In dieser Arbeit wird der Spielfilm "Das Leben der Anderen" (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck auf seine realistischen und melodramatischen Elemente untersucht. Vor allem werden dabei die Fragen beantwortet, welche Authentizitätsstrategien die Filmemacher angewandt haben, was diese bewirken sollen und tatsächlich bewirken, ob der Film tatsächlich authentisch die Wirklichkeit der ehemaligen DDR nachbildet oder es nur so scheint, als täte er dies, wie er diesen Schein erschafft und aufrecht erhält. Schließlich wird noch analysiert, wie und wozu melodramatische Elemente eingesetzt werden und welche Wirkung diese auf den Rezipienten ausüben und wie sie die Authentizitätswirkung beeinflussen.
Ganz zum Anfang stehen die Fragen: was ist Realität im Film? Kann ein Film realistisch sein und objektiv die Welt aufnehmen, kann er die „äußere Wirklichkeit erretten“ oder kann er die Realität nur annähernd objektiv konservieren und wiedergeben? Diese allgemeinen theoretischen Fragen müssen geklärt werden, bevor an die Analyse des Filmes "Das Leben der Anderen" herangegangen werden kann, um eine möglichst klare Analysegrundlage zu haben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Realismus im Film
2.1 Über die Entstehung des Films
2.2 Die Erzeugung von Realismus im Tonfilm
2.3 Realismus und Authentizität im historischen Spielfilm
3. Melodramatik
3.1 Entwicklungsgeschichte des Melodramas
3.2 Melodrama: ein Genre?
3.3 Merkmale des Melodramas
3.3.1 Themen und Intentione
3.3.2 Charaktere
3.3.3 Ausdruck, Sprache, Emotionen
3.3.4 Musik
3.3.5 Realismus versus Non-Realismus
4. Filmanalyse: Das Leben der Anderen
4.1 Die realistischen Elemente
4.2 Die melodramatischen Elemente
5. Fazit
6. Quellen
Das Leben der Anderen zwischen Realismus und melodramatischer Fiktion
1. Einleitung
In dieser Arbeit möchte ich den Spielfilm Das Leben der Anderen (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck auf seine realistischen und melodramatischen Elemente untersuchen und dabei die Fragen beantworten, welche Authentizitätsstrategien[1] die Filmemacher angewandt haben, was diese bewirken sollen und tatsächlich bewirken, ob der Film tatsächlich authentisch die Wirklichkeit der ehemaligen DDR nachbildet oder es nur so scheint, als täte er dies, wie er diesen Schein erschafft und aufrecht erhält. Schließlich versuche ich noch zu analysieren, wie und wozu melodramatische Elemente eingesetzt werden und welche Wirkung diese auf den Rezipienten ausüben und wie sie die Authentizitätswirkung beeinflussen.
Ganz zum Anfang stehen die Fragen: was ist Realität im Film? Kann ein Film realistisch sein und objektiv die Welt aufnehmen, kann er die „äußere Wirklichkeit erretten“[2] oder kann er die Realität nur annähernd objektiv konservieren und wiedergeben? Diese allgemeinen theoretischen Fragen müssen geklärt werden, bevor ich an die Analyse des Filmes Das Leben der Anderen herangehe, um eine möglichst klare Analysegrundlage zu haben.
Richard Rongstock äußert sich zu audiovisuellen Medien und Realismus und Fiktion folgendermaßen:
[In] unserer heutigen Medienumwelt [sind] Realität und Fiktion eng miteinander verzahnt und nicht immer einfach und unmissverständlich voneinander zu trennen […]. Audiovisuelle Medien bestimmen wie kaum etwas Anderes unsere ‚Informationsressourcen, gründe[n] zentrale Orientierungsmuster unserer Gesellschaft und form[en] unsere Vorstellungen von sozialer Realität‘. Kaum ausgeprägt ist allerdings das Verständnis dafür, dass jede mediale Darstellung immer auch Inszenierung […] ist.
[…] Auch unsere Vorstellungen von Geschichte und unsere Einstellung zu historischen Sachverhalten sind heute stark von audiovisuellen Medien geprägt. Aktuell produzierte Historienfilme prägen unser Geschichtsbild ebenso wie Spielfilme aus vergangenen Zeiten, Fernsehdokumentationen ebenso wie Websites und Computerspiele.[3]
Rongstock beschäftigt sich mit dem Begriff „Geschichtsbewusstsein“[4], welcher zu einem verantwortlichen Umgang mit der Historie befähigen soll und welcher daher auch der Authentizität und dem Realismus im Film helfen kann. Geschichtsbewusstsein bedeutet die „Verknüpfung von Vergangenheitsbetrachtung und Gegenwartsorientierung“.[5]
Dabei setzt sich die Rekonstruktionstätigkeit des Geschichtsbewusstseins aus drei verschiedenen operativen Einzeltätigkeiten zusammen:
„Die Rekonstruktion von Vergangenheit im Geschichtsbewusstsein geschieht durch Analyse vergangener Prozesse oder Verhältnisse, durch einordnende Deutung in historische Zusammenhänge und schließlich durch die Herstellung einer wertenden Beziehung zur Gegenwart“.[6]
Ein weiterer Begriff, eine Unterkategorie des Geschichtsbewusstseins, stellt das „Perspektivbewusstsein“ dar. Dieses ist „‚ein Verständnis dafür, dass Geschichte immer aus einem bestimmten Blickwinkel wahrgenommen und überliefert wird‘.“[7]
Der hohe Stellenwert, der dem historischen Spielfilm bei der Vermittlung von Historie zugesprochen wird, wird im folgenden Zitat deutlich:
Zu den „äußeren Gegebenheiten“, die die Geschichtskultur in einer Gesellschaft bestimmen, gehören nach Rüsen „die Schule, die Kultusbürokratie, die Richtlinien, die Schulbücher, die Museen, Ausstellungen, der ganze Kulturbetrieb, in dem es um Geschichte geht, staatliche organisierte Gedenkfeiern, die Massenmedien und Ähnliches“. […] Spielfilme mit historischen Inhalten oder historische Spielfilme, die beispielsweise im Fernsehen oder Programmkino gezeigt werden, sind somit ebenso Bestandteile der Geschichtskultur wie Lehrpläne oder Schulgeschichtsbücher.
[…]
Rüsen sieht die ästhetische Dimension eines Werkes der Geschichtskultur in keiner Weise in Widerspruch zu ihrem kognitiven Wert. Ohne die ästhetische Dimension hätten auch seriöse Werke der Historiographie keinerlei Durchschlagskraft, „die Gedankenblässe der Erkenntnis hätte kein Feuer der Einbildungskraft“.[8]
Hier wird vor allem impliziert, dass historische Spielfilme von den Zuschauern als Informationsquelle angesehen werden, welche die Historie sehr authentisch und „wahrheitsgetreu“ nachbildet, dass diese auf die Zuverlässigkeit der Authentizität vertrauen und die Informationsquellen auch stark nutzen, vielleicht sogar stärker als historische Fachbücher. Natürlich sind die Zuschauer unterschiedlich: die einen hinterfragen stärker und holen sich Informationen über die Glaubwürdigkeit der filmischen Geschichtsdarstellungen durch Kritiken und Meinungen von Historikern ein, andere vertrauen auf die Glaubwürdigkeit, ohne diese zu hinterfragen und sich darüber zu informieren.
Das Rezeptionsverhalten sagt nichts über die wirkliche Authentizität und Glaubwürdigkeit und damit über den Wert von historischen Spielfilmen aus, jedoch wird damit klar, welche Verantwortung in den Händen der Filmemacher liegt: sie haben starken Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein einer breiten Bevölkerungsmasse. Vielleicht regt dies noch stärker dazu an, möglichst authentisch die Historie darzustellen. Aber sicher ist es nicht Aufgabe der Filmemacher, Geschichte zu lehren, sondern vorrangig soll es deren Aufgabe und Bedürfnis sein, Geschichten zu erzählen und zu unterhalten. Dabei wird die Darstellung von Historie eher als Mittel und nicht als Ziel genutzt. Die Story soll sich nicht an der Historie orientieren, die Story steht im Vordergrund und notfalls darf auch die Historie „umgeschrieben“ und an die Story angepasst werden. Legitim ist dies, doch trotzdem bleibt bei den Filmemachern eine gewisse Verantwortung für ihren Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein der Zuschauer.
Die Frage, die sich aus der vorherigen Erkenntnis ableitet, lautet, wie Historie erinnert, gespeichert und vermittelt wird, worauf sich die Filmemacher also beziehen sollten, können und müssen, wenn sie einen möglichst authentischen, realistischen historischen Spielfilm erschaffen wollen. Woher erhalten sie authentische Informationen, was sind „objektive“ Quellen? Im Folgenden beschäftige ich mich mit den verschiedenen Verfahrensweisen und Quellen der Erinnerung, Speicherung und Vermittlung von Historie. Diese Erkenntnisse und Theorien kommen aus dem Bereich der Geschichtsdidaktik, welche sich darum bemüht, möglichst wissenschaftlich, authentisch, aber auch effektiv, Geschichte zu vermitteln.
2. Realismus im Film
Was ist Realismus im Film? Gibt es ihn und wenn ja, wie wird er „gewonnen“? Der Regisseur Misu sieht die Wirklichkeit als ein natürliches Schauspiel, welches seiner eigenen Regie folgt und nur mit der Kamera eingefangen werden muss: „Unsere Requisitenkammer ist die prächtige Welt selbst, unsere naturgetreueste Beleuchtung die Sonne und keine Zwischenpause bei dem Fortlauf der Handlung zerreißt die Stimmung.“[9]
2.1 Über die Entstehung des Films
André Bazin geht, um zu erklären, warum der Film entwickelt wurde, zurück zu den Anfängen der Kunst und zu der Frage, welchen Sinn Kunst für die Menschheit besitze, aus welchem Wunsch oder Bedürfnis diese entstanden sei. Er geht davon aus, dass Kunst den Menschen ein Hilfsmittel war, um zwei der schlimmsten „Angstobjekte“ des Menschen, der Zeit und dem Tod, beizukommen. Mit Kunst wurden Dinge konserviert, am konkretesten und ehesten ist das zu sehen bei der Mumifizierung von Menschen bei den Ägyptern. Er wurde somit künstlich erhalten und der Zerstörung durch die Zeit entrissen. Psychologisch noch tiefer gehend meint Bazin, dass durch diese Erhaltung des Äußeren das Innere der Erscheinung, also das Wesen, errettet werden sollte.
Diesen Zweck der Errettung der Erscheinung und damit des Wesens vor dem Verfall durch die Zeit erfüllten dann auch die Malereien in den kommenden Jahrhunderten. Vor allem Portraits waren dazu geeignet, die Erscheinung von Menschen und deren Wesen zu erhalten, anstatt die Körper zu mumifizieren. Er wurde mithilfe der Leinwand und der Farbe „mumifiziert“ (wobei auch schon dort „retuschiert“ und das Modell mithilfe des Bildes „verbessert“ wurde, sich Modell und Gemälde also auch nicht hundertprozentig glichen, die Realität verändert wurde). Doch ging es hierbei nicht um den Erhalt des wirklichen Menschen, sondern nur um den Erhalt der Erinnerung an diesen.
Bazin nennt die „Geschichte der bildenden Kunst […] eine Geschichte der Ähnlichkeit oder […] des Realismus.“[10]
Bis zum 15. Jahrhundert ging es den abendländischen Malern um die Darstellung von Ausdruck und der „geistige[n] Wirklichkeit“[11], also noch nicht um äußeren, objektiven Realismus. In der Renaissance aber wandelte sich dieses Ziel mehr und mehr in den Wunsch nach der „Imitation der äußeren Welt“[12]. Mit ausschlaggebend war dabei wohl die Perspektive, die Leonardo Da Vinci entdeckte und wodurch die Dinge im Raum realistisch dargestellt werden konnten, die unmittelbare Wahrnehmung konnte damit auf Leinwand gebannt werden.[13]
Doch das Bedürfnis nach der vollkommenen Illusion der äußeren Welt, sie zu reproduzieren und „durch ihr Duplikat zu ersetzen“, konnte mit der bildenden Kunst nicht befriedigt werden. !!!Vor allem fehlten diesen Kunstwerken zwei Dinge, um die Realität vollkommen einzufangen und zu duplizieren: die Bewegung und der Ton.[14]
Die Fotografie schließlich konnte das Bedürfnis nach perfekter Illusion erfüllen, der Film ist als deren Weiterentwicklung zu sehen, der dem Realismus die Dimensionen der Bewegung und später noch des Tons hinzufügten.
Dieser Abdruck der äußeren Welt wurde durch die Technik möglich: der Fotoapparat bildete die Welt objektiv ab, ohne subjektiv einzugreifen und das Bild zu verändern und damit von der Realität zu entfernen, wie es der Mensch bei seinen Kunstwerken tut.[15] Ohne das subjektive Eingreifen des Menschen kann der Apparat also ein objektives Bild der äußeren Wirklichkeit erschaffen. Der Mensch sucht lediglich das zu reproduzierende Motiv aus und bedient den Apparat, doch ansonsten ist er nicht am Schaffensprozess selbst beteiligt.
Diese fehlende Schaffenskraft aus eigenem Willen des Fotoapparats, welcher nicht aus eigener Vorstellung ein Bildnis erschafft, sondern eine reale Vorlage dafür benötigt, zwingt den Betrachter einer Fotografie dazu, an die Existenz des fotografierten Objektes zu glauben. Dieser Gegenstand wurde festgebannt auf das Foto, der Zeit und dem Verfall entrissen, er wurde durch das Foto ersetzt.
Der Film geht noch weiter, er bannt diesen Gegenstand nicht nur an sich fest, sondern auch in seiner Bewegung.[16]
Das Foto ist von jeglichem Subjektivitätsfilter befreit und zeigt die Welt, wie sie ist, es enthüllt die Wirklichkeit.[17] Der Fotoapparat nimmt auf und hält fest, was vor sein Objektiv kommt, ohne auszusondern, was interessant oder wichtig erscheint. Er nimmt alles wahr, was ist, nicht nur einen Teil der Wirklichkeit, wie es die menschliche Wahrnehmung tut. Die Fotografie reproduziert die „Natur mit einer Vollkommenheit […], ‚die der der Natur selbst gleichkommt‘“.[18]
Doch schon bei den Anfängen der Fotografie ging man davon aus, dass diese nicht nur wissenschaftlich, sondern auch künstlerisch eingesetzt werden kann und wird.[19] ! Inwieweit wissenschaftlich und inwieweit künstlerisch? Dies sollte genauer definiert werden. Ist mit „wissenschaftlich“ die „‚mathematische Genauigkeit‘“[20] gemeint, mit „künstlerisch“ aber, dass in diesem Fall das Foto vom Künstler verändert werden kann und dadurch etwas Eigenes, Subjektives erschaffen wird, welches dem Foto seinen objektiven, rein realistischen und äußere Wirklichkeit kopierenden Charakter nimmt? Der Kunst geht es ja oftmals nicht um die Darstellung der Oberfläche der Natur, sondern um deren Wesen und die Wahrnehmung dieser Entität durch den Künstler, welche dieser durch eine subjektive Darstellung der Natur zum Ausdruck bringt. Was bedeutet „Realismus“ überhaupt? Eben nur die äußere Wirklichkeit darzustellen oder vor allem die innere Wirklichkeit, das Wesen, das für das Auge und auch die Kamera Unsichtbare, welches erst durch Kunst herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden kann und muss? Die Realisten des 19. Jahrhunderts gehen von der objektiven, der äußeren Wirklichkeit aus, Brecht von der inneren Wirklichkeit:
Die Realisten des 19. Jahrhunderts jedoch wollen bei der Fotografie keine Kunst und den Fotografen nicht als Künstler, sondern nur als Reproduzenten der Wirklichkeit.[21]
Die Wissenschaft entdeckte die Sachlichkeit und „aufdeckende Kraft“ der Kamera.[22] Jedes kleinste Detail wurde aufgenommen, welches dem menschlichen Auge entging.[23] Z. B. konnten Gehbewegungen von Menschen und auch von Pferden damit erstmals richtig beobachtet und analysiert werden und es kam dabei heraus, dass die Bewegungen von der bisherigen Vorstellung der Menschen, manifestiert durch die Darstellungen der Künstler, stark abwichen.[24] Mit der Kamera konnte man also viel besser und genauer beobachten, viel schneller und viel mehr flüchtige Dinge aufnehmen und festhalten, als mit der herkömmlichen Kunst.[25]
Kracauer zufolge wurde die Fotografie im 19. Jahrhundert so stark voran getrieben, weil der Wunsch nach Realismus immer größer wurde und die Romantik, die verklärende Sicht auf die Realität, mehr und mehr verdrängte. Und in der Fotografie erkannte man das Potential zur Aufdeckung[26] und Festhaltung der Realität.[27]
Doch der Wunsch nach diesem Realismus und die Idee zu der Kamera und auch in Weiterführung zum Film waren schon viel früher gegeben, als erst im 19. Jahrhundert, welche durch die Erfindungen dieser Zeit erst verwirklicht werden konnten.[28]
Die Geschichte über die Entstehung des Films enthüllt uns weitere Wahrheiten über seinen ursprünglichen Zweck und welche Möglichkeiten in ihm gesehen wurden, welcher Idee, welchem Wunsch er entsprang. Dadurch kommen wir seinem innersten Wesen auf die Spur.
Der „Mythos vom totalen Film“[29] bestand schon lange ??? bevor es technisch überhaupt möglich war, den Film zu realisieren. Die Idee vom totalen Film, von der vollkommenen Illusion der äußeren Welt bestand schon lange ??? bevor die Technik dazu erfunden wurde. Die äußere Wirklichkeit sollte allumfassend dargestellt werden, durch die Rekonstruktion mit „Ton, Farbe und Relief“.[30] Das Relief kann wohl als der räumliche Eindruck durch die Perspektive, welcher durch den 3D-Effekt vollendet wird, gesehen werden. Der farbige Tonfilm war also von vornherein intendiert, nicht der schwarz-weiße Stummfilm, welcher als technische Entwicklungsphase zum „totalen Film“, zum vollkommenen Realismus des Films, der die äußere Wirklichkeit reproduziert, gesehen werden kann.[31] Haben wir denn heutzutage mit dem hochauflösenden farbigen 3D-Kino die ursprüngliche Idee vom Kino erreicht oder kann das Kino noch realistischer gestaltet werden? Durch haptische oder Geruchsreize möglicherweise? Durch weitere Perfektionierung des 3D-Effektes? Es gibt sicher noch Spielraum bis zur Vervollkommnung des Filmrealismus‘.
Eine weitere wichtige Entwicklung hin zum Spielfilm war das Aufbegehren der Künstler gegen den Positivismus. Der Positivismus verlangte, dass die Welt objektiv dargestellt werde, ohne jegliche Subjektivität des Darstellenden, eine „getreue, ganz unpersönliche Wiedergabe der Wirklichkeit“[32]. Die Künstler jedoch stellten sich den Positivisten entgegen, vor allem auch die Fotografen. Sie wollten die äußere Welt nicht mehr bloß kopieren, sondern sie künstlerisch darstellen, das Material, hier also das Foto, nach eigenem Ermessen gestalten, sodass es „auch der Schönheit gerecht würde[…]“.[33]
Es entwickelte sich somit neben der realistischen Fotografie die Kunstfotografie. Die objektiven Fotos waren nur noch Rohmaterial, wurden verformt und erhielten dadurch eine subjektive Dimension. Es wurde zu einem „‚ideale[n] Instrument visuellen Ausdrucks‘“.[34] Die Fotografie beinhaltet beide Tendenzen: die Natur reproduzierende, also objektive, und die künstlerische, also subjektive.
Aber das Potential zur objektiven und perfekten Aufdeckung und Festsetzung der äußeren Wirklichkeit besaß und besitzt nur die Fotografie, kein anderes Medium, keine Kunst der Menschen, und das ist das Besondere daran, auch wenn es nicht die einzige Möglichkeit der Fotografie ist, eingesetzt zu werden, denn sie enthält eben auch die Möglichkeit, künstlerisch genutzt zu werden. Es macht meiner Meinung nach keinen Sinn, die Fotografie nur auf eine Möglichkeit festzusetzen, nur auf die des Realismus‘, auch wenn es die ursprüngliche Intention der Visionäre dieser Technik war. Wenn die Fotografie für Kunst und subjektive Darstellungen der Realität genutzt werden kann, ist das keine Verleugnung der realistischen Tendenz und des „Wesens“ der Fotografie, sondern lediglich eine Erweiterung seiner Möglichkeiten, welche aber immer noch das Wesen beinhaltet. Denn fotografiert werden kann nur die äußere Wirklichkeit, nur etwas wirklich Existierendes. Dieses Foto kann als Endprodukt, aber auch als Rohmaterial angesehen werden. Im letzteren Fall wird das reine Realität abbildende Foto verändert. Es setzt aber die realistische Tendenz voraus, damit diese im Nachhinein bearbeitet werden kann. Ein künstlerisch bearbeitetes Foto ist also nichts anderes, als eine bearbeitete Kopie der äußeren Wirklichkeit. Ihr werden andere Dimensionen hinzugefügt, die dann die tiefere, unsichtbare Wirklichkeit der äußeren Wirklichkeit zum Ausdruck bringen und sichtbar machen können.
Eine andere Möglichkeit ist es, die Aufnahmetechnik zu verändern, sodass die Kamera von vornherein Bilder der Wirklichkeit produziert, welche schon bei der Aufnahme verändert sind, also nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dies kann zwar verglichen werden mit der subjektiven Wahrnehmung eines Malers, welcher dann ein Bild produziert, welches nicht vollkommen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Doch ist hier der Unterschied, dass die Kamera dieses Potential zum Realismus trotzdem behält, ihre Aufnahme aber absichtlich und kontrolliert verzerrt wurde und dadurch von der äußeren Wirklichkeit abweicht. Dies funktioniert nach fest vorgeschriebenen physikalischen Regeln, je nachdem, wie Kamera und Objektiv eingestellt und geformt, erschaffen werden. Und dieses gleiche Bild kann, wenn sich die äußere Wirklichkeit nicht verändert, so oft, wie gewünscht, neu aufgenommen werden und wird sich in nichts von der vorherigen Aufnahme unterscheiden: die Exaktheit und Objektivität der Kamera bleibt also bestehen.
Der Maler jedoch bleibt subjektiv und kann niemals ein und dasselbe Bild exakt zweimal malen, es wird sich mehr oder weniger vom vorherigen unterscheiden.
Der Realismus bleibt der Kamera also erhalten, ganz gleich, wie das Ergebnis der Aufnahmen ist. Einzig dadurch, dass die Wirkweise einer Kamera dadurch definiert ist, äußere Wirklichkeit zu benötigen, um zu fotografieren, also nichts aus eigener „Vorstellung“ und eigenem Willen produzieren kann, macht es unumgänglich, dass sie objektiv und realistisch ist. Sie gibt immer das wieder, was ihr vorgegeben wird, auf die Art und Weise, wie sie eingestellt wird. Also ist auch Film, ganz gleich, ob Spielfilm oder Film ohne (vorgegebener, fiktionaler) Handlung (ausgenommen Animationsfilm, doch das ist eher eine in Bewegung gebrachte Abfolge von gemalten oder sonstwie (nicht mit der Kamera) produzierten Bildern, als ein „wahrer“ Film, welcher mit der Kamera arbeitet), auf technischer Ebene immer realistisch. Die Frage aber, der ich in dieser Arbeit nachgehe, ist die nach dem Realismus des Inhaltes. wie können Filme wirklich objektiv die Wirklichkeit „einfangen“? Wie kann auch eine fiktionale Filmhandlung authentisch wirken, so, als ob die Kamera etwas filmt, das nicht fiktional und geplant, sondern „zufällig“ ist und passiert?
Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Vorstellung von der objektiven Sicht auf die Wirklichkeit relativiert hat: die Welt kann nicht gesehen werden, wie sie ist, sondern, wie wir sie sehen, es kann nur eine „‚bestmögliche Aussage über Tatsachen‘“[35] gemacht werden. den absoluten Realismus gibt es also nicht, es gibt verschiedene Blickwinkel und Perspektiven auf die Realität und verschiedene Art und Weisen, diese „nüchtern“ und objektiv zu fotografieren.[36]
Auch ist die Fotografie nicht vollends objektiv in der Wahrnehmung der Welt vom Inhaltlichen her gesehen, da sie immer nur den Teil wiedergeben kann, der ihr vorgegeben wird durch den Fotografen, außer er fotografiert willkürlich und ohne darauf zu achten, was die Kamera vor die Linse bekommt. Doch verfehlt dies den Sinn der Fotografie, denn man möchte ja etwas Bestimmtes fotografieren und realistisch reproduzieren. Diese Entscheidung aber für ein Motiv ist eben ein subjektiver Prozess und auch die Entscheidung, aus welcher Perspektive usw. das Foto geschossen werden soll, ist ein subjektiver Entscheidungsprozess, die durch den Fotografen getroffen wird. Auch der realistischste Fotograf bringt also seine subjektive Vision und Schöpferkraft in ein Bild ein, auch wenn dies unbewusst sein kann.[37]
In dieser Hinsicht ist der Film etwas weniger subjektiv: die Kamera kann sich frei im Raum und in der Zeit bewegen und die Begrenzungen des einzelnen Filmbildes sind nicht endgültig: diese können durch Bewegung der Kamera nach allen Seiten erweitert werden. Dem Einzelbild ist dies nicht möglich, nur einer Bildfolge oder ein Bild, welches durch mehrere nahtlos aneinandergrenzende Bilder zusammengesetzt wird, durch die Panoramafunktion.
Doch auch hier wird die Kamera gelenkt und durch Willenskraft und Entscheidungen des Kameramannes, ob bewusst oder weniger bewusst oder sogar unbewusst, werden bestimmte Perspektiven, Winkel und Bewegungen vorgenommen und werden bestimmte Teile der Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgezeichnet. Subjektivität bleibt auch hier erhalten. Eine objektive Filmaufnahme wäre nur möglich, wenn die Kamera von einer Maschine gelenkt wird, die nach Zufallsalgorithmen durch einen Computern gesteuert wird. Doch ist es ja gerade auch Sinn des Films, aus dem Angebot der Motive oder Perspektiven, die die äußere Wirklichkeit einem bietet, zu selektieren und nicht irgendetwas aufzunehmen. Und damit ist die subjektive Entscheidung des Kameramannes gefragt.[38]
Kracauer formuliert es so: „Objektivität im Sinne des realistischen Manifests ist unerreichbar.“[39] Und er schickt gleich eine sehr berechtigte Feststellung, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt, hinterher: „Wenn es sich aber so verhält, liegt keinerlei erkennbarer Grund vor, weshalb der Fotograf seine schöpferischen Fähigkeiten im Interesse des notwendigerweise vergeblichen Bemühens um diese Objektivität unterdrücken sollte.[40] Warum einem Ziel hinterherlaufen, das nicht erreichbar ist und dafür andere Möglichkeiten aufgeben? Kracauer geht sogar noch weiter und meint, die realistische Tendenz brauche das „formgebende Streben“, um verwirklicht zu werden.
Die Mindestforderung, über die der Fotograf hinauskommen soll, bedeutet, „daß [der Fotograf] im ästhetischen Interesse unter allen Umständen der realistischen Tendenz folgen muß.“[41]
Objektivität der Realität und Subjektivität des Fotografen muss in einem ausgewogenen Maße bei der Fotografie zusammenspielen. Kracauer zitiert hier Lewis Mumford: „‚Statt sich in subjektiven Fantasien zu ergehen, muß der innere Impuls (des Fotografen) stets mit den äußeren Gegebenheiten im Einklang bleiben.“[42] Es komme vor allem darauf an, „die wesentlichen Beschaffenheiten [der] Modelle zu reproduzieren.“[43]
Kracauer spricht in seiner Filmtheorie von vier Affinitäten, die der Fotografie angehören. Drei davon erscheinen mir sinnvoll, das Wesen des Mediums Foto herauszustellen: erstens die Affinität zur ungestellten Realität, also „Natur im Rohzustand wiederzugeben, sowie sie unabhängig von uns existiert“ und wo sie sich in „flüchtigen, rasch wechselnden Erscheinungen zu erkennen gibt, die nur die Kamera zu bannen vermag.“[44]
Zweitens besteht das Wesen der Fotografie im Zufälligen, das mit der ungestellten Realität einhergeht: „‚Wir wollen im Vorbeigehen alles ergreifen, was sich unseren Blicken unerwartet darbietet und irgendwie unser Interesse erregt […].“[45]
Die vierte Affinität, die Kracauer nennt, ist die des Unbestimmbaren: die Fotografie an sich enthält Dinge und Bedeutungen, die sich dem Rezipienten nicht eindeutig erschließen: ein und dasselbe Objekt, das auf einem Foto zu sehen ist, kann mehrere Bedeutungen haben, sodass nicht eine Bedeutung eindeutig zu erkennen ist.[46]
[...]
[1] Lüdeker, Gerhard Jens (2012): Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München: edition text + kritik (Forschungen zu Film- und Medienwissenschaft). S. 89.
[2] Mülder-Bach, Inka (Hg.) (2005): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit; mit einem Anhang „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films. 1. Aufl. S. 1.
[3] Rongstock, Richard (2011): Film als mentalitätsgeschichtliche Quelle. Eine Betrachtung aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Berlin: wvb, Wiss. Verl. S. 10 f.
[4] Rongstock: S. 15.
[5] Rongstock: S. 15.
[6] Rongstock: S. 18.
[7] Rongstock: S. 19.
[8] Rongstock: S. 21 ff.
[9] Wedel, Michael (2011): Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film. Bielefeld: Transcript (Film). S. 28.
[10] Bazin, André (2004): Was ist Film? Hg. V. Robert Fischer. Berlin: Alexander-Verl. S. 34.
[11] Bazin: S. 34.
[12] Bazin: S. 34.
[13] Bazin: S. 34 f.
[14] Bazin: S. 35.
[15] Bazin: S. 36.
[16] Bazin: S. 39.
[17] Bazin: S. 39.
[18] Mülder-Bach: S. 28.
[19] Mülder-Bach: S. 29.
[20] Mülder-Bach: S. 28 f.
[21] Mülder-Bach: S. 29.
[22] Mülder-Bach: S. 29.
[23] Mülder-Bach: S. 29.
[24] Mülder-Bach: S. 29 f.
[25] Mülder-Bach: S. 30.
[26] Mülder-Bach: S. 36.
[27] Mülder-Bach: S. 30.
[28] Bazin: S. 43 ff.
[29] Bazin: S. 43.
[30] Bazin: S. 46.
[31] Bazin: S. 46 f.
[32] Mülder-Bach: S. 30.
[33] Mülder-Bach: S. 32.
[34] Kracauer: S. 38.
[35] Mülder-Bach: S. 35.
[36] Mülder-Bach: S. 36.
[37] Mülder-Bach: S. 46 f.
[38] Mülder-Bach: S. 46 f.
[39] Mülder-Bach: S. 47.
[40] Mülder-Bach: S. 47.
[41] Mülder-Bach: S. 44.
[42] Mülder-Bach: S. 47 f.
[43] Mülder-Bach: S. 48.
[44] Mülder-Bach: S. 52.
[45] Mülder-Bach: S. 53.
[46] Mülder-Bach: S. 54 f.
- Quote paper
- B.A. Manuel Kröger (Author), 2013, "Das Leben der Anderen" zwischen Realismus und melodramatischer Fiktion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263707
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