung des Märchens, auch Exokannibalismus in Frage kommen könnte, da es sich um Fremde handelt, die zu sterben haben.
Exokannibalismus
In Märchen ist jedoch auch Exokannibalismus belegt. Aus Süd-Afrika ist uns ein Märchen überliefert, in dem ein Kannibalen-Stamm für den eigenen Stamm eine Bedrohung darzustellen scheint. Dieser Kannibalen-Stamm will nämlich die Kinder des eigenen Stammes, die sich in einer Hütte aufhalten, essen. Die Kannibalen töten und essen dann, nachdem die Kinder sich retten konnten, einen der ihrigen, weil sie denken, er habe sie betrogen (vgl. Held 1904: 2-12).
Auch in der vierten Reise Sindbads, des Seefahrers (vgl. 1001: Bd. 7) ist von einem kannibalischen Stamm die Rede, die zudem als Magier bezeichnet werden. „[S]o erkannte ich, dass sie ein Stamm kannibalischer Magier waren, ihr König aber ein Ghul. Alle, die in ihr Land kamen oder die sie in ihren Tälern oder auf ihren Straßen fingen, führten sie vor diesen König, und sie gaben ihnen jene Speise zu essen und salbten sie mit jenem Öl […]. Dann mästeten sie sie mit Kokosöl und vorbenannten Speisen, bis sie dick und fett genug wurden, um sie zu schlachten, indem sie ihnen die Kehle durchschnitten und sie brieten, damit der König sie verzehre; die Wilden selber aber aßen das Menschenfleisch roh“ (vgl. 1001: Bd. 7, S. 139). Diesem Märchen kann man außerdem entnehmen, dass der König, dadurch, dass er gebratenes Menschenfleisch isst, seinen Untergebenen eine Sonderstellung zeigt.
Ferner kommt in einem tunesischen Märchen eine Stadt von Menschenfressern vor (vgl. Stumme 1893: 57 ff., Nr. 4).
Exokannibalismus im Zusammenhang mit Raub
Als weitere Anthropophagen, die nicht mit einem ganzen Stamm oder mit einem fremden Volk in Verbindung gebracht werden können, wären Räuber zu nennen. Räuber, die also Menschen essen, kommen vor in einigen Versionen von ATU 955 Der Räuberbräutigam, so z.B. in KHM 40, dann im französischen Märchen Die drei Jungfrauen und die drei Reiter (vgl. Tegethoff 1923: Bd. 2, S. 64, Nr. 15). Außerdem in ATU 955 B* Die Frau unter den Räubern. Hier verirrt sich eine Frau, die mit ihrem Kind umherreist, und gerät in die Hände von Räubern, die ihr Menschenfleisch anbieten. Sie kochen ihr Baby in einem Kessel. Vorkommen: Lettland, Schottland, Deutschland, Russland, Ukraine, in der jüdischen Tradition, Mordvinien. Des Weiteren kommt ein anthropophager Räuber in einer maltesischen Erzählung der Flucht der Heiligen Familie vor. Auf der Reise nach Ägypten erbittet die Heilige Familie bei der Frau eines Räubers, der sich als Menschenfresser herausstellt, Unterkunft (vgl. Dähnhardt 1909: Bd. 2, S. 28).
Menschenfressende Riesen
Menschenfressende Riesen, wie wir sie aus Perraults „Le Petit Poucet“ (ATU 327 B Däumling und Menschenfresser) als „Ogres“ kennen, sind bereits seit der Antike durch den Kyklopen der Odyssee schriftlich überliefert. In den modernen Märchen tauchen sie als der Erzähltyp ATU 1137 Polyphem auf. Im Französischen „ Ogre est […] attesté […] avec son sens actuel de « géant de contes de fées se nourissant de chair humaine » (v. 1300)“ (DHLF: 2448, Sp.1).[107]
Für deutsche Sagen gilt, dass „[m]it der Vorstellung von Rn als Menschenfressern […] die Motivik von Rn als Frauenentführern eng verbunden“ ist (Röhrich 2004: 677).
In einem französischen Märchen erzählt man: „einst bei einer Seefahrt vom Sturm ins offene Meer getrieben und landete im Reiche der Menschenfresser. Diese waren von furchterregendem Äußeren: sie hatten nur ein schielendes Auge, das mitten auf der Stirne saß, ein Maul so groß wie einen Backofen, eine breite und flache Nase, lange Eselsohren, struppiges Haar und vorn und hinten einen Buckel“ (Tegethoff 1923: Bd.1, 279-286, Nr. 31). Diese französische Version des Polyphem-Märchens (Der Orangenbaum und die Biene) ist wahrscheinlich als Überseevariante von der griechischen beeinflusst, denn in den modernen Märchenerzählungen sind solche eigentlich nicht üblich (vgl. Röhrich 1976: 243 f.).
Bezüglich der ursprünglichen Polyphem-Erzählung ist hervorzuheben, dass der menschenfressende Kyklop Polyphem aus Homers Odyssee als Rinderhirte auftaucht.
„Il est berger, vit du produit de son troupeau de moutons et habite dans une caverne. Bien qu’il connaisse l’usage du feu, il dévore de la chair crue“ (Grimal 2011[1951]: 386, Sp. 2). In seiner Höhle beginnt er einige von Homers Gefährten zu verschlingen (vgl. ebd.). Bei Homer ist nicht davon die Rede, dass die Gefährten gekocht oder gebraten werden, in mittelalterlichen und volkstümlichen Fassungen aus der Neuzeit schon (vgl. Röhrich 1976: 244).
Der Kannibale erscheint in der Odyssee als Schafhirte, die Kyklopen leben in einer Welt ohne Ackerbau. Neben der Tatsache, dass er sich durch den Kannibalismus und seine Einäugigkeit vom Menschen unterscheidet, bestärkt „das Nichtvorhandensein des Getreideanbaus“ seine Stellung zwischen Mensch und Tier (Baudy 1999: 224 f.).
Man kann davon ausgehen, dass „schon in der Antike ein von Homer abweichendes und vielleicht sogar schon vorhomerisches Volksmärchen vorhanden gewesen sein muss, das dann im Laufe der Jahrhunderte zu vielen Völkern und Ländern wanderte“ (Röhrich 1976: 234). Dieser Märchentyp ist jedenfalls in ganz Europa und Asien verbreitet, in Nordafrika und in Nordamerika (vgl. ebd.: 241-243).
Kannibalismus als Metapher in der Vorstellungswelt der Märchen und Sagen
Kannibalismus als Metapher für eine Tyrannei
In den folgenden Beschreibungen bezieht sich Kannibalismus auf Macht, er dient dazu in übertragenem und, wenn man so will, versteckten Sinne von der Ausbeutung durch eine mächtige tyrannische Person, die die Bevölkerung ausbeutet indem sie beispielsweise viele Steuern zahlen lässt.
Die beispielsweise in vielen südfranzösischen Sagen vorkommenden Menschenfresserinnen, können zwar als anthropophage Gestalten aufgefasst werden. Die Anthropophagie wird hier wohl als Metapher für Macht benutzt oder kann als Ergebnis für Gerüchte betrachtet werden, die von einer bestimmten Bevölkerungsschicht ausgingen. Hier hätten wir wohl ebenfalls einen Beweis dafür, dass Märchen älter als Sagen sind. Eine bekannte Gestalt der oben genannten Sagen wäre die Menschenfresserin von Roche-Savine, eine Dame, die in einem Schloss haust (vgl. Pourrat 1989: 173). In der Auvergne gibt es besonders viele Sagen von Menschenfresserinnen (vgl. ebd.). „En Auvergne, la comtesse Brayère et la reine Margot […] passent pour avoir mangé les enfants de leurs vassaux“ (Magnien 1990: 274, Anm. 1, in: Perrault, Contes). Die Menschenfresser/innen in den französischen Sagen stellen, wie bereits gesagt, nicht mehr die tatsächliche Anthropophagie dar, sondern benutzen diese im übertragenen metaphorischen Sinne, denn es handelt sich bei diesen um reiche Personen, die zumeist auf Schlössern hausen. „Bien sûre, comme l’ogresse, les voilà riches, très riches. À croire que l’anthropophagie […] s’accompagne nécessairement de la profusion de terres, d’or et d’argent. Et de pouvoirs exceptionnels : régence, métamorphoses […]“ (Magnien 1990: 41). Einen Menschenfresser, der in einem Palast wohnt, haben wir nun auch im Märchen vom gestiefelten Kater (ATU 545 B), das darum wohl ebenfalls kein allzu altes Märchen ist. Ein Menschenfresser, der in einem Schloss haust, begegnet uns auch in einem sizilianischen Märchen bei Gonzenbach (1870: Bd. 2, Nr. 65 Vom Conte Piro (ATU 545 B)), in der dritten Reise Sindbads aus Tausendundeiner Nacht und in vielen Polyphem-Märchen (vgl. Röhrich 1976: 244).
In der französischen Tradition ist in einer Sage aus Étalante (in der Bourgogne) die Rede von der bekannten Quelle der Coquille (source de la Coquille) der Fee Greg, der Kinderfresserin (vgl. GFM 1964: 343). Sie kann auf Lamia, die Kinderfresserin der Antike, bezogen werden. Die sich oft in der Nähe von Quellen befand. In einem griechischen Märchen, eine Überlieferung aus Witza in Epirus, ist es eine Königstochter, die hier jedoch nicht nur Kinder, wie es in den französischen Sagen der Fall ist, sondern die ganze Ortschaft verschlingt: „Es war einmal ein König“, heißt es da, „der hatte einen Sohn und zwei Töchter, und davon war die jüngste eine Chursusissa[108] und verschlang alle Leute, die zur Quelle kamen, um Wasser zu holen. Da gingen die Leute zum König und klagten, daß aus dem Tore seines Schlosses ein Mensch komme und die Leute verschlinge, die zur Quelle kämen. Der König aber jagte sie fort und sprach: »Packt euch, ich habe keinen Menschenfresser in meinem Schlosse.« Darauf versteckte sich der Prinz bei der Quelle, um zu sehen, ob die Leute die Wahrheit sagten, und als seine Schwester kam und einen Menschen packte, da zog er sein Schwert und hieb ihr damit die Wange ab“ (Hahn 1918: 457, Variante 2 von Nr. 65 Die Stringla).
Kannibalismus als Verdeutlichung von psychischer Gewalt
Dieser Aspekt des Kannibalismus ist besonders in Märchen gegeben, die als Thema meist innerfamiliäre Konflikte haben. Im Folgenden finden einige Beispiele Erwähnung, in denen ein Kannibale/ eine Kannibalin Teil der Familie ist. In solchen steht das absichtliche Jemandem-wehtun-wollen, die psychologische Gewalt, im Mittelpunkt.
Mutter: In einem Märchen aus Süd-Afrika ist die Mutter eine Menschenfresserin. Als sie eines Tages ihren Appetit nach dem Fleisch ihrer Kinder nicht bändigen kann, schickt der Vater seine zwei Kinder zum Großvater. Eines Tages besuchen die zwei Kinder ihren Vater, ohne dass es die Mutter jedoch bemerkt. Am Schluss bemerkt sie es doch, sie verfolgt sie bis zum Großvater, dort verschlingt sie die Kinder (vgl. Held 1904: 192-196). „Dann ging sie in das Dorf und verschlang Männer, Frauen und Kinder und schließlich auch alles Vieh, welches sich vorfand“ (vgl. Held 1904: 195).
Tochter/ Schwester: Eine Kannibalin, die ein ganzes Dorf verschlingt, haben wir auch in ATU 315 A Die kannibalische Schwester[109]: Eine Frau (/Königin), die nur Söhne hat, gebiert eine Tochter. Diese verschlingt zuerst die Tiere, dann ihre Brüder und ihre Eltern, und schließlich die Einwohner des Ortes. Vorkommen: Lappland, Balkan, Griechenland, Russland, Türkei, in der mündlichen Tradition der Zigeuner, Ossetien, Uigurien, Armenien, Sibirien, in der mündlichen Tradition der Kalmyken, Tadschiken, Tuva, Georgien, Syrien, Arabische Halbinsel, Iran, Indien, China, Japan, Englisch und Franz. Kanada, Maghreb, Sudan, Zentralafrikan. Republik.
Tochter: ATU 406 The Cannibal: Ein Paar bekommt ein Kind, das ein Kannibale ist und jeden aufisst. Ein Mann schafft es, diesen Zauber zu brechen. Sie wird in ein Mädchen verwandelt und die beiden heiraten. Vorkommen: Dänemark, Rumänien, Griechenland, Ukraine, Ossetien, Georgien, Japan.
[...]
[1] S. 98; im folgenden als EM abgekürzt
[2] vgl. Röhrich, S. 124
[3] vgl. Lüthi, S. 110
[4] vgl. Röhrich, S. 126
[5] vgl. Röhrich, S. 3
[6] vgl. Lüthi, S. 76 f.
[7] Grimms Märchen S. 236 f.
[8] In der Grimmschen Fassung von 1837 nicht Schnee-, sondern Sneewittchen; ebenso bei allen zitierten Texten.
[9] vgl. Mallet, S. 165
[10] Grimms Märchen S. 240
[11] Grimms Märchen S. 241
[12] Grimms Märchen S. 242
[13] vgl. Schneewittchen AT 709
[14] vgl. Schneewittchen AT 709
[15] M. Rumpf wies nach, dass sich diese Züge auch in italienischen und Tiroler Fassungen fänden und wohl zur Normalform des Rotkäppchenmärchens gehörten; vgl. Röhrich, S. 126
[16] Grimms Märchen S. 206
[17] Grimms Märchen S. 192
[18] Grimms Märchen S. 207
[19] vgl. Mallet, S. 165
[20] Grimm S. 244
[21] Grimm S. 208
[22] so prügelt der Knüppel aus dem Sack in KHM 36 „Tischleindeckdich“ lediglich so lang auf den Gegner ein, bis das Gegenkommando gegeben wird; der jeweilige Gegner kommt mit dem Leben davon. Hier greift womöglich das „Formprinzip der spiegelnden Strafe“ (vgl. Röhrich, S. 147), da die Helden nicht durch ihre Gegner getötet, sondern ,nur’ betrogen werden.
[23] Grimm S. 390 f.
[24] vgl. Röhrich, S. 144
[25] vgl. EM, S. 102
[26] Die hier versuchten Interpretationsansätze erfolgen, soweit nicht anders gekennzeichnet, hauptsächlich in Anlehnung an Röhrich, in: EM, S. 101-103
[27] vgl. Lüthi, S. 26; Hervorh. im Original
[28] vgl. Lüthi, S. 67
[29] vgl. Mallet, S. 27
[30] vgl. Lüthi, S. 14
[31] vgl. Röhrich, S. 148
[32] Grimms Märchen S. 390 f.
[33] vgl. Röhrich, S. 148
[34] vgl. Röhrich, S. 148
[35] vgl. Schneewittchen AT 709
[36] vgl. EM, S. 101
[37] vgl. EM, S. 100
[38] vgl. Röhrich, S. 144; hier muss Röhrichs Behauptung widersprochen werden, die Strafe durch Verbrennen werde im Märchen nur auf Frauen angewandt; womöglich trifft dies auf die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zu, lässt sich aber durch genanntes Beispiel, welches Röhrich auf S. 145 selbst anführt, nicht verallgemeinern.
[39] vgl. Röhrich, S. 134
[40] vgl. Röhrich, S. 146 f.
[41] vgl. Röhrich, S. 127
[42] Vgl. Röhrich Lutz: Märchen und Wirklichkeit, 2. Aufl., Wiesbaden 1964
[43] Vgl. Gmelin, Otto F.: Böses kommt aus Märchen, in: Die Grundschule, 7. Jg.
1975, Heft 3, S.125-131
[44] Vgl. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, Schriftenreihe Literaturwissenschaft; Bd.50; 2.Aufl., Trier 2004, S.57
[45] ebd., S.57
[46] Vgl. ebd., S.57-58
[47] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, S.61
[48] Vgl. ebd., S.61-62
[49] Vgl. ebd., S.63
[50] http://www.sagen.at : Vorrede der Brüder Grimm 1819
[51] Vgl. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, S.65
[52] http://www.sagen.at : Vorrede der Brüder Grimm 1819
[53] Vgl. Spörk, Ingrid: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm, Königstein 1985, S.50/51
[54] Spörk, Ingrid: Studien zu ausgewählten Märchen der Brüder Grimm, S.51
[55] Vgl. Krochmann, Ulla: Grausamkeit in Märchen, dargestellt an einem selbstgewählten Beispiel, Hausarbeit, Oldenburg 1994 S.18/19
[56] Vgl. Lüthi, Max: Europäische Volksmärchen – Form und Wesen, 4. Aufl., München 1974, S.68/69
[57] Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, Ausgabe letzter Hand, Stuttgart 1984, S.141
[58] Vgl. Lüthi, Max: So leben sie noch heute – Betrachtungen von Volksmärchen, Göttingen 1969, S.22
[59] Vgl. Krochmann, Ulla: Grausamkeit in Märchen, dargestellt an einem selbstgewählten Beispiel, S.8-12
[60] Ranzer, Friedrich [Hrsg.]: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm; vollständige Ausgabe in der Urfassung, Wiesbaden 1947, S.119
[61] ebd., S.120
[62] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, 2. Aufl., Wiesbaden 1964, S.123-124
[63] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen, Bamberg 1981, S. 94/95
[64] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen, Bamberg 1981, S. 96
[65] Vgl. ebd., S. 96
[66] ebd., S.97
[67] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.156-158
[68] Vgl. www.haeselbarth.de
[69] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.148-150
[70] Vgl. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 2, S.385-388
[71] Vgl. Bastian, Ulrike: Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm in der literaturpädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main
1981, S.276/277
[72] Ranzer, Friedrich [Hrsg.]: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, S.93
[73] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.132
[74] Ranzer, Friedrich [Hrsg.]: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, S.197
[75] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S.62
[76] Hartmann von Aue: Der Arme Heinrich, Stuttgart 1993
[77] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.133
[78] Ranzer, Friedrich [Hrsg.]: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, S.192
[79] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S.278
[80] Vgl. Maennersdoerfer, Maria Christa: Schicksal und Wille in den Märchen der
Brüder Grimm, Bonn 1965, 151/152
[81] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S.144
[82] ebd., S.77
[83] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.143
[84] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S.86
[85] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.144
[86] Vgl. Maennersdoerfer, Maria Christa: Schicksal und Wille in den Märchen der
Brüder Grimm, S.159
[87] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen, Bamberg 1981, S.100/101
[88] Vgl. Krochmann, Ulla: Grausamkeit in Märchen, dargestellt an einem selbstgewählten Beispiel, Hausarbeit, Oldenburg 1994 S.18/19
[89] Vgl. Lox, Harlinde: Die Todesgestaltung in den Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm, Studia Germanica Gandensia, Gent 1986, S.9
[90] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, S.136/137
[91] Vgl. Lox, Harlinde: Die Todesgestaltung in den Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm, S.64/65
[92] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S.230
[93] Darnton, Robert: Das Große Katzenmassaker; Streifzüge durch die französische
Kultur vor der Revolution, München: Hanser, 1989, S.17
[94] Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen, Bamberg 1981, S. 95/96
[95] Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit, 2. Aufl., Wiesbaden 1964, S.126-127
[96] Darnton, Robert: Das Große Katzenmassaker; Streifzüge durch die französische
Kultur vor der Revolution, S.18
[97] Vgl. ebd., S.18-20
[98] Vgl. Darnton, Robert: Das Große Katzenmassaker; Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, S.22
[99] Vgl. ebd., S.57/58
[100] Vgl. ebd., S.58
[101] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1, S. 237
[102] Vgl. Darnton, Robert: Das Große Katzenmassaker; Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München: Hanser, 1989, S.59
[103] „Peuckert glaubt, dass man als Wiege der Märchenüberlieferung die Kultur des Neolithikums im östlichen Mittelmeerraum voraussetzen muss“ (Wehse 1990: 21). Märchen seien wenigstens 4000 Jahre alt und können auch mit der Megalith-Kultur in Verbindung gebracht werden (vgl. ebd.: 23). Es gibt zwei Hauptrichtungen der Altersbestimmung: 1. Märchen gehen zurück bis auf frühe und prähistorische Zeiten, 2. Märchen sind als Spätform der Dichtung anzusehen (vgl. Wehse 1990: 26).
[104] ATU 327 A Hänsel und Gretel: Hexe füttert den Jungen bis er dick genug ist und versucht ihn dann zu kochen. Vorkommen: Ganz Europa, Asien, Arabische Halbinsel, Indien, China, Indonesien, Korea, Japan, nordamerikanische Indianer, Lateinamerika, Maghreb. Vgl. hierzu: ATU 327 F Die Hexe und der Fischerjunge: eine Hexe fängt einen Fischerjungen. Diesen will die Tochter der Hexe backen. Doch der Fischerjunge wirft sie in den Ofen und backt sie. Die Hexe isst darauf das Fleisch ihrer Tochter. Der Fischerjunge, der sich versteckt hielt, erzählt ihr dann, dass sie ihre eigene Tochter gegessen habe. Vorkommen: baltischer und slawischer Raum, Arabische Halbinsel, Ägypten, Sudan. ATU 327 G Die Brüder im Haus der Hexe. Variante von oben. Vorkommen: Skandinavien, Balkan, Russland.
[105] Hexen sind dabei schon in der griechischen Antike mit diesem anthropophagen Aspekt verbunden und lebten in der mündlichen Überlieferung als alter Aberglaube fort. Anders als im oben erwähnten Beispiel sind hier keine konkreten Hinweise auf Hunger gegeben. „Beim Apulejus schneidet eine Hexe nächtlicherweile dem Gaste das Herz aus und stopft einen Schwamm hinein, wie noch jetzt die Hexen den Kindern die Eingeweide rauben und Stroh an die Stelle stopfen, oder das Blut saugen, wie einst dem lateinischen Königstöchterlein Proca“ (Kaden 1880: 28).
[106] Dieser Brauch ist auch bei Herodot belegt (III, 99): ein indisches Nomaden-Volk namens Päaden, das gen Osten wohne und auch rohes Fleisch esse, tötet erkrankte Mitbürger und isst dann des Fleisch dieser erkrankten Mitbürger. Bei diesen gebe es überhaupt wenige, die alt werden.
Strabo (63 v.Chr.- 23 n.Chr.) berichtet in seiner Geographica, dass bei den Derbikern, eines der barbarischen Völker, die um den Kaukasus und die übrigen Gebirge her leben, die über siebzig Jahre alten Männer abgeschlachtet werden und deren Fleisch von den nächsten Verwandten verzehrt wird, „die alten Weiber aber hängen sie auf und begraben sie dann“ (XI, kap. 11, 8). Sich auf Megasthenes (ca. 350 – 290 v.Chr.) berufend, erwähnt Strabo weiter, „daß sich die Bewohner des Kaukasus vor aller Augen mit Frauen begatten, und das Fleisch von den Körpern ihrer Verwandten verzehren“ (XV, kap. 1, 56). Herodot weiß des Weiteren vom Volk der Massageten zu berichten (I, 216), bei welchem jemand mit hohem Alter von den eigenen Verwandten mit Schafen geopfert und dann verzehrt wird.
[107] Während im Französischen Oger als Synonym eines menschenfressenden Riesen betrachtet werden kann, verdrängt in deutschen Sagen, wie bei Röhrich 2004 (Sp. 677) zu entnehmen, die Bezeichnung Menschenfresser oder Oger nur manchmal den Gattungsnamen Riesen.
[108] Chursusissa ist die Bezeichnung einer lamiaartigen Hexe, die Menschen und Tiere verschlingt. Sie ist auf den Kykladen als Grusúsa (vgl. Hahn 1918: 460, Anm. 4) bekannt , in Albanien als Kutšédra, Kuljtšédra und Kuljtšéndra, »être fabuleux du sexe féminin, répondant à l'ogresse des contes français et à la Lamia des Grecs et des Bulgares«. (Dozon, zit. in: Meyer 1884: 105).
Interessant erscheint hierbei, dass die Urgestalt der Chursusissa aus den griechischen Märchen, die in der Antike als Lamia bekannt ist und ebenfalls mit Anthropophagie in Zusammenhang gebracht werden kann, genau wie in den französischen Sagen Kinder bevorzugt. Zur Lamia aus der Antike ist Folgendes überliefert: Lamia war ein junges Mädchen, das aus Libyen stammte. Aufgrund einer schlechten Erfahrung mit dem eigenen Kind, zog sie sich in eine Höhle zurück, wo sie ein eifersüchtiges Monster wurde und sich vornahm, die Kinder von glücklicheren Müttern zu verspeisen (vgl. Grimal 2011 [1951]: 250, Sp. 1). „On appelait aussi Lamies des génies féminins qui s’attachaient aux jeunes gens, et suçaient leurs sang“ (ebd.).
Die Gestalt der Lamia, mit derselben Benennung (also Lamia), ist in bulgarischen und griechischen Märchen belegt. Im bulgarischen Märchen befindet sie sich an einer Quelle (vgl. Leskien 1915: 73, Nr. 18 Der heilige Georg, die Lamia und die Schlange). Im griechischen Märchen haust sie in der Doúbri (Hahn 1918: 294).
[109] Weiteres hierzu in: Katrinaki, E.: „Die menschenfressende Schwester (AaTh/ATU 315 A)“, in: Enzyklopädie des Märchens 12,1, Berlin/New York 2005, 428–431; Katrinaki, E.: Le cannibalisme dans le conte merveilleux grec : questions d'interprétation et de typologie, Helsinki 2008, S. 65-107; Faragó, J.: „Az emberevö növer meseje“, in: Ethnographia 79 (1968) 92–101.
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- Kerstin Prinz (Author), Ina Böttcher (Author), Jeannine Richter (Author), Paolo Parisi (Author), Claudio Seipel (Author), 2013, Es war einmal... Grausamkeit und Gewalt in Märchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264437
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