Die Aufgabe, die sich die vorliegende Arbeit am höfischen Erzähltext des Wolframs von Eschenbach stellt, orientiert sich vor diesem Hintergrund an der Fragestellung, wie die sowohl psychisch-mentale als auch religiöse Entwicklung des Protagonisten vonstattengeht und in welch größeren Kontext der Reifungsprozess des Helden eingeordnet werden muss.
Als Werkzeug der Analyse soll die Theorie der semantischen Räume, die auf den baltischen Semiotiker Jurij M. Lotman zurückgeht, dienen. Der Theorie liegt der Gedankengang zugrunde, die vom Text generierte Weltordnung in sogenannte semantische Räume einzuteilen. Innerhalb dieser Räume agieren die Figuren des Textes, wobei jeder Aktant seinem jeweiligen Raum fest zugeordnet ist. Diese, von Lotman als sujetlos bezeichnete Textschicht, wird in dem Moment sujethaft, wenn eine Figur die eigentlich unüberwindbare Grenze zwischen den semantischen Räumen überschreitet und in einen ihr oppositionell gegenüberstehenden Raum eindringt. Erst hier wird gewissermaßen eine Geschichte erzählt. Herunter gebrochen kann dieser Sachverhalt auch so erklärt werden, dass jegliche Information des Textes gleichsam auf einem gedanklichen Reisbrett ausgebreitet wird, wodurch sich die Perspektive auf die Erzählung bedeutend verändert und den Verständnishorizont des Rezipienten auf beachtliche Weise erweitert. Die Textanalyse folgt daher einem quasi horizontalen Betrachtungsschema, welches sich an den vom Text generierten Raumordnungen orientiert, ohne jedoch den linearen Reifungsprozess des Protagonisten außer Acht zu lassen. Da sich dieser Reifungsprozess ohnehin nur in der vom Text generierten Räumlichkeit manifestieren kann, gilt es daher, die Grenzüberschreitungen des Helden, welche der Erzählung zwangläufig inhärent sind, zu lokalisieren und gleichzeitig deren Ausgangspunkt, deren Motivation sowie deren Folgen für die Erzählung herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund der seelisch-geistigen Entwicklung des Protagonisten erscheint die Grenzüberschreitungstheorie daher als adäquates Arbeitsmittel, um die Tiefenstrukturen des höfischen Epos nach außen zu kehren. Analog hierzu kann mit Blick auf Wolframs Parzival die These formuliert werden, dass Persönlichkeitsentwicklung sowie Identitätsfindung einzig und allein - um in der Terminologie Lotmans zu bleiben - durch Grenzüberschreitungen vonstattengehen kann. Konkretisiert bedeutet dies für die Analysearbeit, das vom Text generierte Netz aus Ordnungsstörungen und Störungstilgungen...
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Jurij M. Lotmans Theorie der semantischen Räume und ihre Weiterführungen
- 2.1. Der funktionale Bezug zwischen Text und Welt
- 2.2. Der „künstlerische Raum“ - Der Text als Träger topographischer und topologischer Raumstrukturen
- 2.2.1 Die interne Gliederung des semantischen Raumes - Der „Extremraum“
- 2.2.2 Die „Linie im Raum“ – Die Grenze als ordnungsstrukturierendes Element
- 2.3 Der sujethafte Text – Von der Grenzüberschreitung zum Ereignis
- 2.3.1 Der Held als ordnungsdestruierendes Element
- 2.3.2 Die Ereignismodelle der Grenzüberschreitungstheorie
- 2.3.3 Das Modell der „normalen Ereignisse“
- 2.3.4 Das Metaereignis und die konflikthafte „innere Handlung“
- 2.4. Das Konsistenzprinzip – Die obligatorische Tilgung des ereignishaften Zustands
- 2.4.1 Tilgungsmodelle der Grenzüberschreitungstheorie
- 2.4.2 Die Fortsetzung der Ereignisstruktur – „Extrempunktregel“ und „Beuteholerschema“
- 2.5. Das Zeitkontinuum - Ereignisstruktur und Handlungsverlauf
- 2.6. Die Ereignishierarchie im sujethaften Text
- 2.6.1 Die Funktion des Ereignisses im sujethaften Text
- 2.7. Störung der raumimmanenten Ordnung durch Gewalteinwirkung
- 2.8. Die Sujetstruktur des höfischen Epos
- 3. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der Isolationsraum
- 3.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Vom Tod Gahmurets bis zur selbstgewählten Isolation Herzeloydes
- 3.1.1 Die irreversible Grenzüberschreitung Gahmurets – Ein handlungsgenerierender Impuls
- 3.1.2 Herzeloydes Abhängigkeitsverhältnis – Surrogatbefriedigung in der Mutter-Kind-Dyade
- 3.1.3 Motivationen für die topographische Grenzüberschreitung Herzeloydes - Die Isolation als Selbsterhaltungszweck
- 3.2 Die Einöde von Soltane - Die Konzeptionellen Aspekte eines Isolationsraumes
- 3.2.1 Ein semantischer Raum ohne den Aspekt des Rittertums
- 3.2.2 Ein semantischer Raum ohne Sozialisations- und Entfaltungsmöglichkeiten
- 3.2.3 Ein semantischer Raum mit defizitärer religiöser Erziehung
- 3.3 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Die Jagdepisode
- 3.3.1 Parzivals ritterliche Art – Das genetisch-geistige Erbe Gahmurets
- 3.3.2 'waz wîzet man den vogelîn?' – Herzeloydes Grenzüberschreitung wider die Ordnung der Natur
- 3.4 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Parzivals Begegnung mit Karnahkarnanz
- 3.4.1 Die Begegnung mit Karnahkarnanz als Initiationsmoment für die Generierung eines Metaereignisses
- 3.4.2 Parzival der tumbe Narr - Herzeloydes letzte Grenzüberschreitung
- 3.5 Parzivals Wegzug aus dem Isolationsraum – Die topographische Grenzüberschreitung als Ereignistilgung
- 3.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Vom Tod Gahmurets bis zur selbstgewählten Isolation Herzeloydes
- 4. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der höfische Raum
- 4.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Die Jeschûte-Episode
- 4.1.1 Die topographische Grenzüberschreitung Parzivals vom Isolationsraum in die höfische Welt
- 4.1.2 Parzivals Eindringen in den Intimraum Jeschûtes – Eine gewalthaltige Grenzüberschreitung
- 4.1.3 Parzivals Verhalten als Auslöser massiver Grenzüberschreitungen – Die unrechtmäßige Sanktionierung Jeschûtes
- 4.2 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Die Sigune-Episode
- 4.2.1 Das sukzessive Aufgehen im Gegenraum – Parzivals fortschreitende Raumintegration in der Sigune-Episode
- 4.3 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Parzival am Artushof und der Kampf gegen Ither von Gaheviez
- 4.3.1 Parzival als Fremdkörper und Teil des höfischen Raumes
- 4.3.2 Parzival am Artushof – Das Eindringen des Helden in den Extremraum der höfischen Welt
- 4.3.3 Parzivals Kampf gegen den Roten Ritter – Grenzüberschreitung durch Verwandtentötung
- 4.3.4 Das Äußere Parzivals – Symbol für den inneren Zustand des Helden zwischen den Räumen
- 4.4 Parzivals ritterliche Ausbildung bei Gurnemanz – Die Integration des Helden in den höfischen Raum
- 4.4.1 Die Lehren Gurnemanz' als Prädisposition für die Grenzüberschreitung Parzivals im Gralsraum
- 4.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Die Jeschûte-Episode
- 5. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der Gralsraum
- 5.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Parzivals Heirat mit Condwiramurs und das Versagen auf Munsalvaesche
- 5.1.1 Ereignistilgung und Ordnungsrestitution im Königreich von Brôbarz
- 5.2 Parzivals Grenzüberschreitung vom höfischen Raum in die Gralswelt – Grenzüberschreitung durch Versagen
- 5.2.1 Der Auslöser für die irreversible Grenzüberschreitung – Die Sündhaftigkeit Parzivals
- 5.2.2 Grenzüberschreitung durch Gotteshass – Die dreimalige Verfluchung Parzivals
- 5.3 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Parzivals Weg zu Trevrizent
- 5.3.1 Habt ir geprüevet noch sîn art? Vergebung und Selbstfindung als Wegbereiter für die Gralsherrschaft
- 5.3.2 Die Unterweisungen Trevrizents
- 5.3.3 Die ritterliche Bewährung als Vorstufe zur Gralsherrschaft – Die Verwandtenkämpfe gegen Gawan und Feirefiz
- 5.3.4 Parzival, du krône menschen heiles - Die Transformation des Extremspunkts im Gralsraum als Manifestation der Grenzüberschreitung Gottes
- 5.1 Kontextuierung der zu untersuchenden Textstellen: Parzivals Heirat mit Condwiramurs und das Versagen auf Munsalvaesche
- 6. Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach anhand der Lotmanschen Raumtheorie. Ziel ist es, die Bedeutung von Raumstrukturen und Grenzüberschreitungen für die Handlungsentwicklung und die Charakterentwicklung zu analysieren.
- Lotmans Raumtheorie und ihre Anwendung auf literarische Texte
- Die Konzeption von Raum und Grenze im Parzival
- Analyse verschiedener Raumtypen (Isolationsraum, höfischer Raum, Gralsraum)
- Die Rolle von Grenzüberschreitungen als handlungsgenerierende Impulse
- Parzivals Entwicklung durch Grenzüberschreitungen
Zusammenfassung der Kapitel
1. Einleitung: Diese Einleitung führt in die Thematik der Arbeit ein und skizziert die methodische Vorgehensweise. Sie begründet die Wahl des Forschungsgegenstandes und die Relevanz der Lotmanschen Raumtheorie für die Analyse des Parzivals.
2. Jurij M. Lotmans Theorie der semantischen Räume und ihre Weiterführungen: Dieses Kapitel stellt die theoretischen Grundlagen der Arbeit dar. Es erläutert Lotmans Theorie der semantischen Räume, die Konzepte von „Extremraum“, „Grenze“ und „Ereignis“ und deren Bedeutung für die Textanalyse. Es wird die Anwendung dieser Theorie auf narrative Strukturen und die Entwicklung von Sujets im literarischen Werk detailliert beschrieben. Besondere Beachtung findet die Rolle von Grenzüberschreitungen als handlungsgenerierende Ereignisse.
3. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der Isolationsraum: Dieses Kapitel analysiert die Bedeutung des Isolationsraums im Parzival, speziell die Isolation Herzeloydes und deren Auswirkungen auf Parzivals Entwicklung. Es untersucht die verschiedenen Aspekte dieses Raumes – Fehlen ritterlicher Sozialisation, religiöser Erziehung und die Folgen der Grenzüberschreitungen innerhalb und außerhalb dieses Raumes. Die Jagdepisode wird als Schlüsselmoment der Entwicklung Parzivals interpretiert, ebenso wie die Begegnung mit Karnahkarnanz als Initiationserlebnis. Parzivals Wegzug aus der Isolation wird als Ereignistilgung gedeutet.
4. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der höfische Raum: Dieses Kapitel widmet sich der Analyse des höfischen Raumes und Parzivals Integration in diese Welt. Die Jeschûte-Episode und die Sigune-Episode werden als Beispiele für Grenzüberschreitungen und deren Folgen interpretiert. Parzivals Handlungen am Artushof, insbesondere der Kampf gegen den Roten Ritter, werden als weitere Beispiele für Grenzüberschreitungen analysiert, die seine Entwicklung und Integration in den höfischen Raum widerspiegeln. Parzivals Ausbildung bei Gurnemanz wird als Vorbereitung auf seine spätere Grenzüberschreitung in den Gralsraum verstanden.
5. Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach - Eine Textanalyse: Der Gralsraum: Das Kapitel analysiert den Gralsraum als den zentralen semantischen Raum im Parzival. Es untersucht Parzivals Eheschließung, sein Versagen auf Munsalvaesche und die folgenden Grenzüberschreitungen. Parzivals Weg zu Trevrizent und seine Unterweisungen werden als entscheidende Schritte seiner Entwicklung dargestellt. Die Bewährungsproben und die Verwandtenkämpfe gegen Gawan und Feirefiz werden im Kontext der Grenzüberschreitung und der Erlangung der Gralsherrschaft interpretiert.
Schlüsselwörter
Parzival, Wolfram von Eschenbach, Lotman, Raumtheorie, Grenzüberschreitung, Isolationsraum, höfischer Raum, Gralsraum, Ereignis, Sujet, Textanalyse, Held, Entwicklung, Initiation.
Häufig gestellte Fragen (FAQs) zu: Grenzüberschreitungen im Parzival Wolframs von Eschenbach
Was ist der Gegenstand dieser wissenschaftlichen Arbeit?
Die Arbeit analysiert Grenzüberschreitungen im mittelhochdeutschen Epos „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach unter Anwendung der Raumtheorie von Jurij M. Lotman. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Bedeutung von Raumstrukturen und Grenzüberschreitungen für die Handlungs- und Charakterentwicklung des Protagonisten Parzival.
Welche Theorie wird angewendet?
Die Arbeit basiert auf Jurij M. Lotmans Theorie der semantischen Räume. Lotmans Konzepte von „Extremraum“, „Grenze“ und „Ereignis“ bilden die methodischen Grundlagen für die Textanalyse. Die Theorie wird verwendet, um die narrative Struktur und die Entwicklung des Sujets im „Parzival“ zu verstehen.
Welche Raumtypen werden im Parzival untersucht?
Die Analyse konzentriert sich auf drei zentrale Raumtypen im „Parzival“: den Isolationsraum (veranschaulicht durch Herzeloydes Einöde), den höfischen Raum (die Welt des Artushofs) und den Gralsraum (die heilige Welt des Grals). Die Grenzüberschreitungen zwischen diesen Räumen und innerhalb der Räume stehen im Fokus.
Welche Rolle spielen Grenzüberschreitungen in der Handlung?
Grenzüberschreitungen werden als handlungsgenerierende Impulse interpretiert. Sie treiben die Handlung voran und bewirken entscheidende Entwicklungsschritte in Parzivals Leben. Die Analyse untersucht, wie diese Grenzüberschreitungen zu Konflikten, Initiationen und letztlich zur Entwicklung des Helden führen.
Wie entwickelt sich Parzival durch Grenzüberschreitungen?
Parzivals Entwicklung wird als ein Prozess der Grenzüberschreitungen dargestellt. Durch seine Erfahrungen in verschiedenen Räumen und seine Interaktionen mit anderen Figuren lernt und verändert er sich. Die Analyse verfolgt, wie er durch seine Fehler und seine Bewährungsproben im Laufe der Geschichte wächst.
Welche Schlüsselstellen im Parzival werden analysiert?
Die Arbeit analysiert verschiedene Schlüsselstellen, darunter die Isolation Herzeloydes, die Jagdepisode, die Begegnung mit Karnahkarnanz, die Jeschûte-Episode, die Sigune-Episode, Parzivals Aufenthalt am Artushof, der Kampf gegen den Roten Ritter, Parzivals Heirat mit Condwiramurs, sein Versagen auf Munsalvaesche, sein Weg zu Trevrizent, sowie die Verwandtenkämpfe gegen Gawan und Feirefiz.
Wie ist die Arbeit strukturiert?
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel: Einleitung, Darstellung der Lotmanschen Raumtheorie, Analyse des Isolationsraums, Analyse des höfischen Raums, Analyse des Gralsraums und Zusammenfassung. Jedes Kapitel widmet sich einem Aspekt der Thematik und trägt zum Gesamtverständnis der Grenzüberschreitungen im „Parzival“ bei.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit?
Schlüsselwörter sind: Parzival, Wolfram von Eschenbach, Lotman, Raumtheorie, Grenzüberschreitung, Isolationsraum, höfischer Raum, Gralsraum, Ereignis, Sujet, Textanalyse, Held, Entwicklung, Initiation.
- Quote paper
- Jonathan Haß (Author), 2012, Grenzüberschreitungen im "Parzival" Wolframs von Eschenbach, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263231