Hermann Bahr engagierte sich zunächst als Verfechter des Naturalismus, proklamierte jedoch später in seinem Aufsatz "Zur Überwindung des Naturalismus" dessen Überwindung. In der Folgezeit wurde er für die Literaten der Wiener Moderne zu einem wichtigen Ort der Information und der Orientierung. Bahrs Essay "Die neue Psychologie" (1890 wird in der vorliegenden Arbeit in Bezug gesetzt zu Arthur Schnitzlers Erzählung "Fräulein Else", um so Erkenntnisse über das Verhältnis von narrativer Theorie und Praxis in der Wiener Moderne zu erlangen. Analysiert werden soll, inwiefern die von Hermann Bahr in dem eben genannten Aufsatz erhobene Forderung nach einer neuen Methode des Erzählens Niederschlag in Schnitzlers "Fräulein Else" findet, in welchen Punkten der hier verwendete vollständige innere Monolog einem „dekompositiven“ Vorgehen in der Literatur entspricht bzw. wo sich Differenzen feststellen lassen.
Inhalt
Einleitung
Hauptteil
I. Bahrs Essay Die neue Psychologie
II. Schnitzlers Erzählung Fräulein Else – dekompositiv im Sinne Bahrs?
Schluss
Literatur
Einleitung
Hermann Bahr engagierte sich zunächst als Verfechter des Naturalismus, proklamierte jedoch später in seinem Aufsatz Zur Überwindung des Naturalismus in der gleichnamigen, 1891 erschienenen Essaysammlung dessen Überwindung. In der Folgezeit wurde er für die Literaten der Wiener Moderne zu einem wichtigen Ort der Information und der Orientierung.[1] Dagmar Lorenz vertritt die Auffassung, dass die Katalysatoren-Funktion von Bahrs literaturkritischen Arbeiten für das Selbstbewusstsein der Wiener Moderne kaum überschätzt werden kann.[2] Iris Paetzke betont, dass die herausragende Leistung Bahrs nicht nur darin zu sehen ist, die Wiener Schriftsteller mit den neusten Tendenzen in der Literatur bekannt gemacht zu haben. Die Bedeutung seiner Essays sieht sie in der „Reflexion auf die notwendige Vermittlung von neuen Inhalten mit neu zu entwickelnden Verfahren und die an einzelnen Aufsätzen zu beobachtende Entfaltung eines dialektischen Verhältnisses zu Literatur und Theorie des Naturalismus, anstelle bloß polemischer Ablehnung, [...] weil sie zu innovativen Erkenntnissen über die Erzählkunst führen.“[3] Beide genannten Aspekte sind in Bahrs Essay Die neue Psychologie von 1890 zu finden. Dieser Aufsatz wird in der vorliegenden Hausarbeit in Bezug gesetzt zu Schnitzlers Erzählung Fräulein Else, um so Erkenntnisse über das Verhältnis von narrativer Theorie und Praxis in der Wiener Moderne zu erlangen. Analysiert werden soll, inwiefern die von Hermann Bahr in dem eben genannten Aufsatz erhobene Forderung nach einer neuen Methode des Erzählens Niederschlag in Schnitzlers Fräulein Else findet, in welchen Punkten der hier verwendete vollständige innere Monolog einem „dekompositiven“[4] Vorgehen in der Literatur entspricht bzw. wo sich Differenzen feststellen lassen. Allerdings kann im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden, ob mögliche erzähltechnische Übereinstimmungen zwischen narrativer Theorie und Praxis wirklich als Umsetzung der bahrschen Postulate durch Schnitzler zu sehen sind. Als problematisch ist sicherlich auch der große zeitliche Abstand zwischen der Entstehung des Essays (1890) und der Erzählung (1924) anzusehen.
Hinsichtlich des Forschungsstandes ist mir keine Literatur bekannt, die detailliert Bezüge zwischen theoretischen Schriften Bahrs und Werken Schnitzlers aufzuzeigen sucht. In der beim Verfassen der vorliegenden Arbeit verwendeten Literatur wird vor allem der Frage nachgegangen, welche genaue Ausprägung des personalen Erzählens der von Bahr intendierten Methode entspricht und ob es ihm selbst gelungen ist, diese in seinen literarischen Werken zu realisieren. Einen Bezug zwischen dem Essay Die neue Psychologie und Schnitzler stellt Michael Worbs her, indem er die Auffassung vertritt, die narrative Methode, für die Bahr in seinem Essay plädiert, sei erst zehn Jahre später durch Schnitzler in Form des vollständigen inneren Monologs des Leutnant Gustl (1900) in die deutsche Literatur eingeführt worden.[5] Allerdings bin ich der Ansicht, dass hier weniger pauschal argumentiert werden sollte: Auch wenn die Technik des inneren Monologs es erlaubt, das tiefste Innere der Perspektivfigur sprachlich wiederzugeben, ohne dass ein Erzähler zwischen der literarischen Figur und dem Leser vermittelnd eingreift, finden sich sicherlich auch in vollständigen Monologerzählungen wie Fräulein Else Elemente, die Bahrs Postulat eines dekompositiven Vorgehens zuwiderlaufen. In der vorliegenden Arbeit soll zunächst Bahrs Essay Die neue Psychologie vorgestellt werden, um dann auf dieser Grundlage im zweiten Kapitel eine solche differenzierte Analyse des inneren Monologs in Fräulein Else vorzunehmen.
Hauptteil
I. Hermann Bahr und die neue Psychologie
In seinem Essay Die neue Psychologie versucht Hermann Bahr eine Bestimmung der sogenannten neuen Psychologie, einer modernen literarischen Strömung, von der er sagt, die Weltliteratur sei im Begriff, sich ihr zuzuwenden (NP, 97). Verknüpft mit dem Ruf nach dieser neuen Psychologie sind seiner Auffassung nach die Forderungen nach einer generellen Psychologisierung der Literatur, nach neuen Themen und einer neuen Methode des Erzählens (NP, 93). Diese neue narrative Methode, die „durch den Naturalismus gegangen ist und seine Verfahren in sich trägt“ (NP, 95), bestimmt Bahr als „deterministisch“, „dialektisch“ und „dekompositiv“ (NP, 95).
Das erstgenannte Adjektiv „deterministisch“ bezieht sich in positiver Weise auf den Naturalismus: Anders als in der alten Psychologie sollen die Menschen als von ihrer Umwelt determiniert gezeigt werden, nicht „frei in der Luft, man weiß nicht woher, warum, wohin“ (NP, 95). In Bahrs Worten: „Wir müssen die naturalistische Schablone, aber das Milieu können wir nimmermehr verlassen“ (NP, 95).
Des Weiteren soll bei der Darstellung der Gefühle „dialektisch“ verfahren werden, was meint, dass diese „nicht bloß im Zusammenhange auseinander“ erfasst werden müssen, sondern „auch in der Bewegung ineinander, durcheinander, gegeneinander [..], in dem ewigen Werden und Vergehen des einen aus dem anderen und in’s andere“ (NP, 95).
Unter dem für Bahr entscheidenden Begriff „dekompositiv“ wird das Absondern aller „Zusätze, Nachschriften und [..] Umarbeitungen des Bewußtseins“ und die Rückführung der Gefühle „auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewußtsein“ gefasst (NP, 95). Die Notwendigkeit dieses dekompositiven Verfahrens begründet Bahr damit, dass das Bewusstsein nur einen „Auszug“ der „kräftigsten und gewichtigsten“ (NP, 96) Gefühle aus der Menge der vor der Umarbeitung durch das Bewusstsein vorhandenen Gefühle fasst, und auch diese nur „zusammengedrückt, verwischt [und] entstellt“ (NP, 96).[6] Diese Reduktion sei zwar für den Menschen sinnvoll, um im alltäglichen Leben nicht von einer nicht mehr zu verarbeitenden Übermenge an Reizen überflutet zu werden (NP, 96)[7] ; anders als die alte Psychologie, die ausschließlich diesen „Resultate[n] der Gefühle“ (NP, 96) nachgegangen sei, müsse die Aufgabe der neuen Psychologie, „welche die Wahrheit des Gefühles will“ (NP, 96), aber darin liegen, die „Vorbereitung der Gefühle“ (NP, 96) zu erfassen, „das Gefühl auf den Nerven auf[zu]suchen“ (NP, 96). Bahr fasst dies in folgende Worte: „Die Psychologie wird aus dem Verstande in die Nerven verlegt – das ist der ganze Witz“ (NP, 96). Wichtig ist ihm, dass die neue Methode des Erzählens zur „Objektivierung der inneren Seelenstände“ (NP, 98), nicht nur der äußeren Sachenstände führt. Der Erzähler soll gleich einem „Protokollführer“ (NP, 100) die Ereignisse in den Seelen zeigen, anstatt von ihnen zu berichten (NP, 98).[8] [9]
Bahr vertritt die Auffassung, dass keine der tradierten Formen des Erzählens der von ihm postulierten Aufgabe des modernen Schriftstellers gerecht werden könne, die Entstehung und Entwicklung psychischer Prozesse ungefiltert durch alle Verstandestätigkeit zu zeigen, ohne in seinem Essay jedoch selbst genau angeben zu können, wie die neue Methode sich in der literarischen Praxis zu gestalten habe. Er verwirft die auktoriale Erzählsituation, da die Kunst seiner Auffassung nach auf die Rezipienten keine Wirkung ausüben kann, wenn nicht der „Schein eines unmittelbaren Verhältnisses zwischen uns und ihren Dingen“ besteht, „welcher durch keine Dazwischenkunft des Künstlers jemals gestört werden darf“ (NP, 98). Bahr argumentiert, dass ein auktorialer Erzähler von der Entwicklung des Protagonisten nur „commentatorisch [..] zu berichten“ (NP, 101) vermag, aber nicht in der Lage ist, sie „künstlerisch zu zeigen“ (NP, 101). Demgemäß fordert Bahr, die naturalistische Verborgenheit des Künstlers zu wahren und wendet sich gegen Verfahren des auktorialen Erzählens wie „Zwischenreden, Behauptungen, Erklärungen“ (NP, 98).
Die nächstliegende Methode zur „Objectivierung der inneren Seelenstände“ (NP, 98) sieht Bahr in der „Ich-Form“, bei der die an der auktorialen Erzählsituation beanstandete „Dazwischenkunft des Künstlers“ eliminiert ist (NP, 98). Er vertritt die Auffassung, dass „was über eine Seele ausgesagt wird, [..] uns nicht [bewirkt]; [daß] aber den Bekenntnissen, welche eine Seele von sich selbst aussagt, [..] unser Vertrauen geneigt [ist]“ (NP, 98). Allerdings muss er auch diese Erzählform als der neuen Psychologie nicht adäquat verwerfen, da hierbei ein erzählendes Ich aus der Retrospektive distanziert über ein erlebendes Ich berichtet, und so die vorbewussten psychischen Erscheinungen nicht darstellbar sind (NP, 98 f.). Analog dem auktorialen Erzähler kann also auch der Ich-Erzähler von dem Vorgang nur berichten, ihn aber nicht zeigen, und so werden die tatsächlichen Vorgänge in den „Finsternissen der Seele“ (NP, 95) durch das selektierend und abstrahierend eingreifende Bewusstsein verfälscht dargestellt.
[...]
[1] Vgl. hierzu Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 1998, 86 ff.
In dieser wie auch in späteren Revidierungen literaturtheoretischer Positionen zugunsten modernerer wird Bahrs unbedingte Suche nach ästhetischer Innovation deutlich, von Maximilian Harden in die Formulierung gefasst, Bahr hätte „immer in der Zukunft [ge]lebt, in der Temperatur des übernächsten Tages“ (Hermann Bahr, Das junge Österreich. In: Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902. Ausgewählt, eingeleitet und hrsg. von Gotthart Wunberg. Bd. 1: 1887-1896. Tübingen 1976, 363-378, hier 377.).
[2] Vgl. hierzu Dagmar Lorenz, Wiener Moderne. Stuttgart, Weimar 1995, 37.
[3] Iris Paetzke, Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992, 17.
[4] Hermann Bahr, Die neue Psychologie. In: Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902. Ausgewählt, eingeleitet und hrsg. von Gotthart Wunberg. Bd. 1: 1887-1896. Tübingen 1976, 92-101, hier 95. Im Folgenden wird das Essay abgekürzt mit der Sigle NP.
[5] Vgl. hierzu Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1988, 83.
[6] Bahr veranschaulicht diese Simplifizierung der Gefühle durch das Bewusstsein an folgendem Beispiel: Ein junger Mann, der gerade seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hat, wird nach seinen Gefühlen gefragt. Er antwortet „Ich bin glücklich und mir ist froh“. Bahr dazu: „Was nämlich der Pinsel das ‚Glück’ heißt, tout simplement, als ob durch diesen mystischen Titel sein ganzes Wesen erschöpft sei, das ist in Wahrheit ein compliciertes Resultat auf seinen Nerven aus unzähligen Factoren.“ (NP, 100 f.).
[7] In Bahrs Worten: „Wir würden ja verrückt, wenn die unzähligen Depeschen, welche unablässig die Umwelt auf den Sinnen, auf den Nerven mit diesem polternden Ungestüm hämmert, allsogleich an den Geist berichten würde. Er kann jeweilig nur einen Auszug, eine summarische Notiz, ein flüchtiges Croquis ihrer Situation vertragen“ (NP, 96).
[8] Nach Rieckmann versteht Bahr das „Zeigen“ als „Modus der Darstellung, in welcher der unpersönliche Erzähler die Innenperspektive der Reflektorfigur teilt“. Vgl. hierzu Jens Rieckmann, Hermann Bahr: Sprachskepsis und neue Erzählformen. In: Orbis litterarum 40 (1985), 78-87, hier 85.
[9] Das Korrelat zu dieser intendierten Methode des Erzählens fand Bahr in der impressionistischen Technik der Malerei. Der impressionistische Maler versucht, „die Verwirrung gerade des ersten Blickes [zu] erhaschen, bevor er noch vom Bewußtsein gemodelt und verknetet ist“, und diesen Eindruck künstlerisch zu gestalten (NP, 96).
- Arbeit zitieren
- Judith Blum (Autor:in), 2002, Narrative Theorie und Praxis in der Wiener Moderne - Hermann Bahrs Essay 'Die neue Psychologie' und Arthur Schnitzlers Erzählung 'Fräulein Else', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25289
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