John Stuart Mill: Über die Freiheit1
Dass Freiheit gut und zu fördern sei, würden fast alle sagen; was Freiheit aber in
überzeugender praktisch – philosophischer, bzw. ethischer Perspektive sei,
vermag im Alltag fast keiner anzugeben. Freiheit gehört zu jenen Begriffen wie
Gerechtigkeit u.a., die dank ihres fließenden Umfangs und Horizonts so viel
Zustimmung auf sich ziehen, dass die scheinbare Einigkeit nur wieder in Streit
einmünden kann.2
John Stuart Mill kannte die Menschen. Zumindest wusste er, wie sie sind und wie
sie eines Tages sein könnten. Dass sie von diesem ‚eines Tages‘ allerdings noch
weit entfernt sind, musste auch er eingestehen [63], dennoch sah er sie auf dem
richtigen Weg, erkannte aber auch, dass sie einer gewissen Anleitung auf diesem
„Weg zur Vervollkommnung“ bedürfen. [18]
Der Mensch ist ein Pluralwesen, er lebt in Gesellschaft und ist eingestrickt in ein
Netz von Interdependenzen, hervorgerufen durch seine und der anderen Menschen
Handlungen, die jeweils dazu dienen sollen, das eigene Wohlbefinden zu steigern
und die gleichzeitig bewusst oder unbewusst auf die Situation anderer einwirken. 3
Da nun aber der Mensch noch weit von der Mill‘schen visionären
Vervollkommnung entfernt ist, bedarf dieses Zusammenleben mit Wirkungen und
Wechselwirkungen eines gewissen Reglements, das die Rechte, insbesondere die
Freiheiten, aber auch die Pflichten des einzelnen Individuums gegenüber der
Gesellschaft festhält.
1 John Stuart Mill, Über die Freiheit, Zitate werden im laufenden Text durch eingeklammerte
Seitenzahlen markiert.
2 Christofer Frey, Freiheit oder Beliebigkeit, S. 70.
3 Günther Hesse, Freiheitliche Politik, S. 19; ebenso: Jürgen Gaulke, Freiheit und Ordnung, S. 133.
Inhaltsverzeichnis:
John Stuart Mill: Über die Freiheit
1. Das Prinzip:
2. Nützlichkeit:
3. Das Individuum und die Gesellschaft:
3. 1. Freiheit von Gedanken, Meinungen und Diskussion:
3. 2. Freie Lebensgestaltung und Handlungsrechte:
3. 3. Die Autorität der Gemeinschaft:
4. Zusammenfassung:
Literaturverzeichnis:
Primärliteratur:
Sekundärliteratur:
John Stuart Mill: Über die Freiheit
Dass Freiheit gut und zu fördern sei, würden fast alle sagen; was Freiheit aber in überzeugender praktisch – philosophischer, bzw. ethischer Perspektive sei, vermag im Alltag fast keiner anzugeben. Freiheit gehört zu jenen Begriffen wie Gerechtigkeit u.a., die dank ihres fließenden Umfangs und Horizonts so viel Zustimmung auf sich ziehen, dass die scheinbare Einigkeit nur wieder in Streit einmünden kann.[1] [2]
John Stuart Mill kannte die Menschen. Zumindest wusste er, wie sie sind und wie sie eines Tages sein könnten. Dass sie von diesem ‚eines Tages‘ allerdings noch weit entfernt sind, musste auch er eingestehen [63], dennoch sah er sie auf dem richtigen Weg, erkannte aber auch, dass sie einer gewissen Anleitung auf diesem „Weg zur Vervollkommnung“ bedürfen. [18]
Der Mensch ist ein Pluralwesen, er lebt in Gesellschaft und ist eingestrickt in ein Netz von Interdependenzen, hervorgerufen durch seine und der anderen Menschen Handlungen, die jeweils dazu dienen sollen, das eigene Wohlbefinden zu steigern und die gleichzeitig bewusst oder unbewusst auf die Situation anderer einwirken.[3]
Da nun aber der Mensch noch weit von der Mill‘schen visionären Vervollkommnung entfernt ist, bedarf dieses Zusammenleben mit Wirkungen und Wechselwirkungen eines gewissen Reglements, das die Rechte, insbesondere die Freiheiten, aber auch die Pflichten des einzelnen Individuums gegenüber der Gesellschaft festhält.
1. Das Prinzip:
John Stuart Mill’s „On Liberty“ ist nicht ein Buch des Freiheitskampfes, welcher die Fesseln vorhandenen Rechts sprengen will, sondern ein Buch des Austarierens zwischen Freiheiten und Regeln. Die Freiheit, das sind die Freiheiten der Schwächeren, der Minderheiten, der Sonderlinge, der Individuen. Demokratien, das hat Mill von Alexis de Tocqueville gelernt, sind besonders gefährdet, diese Freiheiten zu missachten.[4]
Grundlegend ist hierbei der Gedanke, dass nach einer Zeit, in der ein oder mehrere Herrscher einem Volk oft mit gegensätzlichen Interessen entgegenstanden, mehr und mehr der Wunsch bestand, das Volk den Herrschern gleichzustellen, so dass deren Willen und Belange in denen der Nation aufgingen. [7] Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelte sich die demokratische Republik, die Herrschaft des Volkes über das Volk, der Volkswille regiert. Doch ist jener Volkswille niemals wirklich der Wille des gesamten Volkes, sondern vielmehr der „des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als Mehrheit anerkennen zu lassen.“ [9] Dem gegenüber steht eine Minderheit, die zu schnell unter dem Deckmantel des Wohles der Allgemeinheit unterdrückt wird, eben weil Allgemeinheit oft als Mehrheit missverstanden wird.
Die Neigung, die Meinung bzw. den Willen der Mehrheit als den richtigen anzunehmen, ist durchaus verständlich, doch gerade in diesem Verständnis zeigt sich die entstehende Gefahr, die Mill und sein Freund Tocqueville als die „Tyrannei der Mehrheit“ bezeichneten, eines der Übel, „gegen welche die Gesellschaft auf der Hut sein muss.“ [9]
Tatsächlich liegt dieser Form der Tyrannei eine weit größere Gefahr zugrunde, denn zum einen kann sie sich zur Durchsetzung ihres Willens der Behörden bedienen und zum anderen besteht für die Minderheit die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung, die sie als soziale Wesen dazu zwingen wird, sich anzupassen, auch geistig anzupassen[5], so dass mit der Zeit eine konforme Masse entstehen wird. Konformität aber ist einer der größten Hemmschuhe der menschlichen Entwicklung. Und hier greift Mills Bedürfnis einer Regelung des individuellen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieser Regelung soll ein einfaches Prinzip zugrunde liegen.
Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung. Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig dazu zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. Dies sind wohl gute Gründe, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu reden, ihn zu über reden [...], aber keinesfalls um [...] ihn mit Unannehmlichkeiten zu bedrohen, wenn er anders handelt. [...] Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich. [...] Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne souveräner Herrscher. [16f.]
Dieses Prinzip soll für alle Menschen mit ausgereiften Fähigkeiten gelten. Vor diesem Zustand (gleichermaßen für Kinder gemeint, wie für ganze „barbarische“ Völker) bedürfen sie des Schutzes, bedingt auch vor eigenen Handlungen und der Führung, auch durch Zwang, sofern diese der Vervollkommnung dient. Ist allerdings in der Entwicklung ein Punkt erreicht, an welchem zum Geleiten zur Vervollkommnung kein Zwang mehr von Nöten ist, so ist dieser auch nicht mehr gerechtfertigt. [17f.]
2. Nützlichkeit:
Dem eben erwähnten Grundsatzprinzip, das die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum, insbesondere im Rahmen von Zwang und Bevormundung regeln soll, liegt ein weiteres, für Mill vielleicht sogar wichtigeres Prinzip zugrunde: das Nützlichkeitsprinzip, denn er betrachtete „Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen, aber es muss Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, begründet auf den ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden Wesens.“ [18]
Mill, in seiner Kindheit hauptsächlich vom Vater James Mill und dessen Freund Jeremy Bentham (beide Anhänger des Utilitarismus) umgeben und geprägt, hat Benthams Lehre vom „größten Glück der größten Zahl“ um die Dimension des Sozialen erweitert. Aus dem „quantitativ messbaren, an der reinen Sinneswahrnehmung orientierten“ entwickelte er „einen qualitativ differenzierenden Glücksbegriff“, der sich nicht nur „auf den Einzelnen oder gar die eigene Person“ bezieht, sondern „immer zugleich [auch auf] das Glück der anderen, ja der ganzen Menschheit.“[6]
Nur in diesem Rahmen sollte und kann man Mills Essay „Über die Freiheit“ verstehen. Er hält keine Lösungen parat oder zeichnet die Realität in ihrer Gesamtheit, dies ist ja aufgrund ihrer Zwiespältigkeit auch gar nicht möglich.[7] Vielmehr gibt er Lösungsvorschläge und „Muster von Anwendungen“ [129], die zugegebener maßen nicht immer hundertprozentig sind, aber man muss seinen Kritikern entgegenhalten, dass es hier eben um den nicht immer berechenbaren Menschen geht, der multipliziert mit all den anderen Menschen kaum eine absolute Eindeutigkeit zulässt.
Mill zeigt Fehler auf, die unbedingt zu vermeiden sind, wenn die Menschheit sich weiterentwickeln soll bzw. will. Insofern ist Mills Gesellschaftstheorie wohl auch weniger über seinen historischen Kontext, sondern als zukunftsweisend, auch über unsere Zeit noch hinaus zu verstehen, als eine Gesellschaftsentwicklungstheorie.
3. Das Individuum und die Gesellschaft:
[...]; die von Mill geforderte ‚Nützlichkeit im weitesten Sinne‘, die später von ihm genannte ‚gesellschaftliche Nützlichkeit‘, sieht den Mensch als Wesen, das nur in der (freiheitlich verfassten) Gesellschaft fortschreiten kann, und daher ist das Individuum bei Mill immer zugleich auch als sozial gebunden zu sehen.[8]
Als dieses sozial gebundene Wesen ist das Individuum einem anderen oder auch der Gesellschaft als dessen Beschützer gegenüber verantwortlich, wenn seine Handlungen eben auch die Angelegenheiten des anderen berühren. [19]
Dem gegenüber gibt es ein Feld, an dem die Gesellschaft kein näheres Interesse haben kann und sollte, weil in diesem Rahmen hauptsächlich das Individuum selbst betroffen ist. “Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit.” [20] Hierzu zählen erstens: Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, Freiheit des Fühlens und der Gedanken, Meinungs- und Religionsfreiheit, Diskussionsfreiheit sowie Pressefreiheit; zweitens: Freiheit des Geschmacks und der Studien, Freiheit der Persönlichkeits- und Lebensgestaltung; drittens: Vereinigungsfreiheit; alle Freiheiten jedoch unter der Voraussetzung, das keine Rechte anderer verletzt werden. [19]
Keine Gesellschaft ist unabhänig, wo diese Freiheiten nicht im großen ganzen respektiert werden, ganz gleich, auf welche Weise man sie regiert, und keine ist vollständig frei, wenn sie nicht unbeschränkt und bedingungslos vorhanden sind. Die einzige Unabhänigkeit, die diesen Namen verdient, ist die Möglichkeit, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Weise zu erreichen, solange wir nicht versuchen, andere ihres Gutes zu berauben oder dessen Erwerb zu vereiteln. [20f.]
Insoweit ist Freiheit bei Mill also nicht “nur eine individuelle Freiheit”, wie Gaulke meint[9], sondern vielmehr auch gesellschaftliche Freiheit, die jedoch nur auf individueller Freiheit aufbauen kann. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Mill das Wohl und hier eben die Freiheit des Einzelnen immer auch und besonders in Bezug auf das Wohl der Menschheit für nützlich hielt.[10]
[...]
[1] John Stuart Mill, Über die Freiheit, Zitate werden im laufenden Text durch eingeklammerte Seitenzahlen markiert.
[2] Christofer Frey, Freiheit oder Beliebigkeit, S. 70.
[3] Günther Hesse, Freiheitliche Politik, S. 19; ebenso: Jürgen Gaulke, Freiheit und Ordnung, S. 133.
[4] Ernst U. v. Weizsäcker/ Christine v. Weizsäcker, Freiheit der Tätigkeit, S. 191.
[5] Vgl. Hans G. Nutzinger, Individualität, S. 40.
[6] Manfred Schlenk, Nachwort, S.166 f.
[7] Vgl. Jens Harms, Einführung, S. 9.
[8] Hans G. Nutzinger, Individualität, S. 42.
[9] Jürgen Gaulke, Ordnung und Freiheit, S. 139.
[10] So dann auch Gaulke, Ordnung und Freiheit, S. 140 f.
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- Monique Weinert (Author), 2001, John Stuart Mill: Über die Freiheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25663
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