Der Querelle des Anciens et des Modernes hat in der Literaturgeschichte
vergleichsweise wenig Beachtung gefunden, obwohl seine Wirkung auf unser
gegenwärtiges Kunst- und Ästhetikkonzept sowie die Perspektive unserer
heutigen Geschichtsbetrachtung von großer Bedeutung ist.
Mit der Querelle des Anciens et des Modernes beginnt sich das, für uns
heute selbstverständliche lineare, diachronisch-historische Geschichtsdell
durchzusetzen. Weiterhin setzt sich das systemtheoretische BasisÜberbau-
ModellA durch, das heißt, Entwicklungen und Neuerungen künstlerischer
Bereiche werden im Zusammenhand sozialer und politischer Veränderungen
begriffen. Ohne die Querelle wäre unser heutiges Kunstverständnis
autonomer Kunst undenkbar. Die Legitimation der epochalen nationalen
Kunst als Ergebnis der Querelle führte überdies zur Stärkung des nationalen
Selbstwertgefühls und zur Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Eigene
Brauchtümer und Traditionen werden wieder entdeckt. Die sogenannte
Deutschtümelei findet Ausdruck in deutschen Märchen (Grimms Märchensammlung),
Sagen und Volksliedern. Hier sind auch die Anfänge der deutschen
Literaturwissenschaften zu finden.
Auf die Literatur der Romantik hatte die Querelle großen Einfluss und in
vielen frühromantischen Werken werden die Fragen der Querelle implizit
eingeflochten und bearbeitet. Insbesondere Schlegel war maßgeblich an der
deutschen Querelle beteiligt und auch sein Roman „Lucinde“ spiegelt die
Fragen der Querelle wieder. Ohne das Wissen um die Querelle würde ein
wichtiger Zugang zu diesem frühen Werk Schlegels fehlen.
Ich werde in der folgenden Arbeit nach dem geistesgeschichtlichen Ansatz
vorgehen und versuchen die Hintergründe und Ursachen des Querelles darzulegen.
Weiter möchte ich auf die deutsche Querelle und ihre Vertreter,
insbesondere auf Schlegels Position und die Wirkung des Streites auf seine
Philosophie und Poesie eingehen.
Die Gründe für die Querelle, ihre Durchführung und Folgen sind allerdings
so vielfältig und komplex, daß es mir im Rahmen dieser Hausarbeit nicht
möglich sein wird den Streit in seiner Universalität darzustellen.
Inhalt:
1.0 Einleitung
Teil I: Vorraussetzungen und Ergebnisse der Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich und Deutschland
2.0 Vorraussetzungen der Querelle
3.0 Die französische Querelle
4.0 Die deutsche Querelle
4.1 Die Fragen der Querelle
4.2 Die Vertreter der deutschen Querelle
4.2.1 Herders Briefe „Zur Beförderung der Humanität“
4.2.2 Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentale Kunst“
5.0 Die Querelle als Missverständnis?
5.1 Das Zeit- und Geschichtsverständnis als Problem der Querelle
(A) Qualitativer versus quantitativer Zeitbegriff
(B) Synchrone versus diachrone Geschichtsauffassung
5.2 Die Ästhetikkonzepte als Problem der Querelle Konsumentenorientiertes versus produzentenorientiertes Kunstkonzept
Teil II: Friedrich Schlegel Position in der Querelle des Anciens et des Modernes und Einflüsse auf seine Philosophie und Poesie
6.0 Schlegels Position in der Querelle: „Über das Studium der griechischen Poesie“
6.1 Schlegels Universalphilosophie und –poesie als Produkt der Querelle
6.1.2 Schlegels Theorie der Naturpoesie als Sublimation und Substitution gesellschaftlicher und religiöser Funktionen, der Entzweiung von Mensch und Natur, von natürlicher und künstlicher Kunst
7.0 Die Wirkung der Querelle des Anciens et des Modernes auf Schlegels Lucinde
8.0 Schlusswort
Bibliographie
Die deutsche Querelle des Anciens et des Modernes –
Schlegels Position und Einflüsse der Querelle auf Schlegels „Lucinde“
1.0 Einleitung
Der Querelle des Anciens et des Modernes hat in der Literaturgeschichte vergleichsweise wenig Beachtung gefunden, obwohl seine Wirkung auf unser gegenwärtiges Kunst- und Ästhetikkonzept sowie die Perspektive unserer heutigen Geschichtsbetrachtung von großer Bedeutung ist.
Mit der Querelle des Anciens et des Modernes beginnt sich das, für uns heute selbstverständliche lineare, diachronisch-historische Geschichtsmodell durchzusetzen. Weiterhin setzt sich das systemtheoretische Basis-Überbau-Modell[1] durch, das heißt, Entwicklungen und Neuerungen künstlerischer Bereiche werden im Zusammenhand sozialer und politischer Veränderungen begriffen. Ohne die Querelle wäre unser heutiges Kunstverständnis autonomer Kunst undenkbar. Die Legitimation der epochalen nationalen Kunst als Ergebnis der Querelle führte überdies zur Stärkung des nationalen Selbstwertgefühls und zur Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Eigene Brauchtümer und Traditionen werden wieder entdeckt. Die sogenannte Deutschtümelei findet Ausdruck in deutschen Märchen (Grimms Märchensammlung), Sagen und Volksliedern. Hier sind auch die Anfänge der deutschen Literaturwissenschaften zu finden.
Auf die Literatur der Romantik hatte die Querelle großen Einfluss und in vielen frühromantischen Werken werden die Fragen der Querelle implizit eingeflochten und bearbeitet. Insbesondere Schlegel war maßgeblich an der deutschen Querelle beteiligt und auch sein Roman „Lucinde“ spiegelt die Fragen der Querelle wieder. Ohne das Wissen um die Querelle würde ein wichtiger Zugang zu diesem frühen Werk Schlegels fehlen.
Ich werde in der folgenden Arbeit nach dem geistesgeschichtlichen Ansatz vorgehen und versuchen die Hintergründe und Ursachen des Querelles darzulegen. Weiter möchte ich auf die deutsche Querelle und ihre Vertreter, insbesondere auf Schlegels Position und die Wirkung des Streites auf seine Philosophie und Poesie eingehen.
Die Gründe für die Querelle, ihre Durchführung und Folgen sind allerdings so vielfältig und komplex, daß es mir im Rahmen dieser Hausarbeit nicht möglich sein wird den Streit in seiner Universalität darzustellen.
Teil I: Vorraussetzungen und Verlauf der Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich und Deutschland
2.0 Vorraussetzungen der Querelle:
In der Naturmystik der Griechen wurden Naturphänomene noch durch Personifizierung der beseelten Natur erklärt, durch das willkürliche Eingreifen der Götter in das Naturgeschehen. Der antike Mensch stellte eine Einheit mit seiner Umwelt und der Natur dar und wurde zum Sinnbild der humanistischen Bildung. Im Laufe der Entwicklung des Logos wurden Naturphänomene zunehmend nicht mehr durch das Eingreifen der Götter, sondern durch naturwissenschaftliche Hinterfragungen erklärt. An die Stelle der vielen Götter, die Verantwortung über die Elemente trugen, trat im Zuge der germanischen Christianisierung der eine omnipräsente moralische Gott.
Aus der ursprünglichen Naturmythologie entsprangen sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft. Diese Entwicklung führte zu einer zunehmenden Entzweiung von Mensch und Natur. Die Suche nach den Wurzeln und Ursprüngen führte tragischerweise zur Entwurzelung. Naturwissenschaftliche Entdeckungen (Kopernikus, Descartes) bestätigten in den folgenden Jahrhunderten den Fortschrittsoptimismus und bedeuteten gleichzeitig die absolute Diskredition der antiken Naturphilosophie.
Aufgrund dieser Entwicklungen veränderte sich auch die Poesie sowohl thematisch als auch formal, was zu der Frage nach der Vormachtstellung antiker imitierender Kunst oder moderner experimenteller Kunst führte. Die Frage wurde zuerst in Frankreich von den Vertretern des Anciens und der Partei der Modernen diskutiert und mündete Ende des 17. Jhdt. in die Querelle des Anciens et des Modernes.
Die Querelle des Anciens et des Modernes ist seitdem ein, auch heute noch hochaktueller literarischer Topos, „der in den generationsbedingten Revolten der Jugend wiederkehrt und nunmehr anzeigt, wie sich von Jahrhundert zu Jahrhundert die Proportionen zwischen den alten und den neuen Schriftstellern verschieben“[2]. Der Wortgebrauch des Alten und Modernen „bezeichnet […] die Grenze zwischen dem Heutigen und dem Gestrigen“[3] und ist immer dort erkennbar, wo durch geschichtlichen Wandel und das Selbstverständnis einer neuen Gegenwart „die Abscheidung einer Vergangenheit“ der neuen Gegenwart zur eigenen Entfaltung verhilft.
Schon in der Antike wurde -zwar ohne historisches Bewusstsein im Sinne eines Epochen- und Entwicklungsbegriffes- die gegenwärtige Literatur mit den literarischen Leistungen der Vergangenheit verglichen. Damals herrschte noch die Geschichtsauffassung der ewigen Wiederholung der Geschichte vor. Dieses zyklische Geschichtsbild wurde gestützt durch den Gegensatz von Neu und Alt, wobei die Begriffe alt und neu, antiquitas und modernus (lat. modo = jetzt, soeben) wertfrei verwandt wurden und lediglich eine zeitliche Begrenzung darstellten.
Zunehmend fand eine Bedeutungsverschiebung der beiden Begriffe antik und modern statt. In der karolingischen Zeit, im 8. bis 10. Jahrhundert, in der Zeit der Missionierung und Christianisierung der Germanen wurden die Begriffe alt und neu stark bewertet. In dieser Zeit „umfasst der Begriff (Moderne) schon die gesamte christliche Zeit im Gegensatz zur heidnischen Antike“[4].
In der Renaissance, im 14. bis 17. Jahrhundert, einer Zeit wo sich die Kunst, insbesondere die Malerei wieder stark an antiken Vorbildern orientierte, sich um den Wiederaufstieg zu dieser verlorenen kulturellen Höhe bemühte, und diese noch zu übertreffen suchte, kehrte man zu der zyklischen Vorstellung des Geschichtsbildes zurück. Allerdings erkannte man auch die eigene Distanz zu der vorbildlichen, aber nicht mehr verfügbaren Antike.
In der Romantik ist der Begriff modern zunächst stark negativ konnotiert, da eine Orientierung an schnell wechselnden Moden als tadelhaft empfunden und als menschliches Variationsbedürfnis abgewertet wird.
3.0 Die französische Querelle
Die führende Kraft der französischen Querelle war Charles Perrault. 1687 wird die Querelle in Frankreich von Charles Perrault ausgelöst und fokalisiert sich auf die Frage des Rückgriffs auf die Antike als Modell.
Diese Debatte wurde 1687 von Perrault in der Académie Francaise mit der These begonnen, dass der seit Descartes und Kopernikus manifeste Fortschritt der Wissenschaften auch in den Künsten seinen Ausdruck finde.
In der Sitzung der Académie francaise am 26.Januar 1687 trägt Perrault sein Gedicht „Le Siécle de Louis le Grand“ vor, worin er, nicht ohne auf den Beifall des Königs zu schielen, die Überlegenheit seiner eigenen Epoche über die Antike postuliert, die bis dahin in allem als vorbildhaft galt. Er leugnet den Charakter des Lehrer-Schüler-Verhältnisses zwischen den Epochen der Antike und Modern. Er löst hiermit unerwartet die heftige Querelle des Anciens et des Modernes aus, den wohl berühmtesten Literatenstreit der an querelles so reichen französischen Literaturgeschichte.
Kurz darauf erscheint Perraults Werk „Paralléle des Anciens et des Modernes“. Dieses Werk besteht aus fünf Dialogen über die bildenden Künste, Beredsamkeit, Dichtung und Wissenschaft. Diese Bereiche werden zu einem Epochenvergleich herangezogen mit dem Ergebnis eines einheitlichen Fortschrittmodells und der Überlegenheit der Moderne über die Antike.
Implizit wird als Fazit die Relativität des Schöne formuliert und die langsame Näherung an ein historisches Verständnis der Antike und antiken Kunst, womit die Fragestellungen der Querelle hinfällig werden.
Die Annahme nur eines goldenen Zeitalters, nämlich der Antike wird abgelehnt zugunsten mehrerer goldener Zeitalter.
Im Endergebnis der Querelle wurde ein dreistufiger Zeitablauf etabliert – Antike/Mittelalter/Moderne, in welchem die Moderne nunmehr positiv gesehen wurde, als der Höhepunkt der Wissenschaften und der Künste.
4.0 Die deutsche Querelle
Erst hundert Jahre nach der französischen Querelle des anciens et des modernes findet die Auseinandersetzung in Deutschland statt.
Während die französische Klassik schon längst die absolute Verschiedenheit von Antike und Modernen erfasst und historisiert hatte, steht die deutsche Klassik noch immer vor diesem Dilemma. Die antike Kunst galt in Deutschland noch immer als ideale vollkommene nachahmenswerte Kunst.
Die gesellschaftlichen Strukturen verändern sich in der Zeit der Romantik in Deutschland gravierend. Das Lehnswesen wurde aufgelöst, das Ständesystem verändert sich, aufgrund der Funktionspluralität gab es keine bestehende klare Aufgabenverteilung mehr. Wo bislang eine Einheit von Kirche und Staat bestand, wurde im Zuge der Humanismusbewegung und seiner Renaissance in der Aufklärung nun zwischen Gesellschaft und Religion unterschieden. Die Kirche verlor an Einfluss und Stellenwert, 1789 wurden Kirchen enteignet, 1803 die kirchlichen Güter in Deutschland an weltliche Organisationen vergeben, religiöse Entscheide privatisiert. Durch die Entmachtung der Kirchen und Funktionsverlust der Religion herrschten Verwirrung, Unsicherheit und Desorientierung vor. Die Gründe der Existenz in der Realität waren nicht mehr ausreichend. Die Romantiker flüchteten sich in den Pool der Möglichkeiten, ins Unendliche der Reflexionen und Phantasien. Die rationale Durchdringung der Welt wurde als Feindin der Poesie erkannt, man wandte sich gegen alles Normative und Rationale. In Übersteigerung des aufklärerischen Gedankenguts, was letztlich zu einer gegenaufklärerischen Haltung führte, wurde die moderne romantische Kunst zur subjektiven Kunst und persönlicher Ressource als Bollwerk gegen den Verlust gesellschaftlicher Sicherheit.
Mit dem Wandel der Kunst von der objektiven zur subjektiven Kunst wurde auch in Deutschland die Diskussion um das Vorrecht antiker imitierende oder moderner innovativer Kunst eröffnet.
4.1 Die Fragen der Querelle:
(1) Wie ist die Verschiedenheit antiker und moderne Poesie zu bestimmen, wenn sie in ihrem historischem Kontext betracht wird und nicht als einseitig abstrahierter Begriff der Poesie aus ihrem Kontext gelöst wird?
(2) Wenn man derart verschiedene und historisch soweit voneinander entfernte Dinge objektiv betrachten will, gibt es dann, neben dem hinfällig gewordenen Begriff des antiken Zeitlosen und interesselosen Schönen, einen höheren gemeinschaftlichen Begriff, eine objektive Philosophie der Kunst, ein höheres Wesen der Kunst, das erlaubt eine Kunst gesondert zu betrachten und Aussagen über ihre Qualität zu und individuelle Vollkommenheit in der übergeordneten Einheit zu machen?
(3) Wenn die Sichtweise auf die Antike in ein neues Verhältnis zur Gegenwart gerückt wird, wie wird dieses neue Bild der Antike in das aufklärerische, romantische Geschichtsbild eingefügt?
(4) Wie ist das eigene Existenzrecht der beiden Epochen mit der Theorie der Perfektibilität (Vollkommenheit der antiken Kunst) und Kants Satz der Vernunft, mit der notwendigen und unendlichen Vervollkommnung der Menschheit zu verbinden?
4.2 Die Vertreter der deutschen Querelle
Die Vertreter der deutschen Querelle des Anciens et des Modernes waren neben Goehte, Winkelmann und vielen anderen vor allem Schlegel, Schiller und Herder. Fast zeitgleich aber unabhängig voneinander entstanden, erscheinen 1795 Schlegels Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie“ und 1796 Schillers Abhandlung „Über sentimentale und naive Dichtung“. Die Ähnlichkeit beider Schriften lässt sich durch das gemeinsame Erbe der Aufklärung und allgemeinen literarischen epochalen Strömungen erklärt werden.
Alle Schriften greifen die Fragen des Querelles auf und suchen nach einer Lösung des Dilemmas zwischen moderni und antiqui. Ob sie die Fragen der Querelle beantwortet haben, möchte ich dahingestellt lassen.
4.2.1 Herders Briefe „Zur Beförderung der Humanität“
Herders Briefe „Zur Beförderung der Humanität“[5] erschienen 1796 und sind zeitlich zwischen Herders Aufsatz und Schillers Abhandlung erschienen.
Herder fällt es schwer den Rangstreit moderner und antiker Kunst zu beantworten, die Unterschiede herauszuarbeiten „und dabei jeder Nation und Zeit ihr Recht widerfahren zu lassen“, wo „diese schöne Blume der Humanität, Poesie in Denkart, Sitten und Sprache […] überall und allezeit gleich glücklich“ blühe (S. 441). Ihre Blüte sei abhängig von Parametern wie Witterung, Bodenqualität und Pflege. Herder sucht nach diesen Parametern ihrer Veränderung, einem Gesetz für den Fortgang der Kultur, nach einem Gesetz historischer Kontinuität, nach dem sich Kunst fortwährend verändert und entwickelt.
Das zentrale Argument in Herders Briefen ist der Begriff der Humanität.
Herder richtete sich zwar gegen die platonische Ideenwelt, geht aber auch von der Vorstellung aus, daß die göttliche Anlage der Humanität dem Menschengeschlecht angeboren sei und ausgebildet werden müsse. Die Duplizität des menschlichen Wesens führe zum immerwährenden Kampf um Humanität. Die Gottähnlichkeit des Menschen finde Ausdruck in der Bildung, stehe aber in beständigem Widerstreit mit dem Rohen Tierischen des menschlichen Geschlechts. Wie unter den Tieren gebe es auch unter den Menschen zerstörende und erhaltene Gattungen, gegen diese Duplizität und kontrahierenden Triebe habe der Mensch in seinem Streben nach Perfektibilität und Humanität zu kämpfen und diese zu überwinden. Aus diesem Grunde verneint Herder generell die Vollkommenheit der Kunst, weil Kunst von zwitterhaften Individuen geschaffen ist, die ihrerseits unvollkommen seien. Die Unvollkommenheit des Schöpfers von Kunst determiniere die Schönheit und Vollkommenheit der Kunst. Somit wird die Frage nach ästhetisch kritischen Urteilen und der Vergleichbarkeit der Epochen hinfällig.
Herder geht davon aus, daß jedes Volk eine genetische Disposition zu einem ganz eigenen Volksgeist besitze. Jede Nation habe also ihren individuellen Nationalcharakter und somit auch einen ganz individuellen Charakter der Poesie. Jede Nation unterliege außerdem ihrem eigenen geschichtlichen Zyklus, ihrer Jugend, Blüte und ihrem Verfall. So spricht Herder jeder Nation und jeder Epoche ihr Eigenrecht zu und so könne Kunst ohnehin nur an Ort und Stelle gewürdigt werden.
Er geht nicht von einem Gesamtzyklus aus, sondern vielmehr von vielen Teilzyklen einzelner Nationen. Alle einzelnen Nationen sind aber wiederum auch Teil der gesamten Menschheit. Der Geist der Zeit, die Weltseele sei aber nicht gleichzusetzen mit der Mode, die wie der Schall der Äolsharfe flüchtig verklingt, sondern der Geist der Zeit ist naturgegeben und „der menschlichen Natur einwohnend“ (S. 86). Dieser Geist ist der Geist der Humanität und strebt danach, „ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestalt und Ordnung“ zu bringen (S. 87). Der menschliche Verstand sei wie eine große Weltseele (Humanität), er fülle alle Gefäße, die sie aufnehmen wollen. Diese Gefäße sind sinnbildlich als die einzelnen Nationen zu verstehen, die alle einen Teil der Weltseele aufnehmen und in ihrer Nation ausbilden. So gibt es auch kein einzig von Gott auserwähltes Volk. Aber aus dem humanistischen Streben nach Gesamtheit und Perfektibilität heraus könne es zur Synthese der nationalen Teilzyklen kommen, um zur Gesamtheit der Weltseele zu gelangen. Herders Idealvorstellung ist eine Gemeinschaft der Freunde der Humanität, „Elemente und Nationen kommen in Verbindung […] und es entsteht endlich eine gemeinschaftliche Produktion mehrer Völker“ (S. 127). Die Humanität ist „ein Bau, der fortgeführt werden soll, […] er erstreckt sich über alle Jahrhunderte und Nationen; wie physisch, so ist auch moralisch und politisch die Menschheit im ewigen Fortgange und Streben“ (S. 131).
Er fragt kritisch, ob die „Idee von einer fortgehenden […] Vervollkommnung des Menschengeschlechts nicht ein bloßer Traum“ sei, denn der Menschenfreund „Prometheus wußte seinen armen Kranken (den Menschen) kein anderes Hilfsmittel zu geben, als die täuschende blinde Hoffnung“ (S. 121).
Weiter fragt Herder, wie die Vollkommenheit zu erreichen sei. „Die Linie dahin, ist sie eine Asymptote? eine Ellipse? eine Zykloide? oder welch eine andere Kurve?“ (S. 121).
Die Vollkommenheit des Einzelnen wie auch der gesamten Menschheit sei, daß er „im Kontinuum seiner Existenz Er selbst sei und werde“, seine angeborenen Kräfte ausbilde, zur Erhaltung des Lebens und Gesundheit (S. 124).
Durch stetige Übung verfeinerten sich diese naturgegebenen Kräfte, alles würde „künstlicher, geschickter, feiner“ (S. 125). Die Natur des Menschen sei die Kunst und die Kunst sei ihrerseits das höchste Ziel der Humanität und die höchste Verfeinerung seiner Kräfte. „Die Perfektibilität ist also keine Täuschung, sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung alles dessen, was der Charakter unseres Geschlechts Humanität verlanget und gewähret“ (S. 131). Die Linie des Fortganges sei aber keine einförmige, sondern verliefe „in allen möglichen Wendungen und Willkür“ (S. 126).
Das Gesetz der historischen Kontinuität sieht Herder folglich in dem Ideal der verwirklichten Humanität. Unabhängig von den individuellen nationalen Teilzyklen und unterschiedlichen Nationalcharakteren entwickele sich die Menschheit auf das Ziel des Humanismus zu, dem Idealbild der Menschheit durch die freie Entfaltung der Persönlichkeit und Bildung.
[...]
[1] Basis-Überbau-Modell (sozialgeschichtlicher Ansatz): Die Basis des sozial-ästhetischen Gebäudes ist der Staat, ist die Gesellschaft. Den Überbau stellen die Künste, die auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. Literatur ist ein Überbauphänomen, gesellschafts- und ideologiekritische Instanz. Beide Systeme, Basis als auch Überbau sind strukturell offen, zwischen ihnen bestehen notwendige dialektische Wechselbeziehungen.
[2] Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1970, S. 14
[3] Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1970, S. 14
[4] Pago, Thomas: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, S. 2
[5] Irmscher, Hans Dietrich (Hrsg.): Johann Gottfried Herder – Werke, Bnd. 7, Briefe zur Beförderung der Humanität, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1991
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