[...] Diese Zeilen schrieb der damals 27- jährige Cesare Pavese am 17. November 1935 in sein
Tagebuch. Die Stadt, die er hier als seine amante bezeichnet, ist Turin. Jene Stadt, in der er 21
Jahre lang gelebt hatte, bevor er im August 1935 von den Faschisten in die Verbannung nach
Brancaleone Calabro geschickt wurde. Der auf dem Land – in Santo Stefano Belbo
(Langhe)- geborene Pavese zog bereits mit sechs Jahren nach dem Tod des Vaters mit seiner
Mutter nach Turin. Seine Kindheit und Jugend spielte sich somit in städtischer Umgebung ab,
unterbrochen lediglich von regelmäßigen Besuchen auf dem Land in den Sommermonaten.
Dennoch ist jene Begeisterung für die Stadt und das Leben in ihr wie sie aus obigen Zeilen
spricht keineswegs typisch. Frühe Kindheit und Landleben gehen bei Pavese eine enge
Verbindung ein. Und neben verklärt- mystifizierenden Beschreibungen der Campagna dient
die Stadt oftmals als Schauplatz von nüchtern- desillusionierten Geschichten, deren Personal
als Opfer der tristen und unnatürlichen städtischen Lebensart erscheint. Die Zeit der
Verbannung in Kalabrien- inmitten der Stille der Natur und einer fremden Landbevölkerungwirkt
für den ohnehin eher scheuen Pavese als Nährboden für depressive Stimmungen. Er
sehnt sich nach der Bewegung seiner Heimatstadt. Dieser Land- Stadt- Dualismus schlägt sich
auch im Werk des Schriftstellers nieder. Der Einfluss der Umgebung auf Handlung und
Personen zieht sich thematisch durch das gesamte Werk Paveses. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen Überblick über die jeweilige Umsetzung dieser Thematik in verschiedenen, diesbezüglich offenkundigen Werken des Schriftstellers zu
geben. Anhand einer Darstellung der politisch- sozialen Umstände in Italien zu Lebzeiten
Paveses soll zunächst der Blick geweitet werden, um die persönliche Zerrissenheit des
Schriftstellers in einen allgemeinen, zeitlich bedingten Kontext zu stellen. In einem zweiten
Schritt soll dann anhand der diesbezüglichen Erläuterungen Richard Schwaderers in seinem Werk idillo campestre- Ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts eine Linie vom Erzählmodell des idillo campestre des Ottocento zum Werk
Paveses hin gezogen werden.
Gliederung
0 Einleitung
1. Politisch- geschichtliche Ursachen des Land-Stadt- Dualismus in Italien und seine literarische Aufarbeitung vor Pavese
1.1. Politisch- soziale Umstände Italiens in der ersten Hälfte des Novecento
1.2. Idillo campestre als Vorbereitung der Land-Stadt-Thematik bei Pavese
2. Untersuchung signifikanter Werke
2.1. Lavorare stanca/ Estate di san Martino
2.2. Viaggio di nozze
2.3. Il diavolo sulle colline
3. Allgemeine Schlussfolgerungen
0.Einleitung
„(...) città della fantasticheria, per la sua aristocratica compiutezza composta di elementi nuovi e antichi; città della regola, per l’assenza assoluta di stonature nel materiale e nello spirituale; città della passione, per la sua benevola propizierà agli ozî; città dell’ironia, per il suo buon gusto nella vita; città esemplare, per la sua pacatezza ricca di tumulto. Città vergine in arte (…) Città infine, dove sono nato spiritualmente, arrivando di fuori: mia amante e non madre né sorella. E molti altri sono con lei in questo rapporto. Non le può mancare una civiltà, ed io faccio parte di una schiera. Le condizioni ci sono tutte.”[1]
Diese Zeilen schrieb der damals 27- jährige Cesare Pavese am 17. November 1935 in sein Tagebuch. Die Stadt, die er hier als seine amante bezeichnet, ist Turin. Jene Stadt, in der er 21 Jahre lang gelebt hatte, bevor er im August 1935 von den Faschisten in die Verbannung nach Brancaleone Calabro geschickt wurde. Der auf dem Land – in Santo Stefano Belbo (Langhe)- geborene Pavese zog bereits mit sechs Jahren nach dem Tod des Vaters mit seiner Mutter nach Turin. Seine Kindheit und Jugend spielte sich somit in städtischer Umgebung ab, unterbrochen lediglich von regelmäßigen Besuchen auf dem Land in den Sommermonaten. Dennoch ist jene Begeisterung für die Stadt und das Leben in ihr wie sie aus obigen Zeilen spricht keineswegs typisch. Frühe Kindheit und Landleben gehen bei Pavese eine enge Verbindung ein. Und neben verklärt- mystifizierenden Beschreibungen der Campagna dient die Stadt oftmals als Schauplatz von nüchtern- desillusionierten Geschichten, deren Personal als Opfer der tristen und unnatürlichen städtischen Lebensart erscheint. Die Zeit der Verbannung in Kalabrien- inmitten der Stille der Natur und einer fremden Landbevölkerung- wirkt für den ohnehin eher scheuen Pavese als Nährboden für depressive Stimmungen. Er sehnt sich nach der Bewegung seiner Heimatstadt. Dieser Land- Stadt- Dualismus schlägt sich auch im Werk des Schriftstellers nieder. Der Einfluss der Umgebung auf Handlung und Personen zieht sich thematisch durch das gesamte Werk Paveses.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen Überblick über die jeweilige Umsetzung dieser Thematik in verschiedenen, diesbezüglich offenkundigen Werken des Schriftstellers zu geben. Anhand einer Darstellung der politisch- sozialen Umstände in Italien zu Lebzeiten Paveses soll zunächst der Blick geweitet werden, um die persönliche Zerrissenheit des Schriftstellers in einen allgemeinen, zeitlich bedingten Kontext zu stellen. In einem zweiten Schritt soll dann anhand der diesbezüglichen Erläuterungen Richard Schwaderers in seinem Werk idillo campestre- Ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts eine Linie vom Erzählmodell des idillo campestre des Ottocento zum Werk Paveses hin gezogen werden.
1. Politisch- geschichtliche Ursachen des Land-Stadt- Dualismus in Italien und seine literarische Aufarbeitung vor Pavese
1.1. Politisch- soziale Umstände Italiens in der ersten Hälfte des Novecento
Die territoriale Situation Italiens zu Beginn des Novecento wird charakterisiert von wenigen großstädtischen Zentren (Mailand, Turin, Rom, Florenz) und der Provinz. Während der europäischen Industrialisierungswelle im 18. bzw. 19. Jahrhundert war das Land ganz vom Kampf um Freiheit und nationale Einheit eingenommen. Die Versuche der aus historischer Rechter und historischer Linker gebildeten Regierungsgruppe, Italien auf das Niveau des übrigen Europas zu heben, scheitern am Mangel einer strikten innenpolitischen Linie. Und selbst die auf diplomatisches Verhandlungsgeschick begründeten Modernisierungserfolge der Ära Giolitti können die das Land belastenden Divergenzen zwischen Nord-Süd, Stadt-Land und Bürgertum- Arbeiterschicht nicht beheben. Wer nicht ins demokratische, Freiheit versprechende Amerika auswandert leidet unter der unstabilen politischen Lage im Land. Der erste Weltkrieg stürzt die gerade im Aufbau befindliche Wirtschaft in ein erneutes Tief und die Enttäuschung über den Nichterhalt der Gebiete Fiume, Dalmatien und Südalbanien sowie die Krise des politischen Systems legen die Grundlage für die faschistische Bewegung Mussolinis ab 1920. In dieser Zeit der Umbrüche, als der Positivismus sich schon längst an den Enttäuschungen des Risorgimento abgetragen hatte, war die Idealisierung der ländlichen Geborgenheit eine mögliche Lösung zur Bekämpfung des durch faschistische Gleichschaltungspolitik und Anonymität drohenden Individualitätsverlustes. Die Stadt war Ort von moralischem Verfall, Alltag in den Fabriken, Verbrechen, politischen Unruhen und Anonymität. Jedoch auch Ort der modernen Geschäfte mit ihren reizvollen neuen Produkten; Ort des kulturellen Austauschs und einem großen Angebot an Unterhaltung, die von einsamen Grübeleien ablenken konnte. Im Gegensatz dazu verkörperte das Land naturnahes Leben in Ruhe und Bescheidenheit, fernab von den rasanten Veränderungen der gesellschaftlichen Umstände. Hier hatte jeder Mensch seinen Platz und seine Aufgabe innerhalb eines überschaubaren hierarchisch- familiären Gefüges. Diese engen menschlichen Beziehungen können allerdings auch zur Last werden. Es bleibt kaum Platz für Entfaltung oder Veränderung der Persönlichkeit. Missachtung trifft hier noch härter aufgrund der nicht vorhandenen Ausweichmöglichkeiten und es herrschen oftmals noch die Gesetze einer jahrhundertealten Moral. Ein Grossteil der Stadtbewohner war aufgrund der größeren Chancen auf einen Arbeitsplatz in die Stadt und ihre Fabriken gekommen und konnte somit auf eine Kindheit in ländlicher Umgebung zurückblicken. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Bekanntem in dieser ersten Phase des Lebens wiegt im Vergleich zu jenem nach persönlicher Entfaltung und neuen Eindrücken ungleich schwerer. Mit dem Jugendalter kehrt sich eben dieses Verhältnis um. Jedoch kehrt das Bedürfnis nach Sicherheit auch beim erwachsenen Menschen in Zeiten des sich- verloren- Fühlens überstark zurück. Es wird sich an die Kindheit zurückerinnert und die mit ihr verbundene Naivität. Die Sehnsucht nach Verantwortungsabgabe und ‚auf die Richtigkeit der Dinge vertrauen können’ war in diesen Zeiten des politischen Chaos und der allgemeinen Beschleunigung des Lebens sicherlich weit verbreitet. Diese Verschränkung zwischen Landleben und Kindheit tritt im Werk Paveses in besonderer Weise zu Tage.
1.2. Idillo campestre als Vorbereitung der Land-Stadt-Thematik bei Pavese
Die literarischen Ursprünge der hier betrachteten Land- Stadt- Thematik sind zunächst von einer Glorifizierung des Landlebens geprägt. Der Stadt kommt somit ein eindeutig negativer Charakter zu. Das von Richard Schwaderer[2] beschriebene Erzählmodell des idillo campestre, dass „vom Antagonismus der Leitbilder der Italia arcaica und der nuova Italia“[3] geprägt ist, bestimmt die Erzählliteratur des Risorgimento zwischen 1831 und 1860. Während zunächst die Zugehörigkeit der Protagonisten zu Italia arcaica oder nuova Italia in den Romanen eines Giulio Carcano streng festgelegt ist, kommt es später zu einer zunehmenden Differenzierung der Problematik, in der ein Verwischen der Zugehörigkeiten zur einen oder anderen Seite jene Zerrissenheit, wie wir sie schließlich bei Pavese finden, bereits vorbereitet. Weitere, motivische Gegensatzpaare des idillo campestre - Modells beschreibt Schwaderer wie folgt:
„Überwiegt zunächst die Opposition zwischen ländlicher sozialer Stabilität und dem von egoistischen Einzelinteressen dominierten, unruhigen städtischen Geist, so rückt später diejenige zwischen arkadischer Freiheit und städtischer Enge, variiert durch die Opposition >Vitalität< vs. >zivilisationsbedingte Dekadenz< in den Vordergrund.“[4]
Als gegen Ende des Ottocento die Allgegenwart der nuova Italia sich in einer Erzählliteratur niederschlägt, die sich mit den Realismen der Zeit auf unterschiedliche Weise auseinandersetzt, verliert das Modell des idillo campestre als Handlungs- und Stimmungsgrundlage der Erzählungen an Bedeutung und wird sparsamer- zur Zeichnung von Herkunftsräumen und Vergangenheit der Protagonisten zum Beispiel- eingeflochten.[5]
Gabriele D’Annunzio betont zunächst den vitalistischen Charakter des Landlebens, der später in eine destruktive Sexualität und Brutalität verzerrt wird (jene Thematik problematisiert schließlich auch Pavese in seinem Roman Paesi tuoi (1941)). Italo Svevo entmystifiziert in seinem Roman Una Vita (1892) den ländlichen Herkunftsraum des Protagonisten und lässt somit das idillo nicht mal mehr als Rückzugsmöglichkeit vor der nuova Italia gelten.[6] Eine einseitig faschistische Ideologie liegt der Verherrlichung der campagna als Ort „vermeintlich typischer Traditionen und Sitten“[7] in den Äußerungen der strapaese – Bewegung der 1920er Jahre zu Grunde, die sich hauptsächlich in der Zeitschrift il Selvaggio (1924 bis 1943) manifestiert. Die Gegenbewegung stracittà äußert sich in der Zeitschrift Il Novecento (1926 bis 1929) für eine „Erneuerung der italienischen Kultur durch den Kontakt mit der europäischen Avantgarde“[8]. Auch wenn eine Synthese der geführten Diskussion an der jeweils einseitigen Forcierung der Problematik auf beiden Seiten scheitert, zeigt dies doch die breite Bedeutung der Thematik kulturell, künstlerisch, soziologisch und politisch.
Der sogenannte Neorealismo greift das idillo - Modell schließlich erneut auf, jedoch in einer sehr vielschichtigeren Sichtweise, die die gebildeten, starren Fronten aufbricht und eine Beleuchtung beider Seiten möglich macht.
[...]
[1] Pavese, Cesare. Il mestiere di vivere. S. 27
[2] Schwaderer, Richard. 1987 .Idillo campestre- ein Kulturmodell in der italienischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. München: Fink.
[3] Schwaderer, S. 77
[4] Schwaderer, S. 80
[5] vgl. Schwaderer, S.194
[6] vgl. Schwaderer, S. 195
[7] Kapp, S. 338
[8] ebd.
- Arbeit zitieren
- Jennifer Ruwe (Autor:in), 2004, Der Land Stadt Dualismus bei Cesare Pavese, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26123
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