Sprachstörungen, die im Kindesalter auftreten, können verschiedenste Ursachen haben. Im wesentlichen muss zwischen zwei Typen unterschieden werden: Sprachentwicklungsstörungen (SES, developmental aphasia) setzen bereits vor oder aber spätestens mit dem Beginn des Spracherwerbs ein. Dessen Verlauf ist also in seiner Gesamtheit beeinflusst, was sowohl zu Sprachentwicklungsverzögerungen (verlangsamter Spracherwerb) als auch zu Sprachentwicklungsstörungen (abweichender Spracherwerb) führen kann. Ursache kann zum Beispiel ein pränataler Hirnschaden, eine Primärstörung (geistige Behinderung) oder eine spezifische Störung des Spracherwerbsmechanismus’ (sSES) sein.
Auf der anderen Seite stehen solche Sprachstörungen, die erst nach Beginn eines zunächst normal verlaufenden Spracherwerbs einsetzen und Folge eines klar umschriebenen Ereignisses, nämlich einer plötzlich auftretenden hirnorganischen Schädigung, sind. In diesem Fall spricht man von kindlicher Aphasie bzw. acquired childhood aphasia.
Das folgende Essay wird sich ausschließlich mit der letzteren Störung beschäftigen. Ich werde zunächst auf die Vorkommenshäufigkeit von kindlicher Aphasie eingehen und die Frage beantworten, ob Aphasien bei Kindern tatsächlich seltener auftreten als bei Erwachsenen. Weiterhin werde ich die Störungsmerkmale kindlicher Aphasien beschreiben und dabei ausführlich diskutieren, ob und wenn ja warum Aphasien im Kindesalter zumeist nicht-flüssiger Natur sind. Abschließend werde ich drei Hypothesen zum Verlauf der zerebralen Lateralisierung vorstellen und diese vor dem Hintergrund der durch die Untersuchung von aphasischen Kindern gewonnen Ergebnisse bewerten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Zur Vorkommenshäufigkeit von kindlicher Aphasie
3 Klinische Symptome der kindlichen Aphasie
4 Die (Nicht-)Flüssigkeit von kindlichen Aphasien
5 Der Verlauf der zerebralen Lateralisierung – 3 Hypothesen
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Sprachstörungen, die im Kindesalter auftreten, können verschiedenste Ursachen haben. Im wesentlichen muss zwischen zwei Typen unterschieden werden: Sprach-entwicklungsstörungen (SES, developmental aphasia) setzen bereits vor oder aber spätestens mit dem Beginn des Spracherwerbs ein. Dessen Verlauf ist also in seiner Gesamtheit beeinflusst, was sowohl zu Sprachentwicklungs verzögerungen (verlangsamter Spracherwerb) als auch zu Sprachentwicklungs störungen (ab-weichender Spracherwerb) führen kann. Ursache kann zum Beispiel ein pränataler Hirnschaden, eine Primärstörung (geistige Behinderung) oder eine spezifische Störung des Spracherwerbsmechanismus’ (sSES) sein.
Auf der anderen Seite stehen solche Sprachstörungen, die erst nach Beginn eines zunächst normal verlaufenden Spracherwerbs einsetzen und Folge eines klar umschriebenen Ereignisses, nämlich einer plötzlich auftretenden hirnorganischen Schädigung, sind. In diesem Fall spricht man von kindlicher Aphasie bzw. acquired childhood aphasia.
Das folgende Essay wird sich ausschließlich mit der letzteren Störung beschäftigen. Ich werde zunächst auf die Vorkommenshäufigkeit von kindlicher Aphasie eingehen und die Frage beantworten, ob Aphasien bei Kindern tatsächlich seltener auftreten als bei Erwachsenen. Weiterhin werde ich die Störungsmerkmale kindlicher Aphasien beschreiben und dabei ausführlich diskutieren, ob und wenn ja warum Aphasien im Kindesalter zumeist nicht-flüssiger Natur sind. Abschließend werde ich drei Hypothesen zum Verlauf der zerebralen Lateralisierung vorstellen und diese vor dem Hintergrund der durch die Untersuchung von aphasischen Kindern gewonnen Ergebnisse bewerten.
2 Zur Vorkommenshäufigkeit von kindlicher Aphasie
Obwohl die ersten Fälle von kindlicher Aphasie bereits am Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben wurden (also kurz nach den klassischen Studien über Aphasien bei Erwachsenen), gibt es relativ wenig Forschungsergebnisse und kaum Literatur zu diesem Störungsbild. Als Erklärung wird häufig angeführt, dass es sich bei kindlicher Aphasie um eine nur sehr selten vorkommende Sprachstörung handelt. Laut Grimm (1999) machen kindliche Aphasiker nur etwa 2% der sprach- oder sprechgestörten Patienten aus.
Geklärt werden muss allerdings, was der Seltenheit dieses Störungsbildes zugrunde liegt. Zum einen könnte es sein, dass die zerebralen Läsionen, die bei Erwachsenen eine Aphasie hervorrufen, bei Kindern seltener auftreten. Andererseits könnte eine Aphasie bei Kindern selbst dann seltener auftreten, wenn eine zerebrale Läsion vorliegt, die bei einem Erwachsenen normalerweise eine aphasische Störung zur Folge hat.
Die vorliegenden Forschungsergebnisse liefern Evidenz für den ersten Erklärungs-ansatz. So entstehen im Erwachsenenalter rund 80% der Aphasien als Folge eines Schlaganfalls, der eine akute umschriebene Durchblutungsstörung in der sprach-dominanten Hemisphäre hervorruft. Dagegen ist eine unilaterale zerebrovaskuläre Schädigung als medizinische Ursache für Aphasien bei Kindern zwar auch anzutreffen, kommt aber bei weitem nicht so häufig vor wie bei Erwachsenen[1] (Hartje & Poeck, 1997). Wenn es allerdings zur einer unilateralen Läsion der sprachdominanten Hemisphäre kommt, ist die Wahrscheinlichkeit an einer Aphasie zu erkranken, für Kinder ebenso hoch wie für Erwachsene (Satz & Bullard-Bates, 1981).
3 Klinische Symptome der kindlichen Aphasie
Im allgemeinen werden die klinischen Symptome, die bei kindlicher Aphasie auftreten, mit den sprachlichen Charakteristika erwachsener Aphasiker verglichen, um die Frage zu beantworten, inwieweit sich Aphasien im Kindesalter von Aphasien im Erwachsenenalter unterscheiden. Dennis (1988) merkt allerdings an, dass diese Herangehensweise einen falschen Fokus setze. Da sich kindliche Aphasien trivialerweise von Aphasien im Erwachsenenalter unterschieden - schließlich seien schon die prämorbiden Sprachsysteme anders -, müsse vielmehr untersucht werden, inwieweit sich aphasische Kindersprache von regulärer Kindersprache unterscheide. Nichtsdestotrotz erlaubt ein Vergleich der aphasischen Symptome in verschiedenen Altersgruppen aber einen Einblick in den Verlauf der Sprachentwicklung. Im folgenden werde ich die wichtigsten klinischen Symptome der kindlichen Aphasien zusammenfassen und kurz erläutern.
Mutismus – Direkt nach dem Auftreten eines Schlaganfalls lässt sich bei den meisten Kindern eine Phase der absoluten Stummheit beobachten. Diese tritt häufiger auf als bei Erwachsenen und dauert auch länger an. Hécaen (1976) hat in seiner Studie gezeigt, dass das Auftreten eines Mutismus von der Lokalisation der Läsion abhängt: Während 63% der Kinder mit einer anterioren Läsion anfänglich stumm waren, trat nur bei 10% der Kinder mit einer posterioren Läsion eine mutistische Phase auf.
Reduzierte Sprachproduktion – Dem anfänglichen Mutismus folgt zumeist eine Phase reduzierter Sprachproduktion, die einer Broca-Aphasie eines Erwachsenen ähnelt. Van Hout & Seron (1983) nehmen als Ursache eine Störung der Sprachinitiation an.
Dysarthrie – Dysarthrien liegen bei kindlichen Aphasien zwar häufig, aber zumeist nur vorübergehend und eher schwach ausgeprägt vor. Dysarthrien treten vor allem bei jungen Kindern und nach anterioren Läsionen auf.
Agrammatismus – Auch wenn syntaktische Defizite bereits in den ersten Fallbeschreibungen zur kindlichen Aphasie beschrieben wurden, sind diese bisher nur wenig untersucht worden. Alajouannine & Lhermitte (1965) haben festgestellt, dass es eher zu einer Vereinfachung der syntaktischen Strukturen als zu syntaktischen Fehlern (wie bei erwachsenen Patienten mit Agrammatismus) kommt. Weiterhin scheint der Schweregrad des syntaktischen Defizits mit dem Ausmaß der Läsion zu korrelieren (van de Sandt-Koenderman et al., 1984).
Anomie – Benennstörungen treten bei kindlicher Aphasie häufig auf und sind dann auch meistens persistierend. Sie sind sowohl nach links- als auch nach rechts-hemisphärischen Schädigungen zu beobachten, wobei die zugrunde liegende Ursachen verschieden sind. Während bei einer Läsion der linken (sprachdominanten) Hemisphäre der lexikalische Zugriff beeinträchtigt ist, sind Benennstörungen in Folge einer rechtshemisphärischen Schädigung auf Probleme bei der visuell-räumlichen Wahrnehmung zurückzuführen. Innerhalb der sprachdominanten Hemisphäre scheint es aber keinen Zusammenhang zwischen dem Läsionsort (anterior vs. posterior) und dem Ausmaß der Benennstörung zu geben (Aram et al. 1987).
Paraphasien – Während frühe Studien betonen, dass Paraphasien bei kindlicher Aphasie nicht auftreten, haben neuere Arbeiten gezeigt, dass Paraphasien auch bei kindlichen Aphasikern nicht selten sind. Paraphasien werden allerdings nur vorübergehend und vor allem kurze Zeit post-onset produziert. Da die Spontan-sprache in dieser ersten Phase aber stark reduziert ist (s. o.), werden Paraphasien häufig nur dann beobachtet, wenn explizite Tests durchgeführt werden.
Sprachverständnis – Frühe Studien gehen davon aus, dass Sprachverständnis-störungen bei kindlicher Aphasie nur sehr selten auftreten. Hécaen (1976) stellt dagegen in seinen Untersuchungen Sprachverständnisstörungen fest, sieht diese aber auf die Akutphase begrenzt. Neuere Arbeiten legen nahe, dass Sprachverständnisstörungen vor allem bei Patienten mit Landau-Kleffner-Syndrom[2] auftreten, so dass vermutet wird, dass die Ätiologie der Erkrankung eine entscheidende Rolle spielt.
Nachsprechen – Die Nachsprechleistung scheint vor allem im Rahmen von flüssigen Aphasien beeinträchtigt zu sein.
Schriftsprache – Die stärksten und anhaltendsten Schwierigkeiten haben kindliche Aphasiker bei der Verarbeitung von schriftsprachlichem Material. Nahezu jeder Patient hat Probleme beim Lesen und/ oder Schreiben, wobei die Schreibleistung stärker betroffen ist als die Leseleistung.
[...]
[1] Die häufigsten Ursachen für kindliche Aphasien sind entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems sowie Schädel-Hirn-Traumata und intrazerebrale Tumore.
[2] Landau-Kleffner-Syndrom: seltene Form der kindlichen Epilepsie, bei der ein Kind mit zuvor normaler Sprachentwicklung sowohl rezeptive als auch expressive Sprachfertigkeiten verliert.
- Citation du texte
- Judith Heide (Auteur), 2003, Kindliche Aphasien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25743
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