Erlebnis und Abenteuer haben Konjunktur: Ob im Erlebnisrestaurant, im Erlebnisbad, als Abenteuerurlaub oder als überlebensgroßes Plakat einer Zigarettenwerbung - Erlebnis und Abenteuer begegnen uns überall und erscheinen äußerst werbewirksam. In unserer durchorganisierten Gesellschaft existiert offenbar eine Sucht nach dem Außergewöhnlichen und Extremen. Das unbestreitbare Erlebnisdefizit wird von Industrie und Reiseunternehmen aufgenommen und kommerziell ausgenutzt. Ist dieser Erlebnishunger als Modeerscheinung oder als menschliches Bedürfnis zu verstehen? Erlebnispädagogik - auf der Höhe der Zeit? Ein Trend, der wie jeder Trend auftaucht, in Vergessenheit gerät, wiederentdeckt wird und früher oder später wieder verschwindet, so wie jede Mode, jede Musik- oder Kunstrichtung? Oder ist Erlebnispädagogik ein ernstzunehmender pädagogischer Ansatz, bei dem Grundbedürfnisse des Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht befriedigt werden, erkannt werden und bei dem versucht wird, sie zu erfüllen?
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfolgt in dieser Arbeit aus religionspädagogischer Sicht. Die Teildisziplinen der allgemeinen Pädagogik - Religionspädagogik, Sozialpädagogik, Erlebnispädagogik ... - bedingen und beeinflussen sich wechselseitig. Wenn Erlebnispädagogik nicht nur als Trend zu verstehen ist, bleibt zu untersuchen, welche ihrer Methoden in der Religionspädagogik zum Einsatz kommen können.
Inhaltsverzeichnis
0 Vorwort
1 Erlebnispädagogik als Teildisziplin der Pädagogik
1.1 Ziele und Grundsätze
1.2 Situation der Adressaten
1.2.1 Jugendsituation
1.2.1.1 Wertewandel
1.2.1.2 Perspektivwandel
1.2.1.3 Vorbilder
1.2.1.4 Schule
1.2.1.5 Räume
1.2.1.6 Konsum
1.2.1.7 Ersatzrealitäten
1.2.1.8 Defizite
1.2.2 Kindersituation
1.2.2.1 Räume
1.2.2.2 Schule
1.2.2.3 Vorbilder
1.2.2.4 Konsum
1.2.2.5 Medien
1.2.2.6 Defizite
1.3 Zusammenfassung
1.4 Die geschichtliche Wurzel der Erlebnispädagogik
1.5 Begriffsklärung
1.5.1 Die Herausbildung der Kategorie Erlebnis
1.5.2 Erlebnis und Pädagogik
1.6 Kritische Zusammenfassung
1.6.1 Ausgleich von Defiziten
1.6.2 Transfer
1.6.3 Erlebnispädagogik und Kinder
1.6.4 Geschlechtsspezifische Erlebnispädagogik
1.6.5 Erlebnispädagogik und Schule
1.6.6 Erlebnis oder Pädagogik?
1.6.7 (Sozial)-Pädagogische Projekte oder Freizeitgestaltung?
1.7 Definition
2 Religionspädagogik und Erlebnispädagogik
2.1 Ziele und Grundsätze der Religionspädagogik
2.2 Untersuchung religionspädagogischer Konzepte im Hinblick auf erlebnispädagogische Anteile anhand von vier Beispielen
2.2.1 Niebergalls (1866-1932) kirchliche Gemeindeerziehung als Konzept evangelischer Erziehung
2.2.2 Kabischs (1868-1914) Unterricht in evangelischer Religion als Konzept evangelischer Erziehung
2.2.3 Kritik an Niebergall und Kabisch
2.2.4 D. Zilleßen: „Glaube und Erfahrung“
2.2.5 P. Biehl: „Erfahrung als hermeneutische, theologische und religionspädagogische Kategorie“
2.2.6 Zusammenfassung
2.3 Situation
2.3.1 Allgemeines
2.3.2 Kinderarbeit
2.3.3 Religionsunterricht
2.3.4 Jugendarbeit
2.4 Thesen für den Einsatz von Erlebnispädagogik in der Religionspädagogik
3 Erlebnispädagogik in den Arbeitsbereichen der Religions-pädagogik
3.1 Kinderarbeit
3.2 Jugendarbeit
3.3 Pfadfinderarbeit
3.3.1 Der geschichtliche Ursprung
3.3.1.1 Parallelen zwischen Baden-Powell und den Reformpädagogen,
insbesondere Kurt Hahn (siehe 2.4)
3.3.2 Das pädagogische Konzept oder die Pfadfindermethode
3.3.2.1 Ziel der Pfadfinderarbeit
3.3.2.2 Die wichtigsten pädagogischen Methoden
3.3.3 Pfadfinderarbeit als Gemeindearbeit
3.3.4 Zusammenfassung
3.4 Religionsunterricht
4 Nachwort
5 Literaturverzeichnis
0 Vorwort
Erlebnis und Abenteuer haben Konjunktur: Ob im Erlebnisrestaurant, im Erlebnisbad, als Abenteuerurlaub oder als überlebensgroßes Plakat einer Zigarettenwerbung - Erlebnis und Abenteuer begegnen uns überall und erscheinen äußerst werbewirksam. In unserer durchorganisierten Gesellschaft existiert offenbar eine Sucht nach dem Außergewöhnlichen und Extremen. Das unbestreitbare Erlebnisdefizit wird von Industrie und Reiseunternehmen aufgenommen und kommerziell ausgenutzt. Ist dieser Erlebnishunger als Modeerscheinung oder als menschliches Bedürfnis zu verstehen? Erlebnispädagogik - auf der Höhe der Zeit? Ein Trend, der wie jeder Trend auftaucht, in Vergessenheit gerät, wiederentdeckt wird und früher oder später wieder verschwindet, so wie jede Mode, jede Musik- oder Kunstrichtung? Oder ist Erlebnispädagogik ein ernstzunehmender pädagogischer Ansatz, bei dem Grundbedürfnisse des Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht befriedigt werden, erkannt werden und bei dem versucht wird, sie zu erfüllen?
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfolgt in dieser Arbeit aus religionspädagogischer Sicht. Die Teildisziplinen der allgemeinen Pädagogik - Religionspädagogik, Sozialpädagogik, Erlebnispädagogik ... - bedingen und beeinflussen sich wechselseitig. Wenn Erlebnispädagogik nicht nur als Trend zu verstehen ist, bleibt zu untersuchen, welche ihrer Methoden in der Religionspädagogik zum Einsatz kommen können.
Hierzu werden sowohl theoretische Überlegungen (Teil 1 & 2), als auch praktische Anregungen (Teil 3) geboten.
Im ersten Teil werde ich untersuchen, was Erlebnispädagogik leisten will, und was sie wirklich leisten kann. Dazu werde ich zuerst ihre Ziele und ihre allgemeinen Methoden beschreiben. Ich untersuche Erlebnispädagogik dabei als allgemeines Phänomen, da sich die Zielsetzungen und Wirkungsweisen in den einzelnen Formen der Erlebnispädagogik ähneln. Danach erforsche ich die Situation ihrer Adressaten, um herauszufinden, ob sich die Zielsetzungen an den Bedürfnissen der Adressaten orientieren, und ob der Adressatenkreis durch ihre Zielsetzung gerechtfertigt ist. Als nächstes werde ich die Wurzel der Erlebnispädagogik, die in der Reformpädagogik zu suchen ist, beschreiben. Erstens, um deutlich zu machen, welchen Einfluß diese Wurzel auf das heutige Erscheinungsbild der Erlebnispädagogik hat und zweitens, um aufzuzeigen, welche Herausforderungen an die Erlebnispädagogik von heute damit verbunden sind. Anhand der Untersuchung des Begriffs und der Kategorie Erlebnis will ich anschließend deutlich machen, welche Erwartungen an eine Pädagogik, die mit Erlebnissen arbeitet, gerechtfertigt sind. Hier werden Grenzen der Erlebnispädagogik deutlich. Nach der folgenden Zusammenfassung will ich schließlich eine eigene Definition aufstellen, die mein Verständnis von einer Pädagogik des Erlebens deutlich macht und die eine Integration von Erlebnispädagogik in alle Bereiche der Religionspädagogik ermöglicht.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Erlebnispädagogik zu Religions-pädagogik. Dazu werde ich zunächst -analog zum ersten Teil - die Ziele und Grundsätze der Religionspädagogik beschreiben. Daran schließt sich die Untersuchung einiger religionspädagogischer Konzepte. Ich möchte damit aufzeigen, an welchen Stellen bereits Berührungspunkte zwischen Erlebnispädagogik und Religionspädagogik vorhanden sind, und durch welche Erkenntnisse innerhalb der Konzepte, erlebnispädagogische Elemente und Methoden zum Einsatz kommen können. Als nächstes möchte ich eine Situationsanalyse der Religionspädagogik vornehmen, vorerst allgemein, dann in den einzelnen Arbeitsbereichen der Religionspädagogik. Hier soll aufgezeigt werden, ob durch die Situation der Einsatz erlebnispädagogischer Methoden gerechtfertigt oder sogar gefordert ist. Als Arbeitsbereiche der Religionspädagogik werden Kinder- und Jugendarbeit und Religionsunterricht beschrieben (so auch im dritten Teil)[1]. Der zweite Teil schließt mit Thesen zum möglichen Einsatz der Erlebnispädagogik in der Religionspädagogik.
Der dritte Teil ist praktisch orientiert. Es werden für die einzelnen Arbeitsbereiche Beispiele genannt, die deutlich machen sollen, was die Integration der Erlebnispädagogik bedeutet. Dabei stellt der Teil zum Thema Pfadfinderarbeit einen Exkurs dar. Im Rahmen meines Gemeindepraktikums lernte ich Pfadfinderarbeit kennen, die in die Gemeindearbeit integriert war. Pfadfinderarbeit begegnete mir hierbei als eine Möglichkeit, verschiedenste pädagogische Methoden (so auch erlebnispädagogische) und Elemente miteinander zu verbinden, die bei Kindern und Jugendlichen große Begeisterung und Engagement fanden. Ich werde in diesem Teil den geschichtlichen Ursprung untersuchen, und Parallelen zwischen der Entstehung der Erlebnispädagogik und der Pfadfinderbewegung aufzeigen. Danach werde ich das pädagogische Konzept der Pfadfinderarbeit beschreiben, wobei deutlich wird, daß Erlebnispädagogik darin einen hohen Stellenwert einnimmt. In meinem Gemeindepraktikum lernte ich die Arbeit des Verbandes Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) kennen, somit beziehen sich die Aussagen dieses Teiles hauptsächlich auf die Arbeit dieses Pfadfinderverbandes.
Bedanken möchte ich mich in erster Linie bei meiner Freundin Dietlind Muschick, die immer ein offenes Ohr für mich hatte und mir manchen Ratschlag gab. Drüber hinaus hat sie große Teile der Arbeit Korrektur gelesen. Danken möchte ich auch Christoph Wolf, der diese Arbeit als Mentor begleitet hat. Außerdem geht mein Dank an Prof. Dr. phil. Jörg Ziegenspeck und das Institut für Erlebnispädagogik e.V. in Lüneburg, die mir freundlicherweise Material zur Verfügung stellten. Mein Dank richtet sich auch an Thomas Mühlig, meinen Mentor während des Gemeindepraktikums, für die Bereitstellung des Materials über die Pfadfinderarbeit.
1 Erlebnispädagogik als Teildisziplin der Pädagogik
1.1 Ziele und Grundsätze
„Erlebnispädagogik will wirkungsvoll helfen, wo andere Hilfen versagen bzw. besondere Hilfestellungen erforderlich sind.“[2] Dabei benutzt die Erlebnispädagogik verschiedene Medien und Methoden. Das Spektrum erlebnispädagogischer Aktionen ist sehr breit gefächert. Alle möglichen Formen aufzuführen und zu beschreiben, ist in dieser Arbeit nicht möglich und wäre auch nicht sinnvoll. Es soll vielmehr darum gehen, das Wesentliche, das, den erlebnispädagogischen Aktionen Gemeinsame, herauszufinden.
Erlebnispädagogik erhebt für sich den Anspruch des ganzheitlichen Lernens. Das bedeutet, es sollen Erlebnisse aus erster Hand ermöglicht werden. Diese Erlebnisse wirken einmal für sich selbst und werden zum anderen mit dem Pädagogen zusammen reflektiert. Durch die selbst erworbenen Erfahrungen und die Reflexion sollen Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die evtl. dazu führen, bestehende Werte und Normen, Denk- und Handlungsweisen zu überprüfen und ggf. zu ändern. Die Erlebnispädagogik schafft also die Voraussetzungen (Ort, Gruppe, Ausrüstung...), begleitet den Prozeß, reflektiert und wertet aus (bzw. ‘verwertet’). Das Erlebnis selbst ist für die Pädagogen nicht greifbar (siehe 2.5).
Diese Beschreibung ist sehr allgemein, aber sie spielt bei allen Formen von Erlebnispädagogik die tragende Rolle. Welche Auswahl an Medien und Methoden für eine konkrete erlebnispädagogische Aktion getroffen werden, hängt ab von:
- den konkreten Teilnehmern,
- den konkret definierten Zielen,
- dem/der Pädagogen/in,
- dem Zeitrahmen und
- den finanziellen und örtlichen Möglichkeiten.
Die Schwierigkeit gültige Grundlagen zu beschreiben, hängt mit der Definition von Erlebnispädagogik zusammen. Es gibt keine verbindliche Definition oder Beschreibung von Erlebnispädagogik. Unter diesem Begriff werden verschiedene Programme und Konzeptionen geführt. Dabei wird Erlebnispädagogik verschieden dargestellt. Es gibt also keine Beschreibung, die auf alle unter dem Namen laufenden Aktionen und Programme zutrifft. Es gibt lediglich einige Kriterien, die für die Erlebnispädagogik als allgemein bedeutsam dargestellt werden. So z.B. von dem Erziehungswissenschaftler Jürgen Funke:
„Die Arbeit muß
- Erlebnis und Erfahrung der Natur beinhalten;
- auf der Mitverantwortung jedes Teilnehmers für das Gelingen des Unternehmens beruhen;
- die Kenntnisse und das Handeln ausdrücklich lehren, die für das Bestehen des Unternehmens gebraucht werden;
- soziale Beziehungen aus der Unternehmung heraus stiften;
- sich an Jugendliche an der Schwelle des Erwachsenseins wenden;
- zum Personal nicht nur Pädagogen, sondern vor allem auch Fachleute der Sache (Seeleute, Bergsteiger u.ä.) zählen, die sich sachlich und nicht pädagogisch vermitteln;
- ein gewisses Risiko beinhalten, das nach bestem Wissen und Gewissen kontrolliert und begrenzt, aber nicht völlig ausgeschaltet werden kann;
- erzieherisch gemeint sein.“[3]
Diese Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig, aber es sollen ja auch nur wichtige Kriterien aufgestellt werden. Was bereits sichtbar wird, ist die Ausrichtung der Erlebnispädagogik auf
- Jugendliche,
- Gruppenpädagogik und
- (natur)sportliche Unternehmungen.
Dieser Eindruck bestätigt sich auch beim Blick in die Literatur. Hier werden als Erlebnispädagogik hauptsächlich Projekte wie Segeln, Bergwandern, Kanufahren, Klettern ... beschrieben.
Es geht darum, die Jugendlichen in Situationen zu führen, welche sie unmittelbar (heraus)fordern und sie zum Entscheiden und zum Handeln zwingen. Dies geschieht vorzugsweise in Gruppen, so, daß nicht nur das persönliche Engagement gefördert wird, sondern auch Kooperation und Teamfähigkeit. Durch das Zusammenleben in der Gruppe und die Anforderungen der Situation werden Gruppenprozesse schneller in Gang gebracht und Raum für soziales Lernen geschaffen.
Daraus folgt eine weitere Möglichkeit, Erlebnispädagogik allgemein zu beschreiben, die Lernfelder bzw. -ziele. Es geht bei Erlebnispädagogik um:
- „die Entwicklung individueller Persönlichkeitsmerkmale, wie Entwicklung von Eigeninitiative, Spontaneität, Kreativität, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Selbstbewußtsein, Selbstverantwortung, realistisches Selbstbild, Überprüfung von Wertesystemen etc.
- die Förderung sozialer Kompetenzen (Teamarbeit, Rücksichtnahme, Kommunikationsfähigkeit, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Konfliktbewältigung etc.) und
- das Wachsen eines systemischen, ökologischen Bewußtseins.“[4]
Mit der Aufstellung derartiger Kriterien und Lernziele wird einerseits der Versuch unternommen, Erlebnispädagogik zu beschreiben, andererseits wird sie damit eingeengt und auf überwiegend (natur)sportliche Aktionen festgelegt. Es gibt in letzter Zeit zunehmend Versuche, die Erlebnispädagogik nicht nur auf (natur)sportliche Unternehmungen zu beschränken, sondern auch andere Medien und Methoden einzuführen. Genauso gibt es Ansätze, die Arbeitsfelder der Erlebnispädagogik zu erweitern. Derzeit ist Erlebnispädagogik aber fast ausschließlich in der offenen und sozialen Jugendarbeit zu Hause. Sie wird als Alternative zu anderen, nicht mehr funktionierenden, Methoden betrachtet und ist damit einer hohen Erwartung, aber auch einem besonders kritischen Blick ausgesetzt. Sie soll Fehlentwicklungen und Defiziten der Jugend vorbeugen, also präventiv arbeiten und sie soll helfen, wo dies bereits nicht mehr möglich ist (Arbeit mit straffälligen Jugendlichen, Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen...), also intervenierend wirken. Ob Erlebnispädagogik mit ihren Ansätzen und Möglichkeiten dazu in der Lage ist, soll hier versucht werden zu beschreiben. Dazu ist es jedoch zunächst notwendig, sich die Situation der Jugend (und evtl. Fehlentwicklungen und Defizite) vor Augen zu führen.
1.2 Situation der Adressaten
1.2.1 Jugendsituation
Die Jugendzeit wird immer länger. Begann sie früher frühestens mit der Pubertät und endete spätestens mit dem Eintritt in das Berufsleben, so hat sie sich an beiden Grenzen ausgeweitet. Die heute 9-14 Jährigen lassen sich nur schwer einordnen, ein Großteil legt aber Verhaltensweisen an den Tag, die man allgemein der Jugendphase zuordnet. Die Verfrühung wird durch Medien und Konsum begünstigt, da selbst für Kinder Angebote erreichbar sind, die eigentlich für Jugendliche bestimmt sind. Die Ausweitung nach hinten hat einerseits etwas mit der Verlängerung der Schul- bzw. Ausbildungszeit zu tun, andererseits gehören sogar Erwerbstätige (oder evtl. schon wieder Arbeitslose) immer noch zur Jugend. Sie sind zwar wirtschaftlich selbständig, aber ihr Privatleben (Freunde, Freizeitgestaltung, Medien- und Konsumverhalten, Musik etc.) gestaltet sich als der Jugendphase zugehörig. Durch die Verlängerung der Jugendphase wird diese auch immer vielgestaltiger und differenzierter. Es kann kaum ein einheitliches Bild von Jugend gezeichnet werden, vielmehr integriert Jugend, was ihr früher nicht zugerechnet wurde und schafft neue Formen und Phänomene.
1.2.1.1 Wertewandel
Jugend ist heute keine Durchgangsphase mehr auf dem Weg des Erwachsenwerdens, sondern besitzt als Lebensabschnitt ihr eigenes Gewicht. Dies hängt eng mit der ökonomischen Situation zusammen. War früher die Motivation der Jugendlichen, sich anzustrengen, etwas zu leisten und evtl. zu verzichten, um später ein gesichertes Auskommen zu haben und damit ein gutes Leben führen zu können, verliert heute diese Sichtweise immer mehr an Bedeutung. Zukunftsunsicherheit und -angst und drohende Arbeitslosigkeit als Realität wirken sich auf die Gegenwart und Lebensweise der Jugend aus.
Werte, wie Arbeit, Leistung, Wohlstand etc. geraten ins Wanken. Gesellschaftlich gesehen werden sie noch propagiert (‘Du lernst für dein späteres Leben’, ‘Wer sich anstrengt wird es zu etwas bringen’ u.s.w.), aber sie stimmen nicht mehr mit der Realität überein. Selbst wenn ich mich in der Schule und Ausbildung noch so anstrenge, es gibt keine Sicherheit, daß ich davon in meinem Berufsleben etwas habe oder überhaupt Arbeit bekomme.
Die Schwierigkeit besteht aber darin, daß in unserer Gesellschaft der Einzelne trotzdem noch über die Arbeit definiert und bewertet wird: ‘Wer keine Arbeit hat, ist selbst dran schuld’. Das zumindest können die Arbeitenden sagen, die trotz sehr hoher Arbeitslosigkeit immer noch die Mehrheit ausmachen. Auch die Schule bereitet auf diese Weise die Jugendlichen auf ihr Leben vor. Es geht um Leistung und Normen als Voraussetzung für das spätere Arbeitsleben. Die Jugendlichen stehen in ihrer Unsicherheit dazwischen. Sie müssen sich neue Werte erarbeiten, die Menschen nicht nur über Arbeit definieren, andererseits müssen sie mit den alten Vorstellungen leben. Jugendliche leiden darunter. Denn die Realität sieht ja dann doch so aus, daß, wer nicht arbeitet nicht oder wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann (jede Art von Freizeitgestaltung kostet Geld).
1.2.1.2 Perspektivwandel
Wenn die Zukunft so unsicher ist, gewinnt die Gegenwart immer mehr an Bedeutung. Das gilt aber hauptsächlich für die Bereiche, die nichts mit den alten Werten und Anforderungen zu tun haben (Freizeit). „Im traditionellen Sinne hieß Jung-Sein: ‘heute auf etwas verzichten, damit man morgen etwas hat. Heute etwas leisten, damit man morgen etwas wird’. Heute leben und orientieren sich viele Jugendliche nach der entgegengesetzten Devise: ‘Sich heute etwas leisten, heute auf nichts verzichten, sondern heute leben, weil man nicht so recht weiß, was morgen ist.’“[5] Also versucht man zu leben und alles, was sich einem in der Freizeit bietet, mitzunehmen, nichts zu verpassen, um sagen zu können: ‘Ich habe gelebt’. Daraus folgt, daß „das Jugendverhalten immer mehr zum strategischen Verhalten geworden (ist, d. Verf.): mit der Schule leben, die Berufsausbildung mitnehmen, mit den Eltern auskommen.“[6]
1.2.1.3 Vorbilder
Jugend ist eine Phase des Suchens nach Identität. Dazu werden Vorbilder benötigt. Diese sind für die Jugendlichen schwer zu finden. Früher war es die ältere Generation, die Vorbilder bot oder zur Auseinandersetzung mit ihren Normen und Werten anregte. Wie oben bereits festgestellt, hat die ältere Generation aber überholte Werte und ist somit als Vorbild ungeeignet. Auch die Auseinandersetzung mit den Normen und Werten findet immer weniger statt. Die Jugend ist kaum noch in die Familie und in damit zusammenhängende Sozialstrukturen integriert, sondern lebt eher unter sich. Außerdem werden die Eltern zunehmend liberaler oder hilfloser, und so können sich Jugendliche immer weniger an ihnen reiben. Die Lücke wird aufgefüllt durch Ersatzrealitäten (siehe 2.2.1.7).
Im engen Zusammenhang mit den Vorbildern stehen Lebenskonzepte. Es gibt kaum tragfähige Angebote, auf die Jugendliche zurückgreifen können. Hier wird ebenso auf Ersatzrealitäten (siehe 2.2.1.7) zurückgegriffen.
1.2.1.4 Schule
Die Schule begleitet die Jugendlichen eine große Zeit ihres Lebens. Sie bestimmt ihr Leben und ihren Tagesablauf. Dabei wirkt sich die Schule aber auch problematisch aus. Schule ist zum größten Teil auf kognitives Lernen eingestellt. Der ganzheitliche Lernansatz, wie ihn Erlebnispädagogik beansprucht, fehlt. Besonders soziales Lernen (Kooperation, Konfliktfähigkeit, Solidarität...) hat wenig Platz in der Schule: Im Gegenteil, Schule lehrt Konkurrenz und Leistungsdenken. Das Schulsystem in Deutschland trägt außerdem zur Schaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft unter Jugendlichen und Kindern bei. Und die Trennung zwischen den zwei Klassen wird durch Leistung definiert. Jugendliche, die den Weg über Haupt- und Realschule gehen sind dabei von vornherein ins Abseits gedrängt. Für sie werden Entwicklungschancen und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeschränkt. Das wirkt sich auch auf die Motivation aus und so sind viele selbst mit den Anforderungen der Realschule überfordert.
Diejenigen, die aufs Gymnasium kommen, haben zwar einen besseren Status, aber für sie wird die Schule noch lebensbestimmender. Die Anforderungen steigen, der Leistungs- und Konkurrenzdruck wird größer. Demgegenüber wird die freie unkontrollierte Zeit immer geringer.
1.2.1.5 Räume
Da Jugend eine Phase mit eigenem Gewicht ist, braucht sie auch eigene Räume. Jugendliches Leben außerhalb der Schule findet kaum noch innerhalb der Familie statt. Es werden vielmehr die Gruppen der Gleichaltrigen immer bedeutender. Diese Gruppen müssen sich Räume ihrer Umwelt als Lebensräume erschließen. Dies ist aber kaum noch möglich. Hier tritt natürlich ein Unterschied zwischen Stadt und Land zutage. In ländlichen Gegenden haben es Jugendliche nicht so schwer, sich Räume zu erobern. Allerdings ist es selbst hier so, daß sie oft versuchen, diese Räume in unmittelbarer Umgebung ihrer Lebenswelt zu besetzen (Dorfplatz o.ä.). Dabei können erneute Konflikte entstehen.
Viel stärker ist dieses Phänomen natürlich in der Stadt bzw. Großstadt. Hier gibt es so gut wie keine freien Räume. Versuche von Jugendlichen sich Räume zu schaffen, führen meist zu Konflikten, Übertretungen oder sogar kriminellen Handlungen. Alles ist in Städten kontrolliert und der Versuch sich Freiheiten zu nehmen, führt zur Kollision mit der Gesellschaft.
Der Charakter der Räume, sofern sich Jugendliche diese erschlossen haben, ist meist nicht für die Freizeitgestaltung geeignet. Als Folge treten Langeweile und ‘Abhängen’ auf. Andere Freizeitmöglichkeiten kosten Geld und können daher nicht immer wahrgenommen werden.
1.2.1.6 Konsum
Daß Jugend zu einer immer längeren und damit bedeutenderen Phase wird, hat auch die Industrie erkannt und sich darauf eingestellt. Es gibt mehr als genug Werbung und Konsumangebote speziell für Jugendliche oder besser gesagt für die einzelnen Gruppen von Jugendlichen. Da Jugend, wie bereits oben erwähnt, auf der Suche nach Identität und eigenen Ausdrucksformen ist, kann die Werbung hier gut ansetzen. Die Jugend ist aber auch in der Lage, auf diese Angebote zu reagieren. Viele Jugendliche haben heute eine erstaunlich hohe Kaufkraft, bedingt durch regelmäßiges Taschengeld, eigenen Verdienst oder Verdienste aus Neben- oder Ferienjobs.
Marketing- und Werbestrategien bestimmen dabei nicht unwesentlich das Konsumverhalten (durch Marktforschung). „Die Angebote des Judendkonsummarktes sind in der Regel betont ausdrucksintensiv, mit einer hohen Anmache, situationswechselnd, unverbindlich, augenblicksorientiert und kontrastreich.“[7] Und die Angebote sind breit gefächert. Der Aufwand, den die Industrie dabei betreibt, lohnt sich. Für Jugendliche übernimmt der Konsum (Mode, Musik, Freizeitgestaltung...) sehr oft identitätsstiftende Funktion. Das kann bis zum ‘Konsumstreß’ führen. Jugendliche sind bestrebt, immer auf dem neuesten Stand zu sein. Die Angebote sind dabei sehr wechselnd und kurzlebig. Die Wirkungsweise von solchen Angeboten läuft von der Werbung über die Gleichaltrigengruppe bis zum Einzelnen, der sich dieser Wirkungsweise oft gar nicht bewußt ist. „Das Jugendalter ist ein Experimentierraum, in dem Jugendliche um ihrer Entwicklung willen Grenzen erproben können müssen. Der Konsum basiert jedoch auf dem Prinzip des immer wieder neuen, grenzenlosen Verbrauchs und kann damit die erfahrbaren Grenzen für Kinder und Jugendliche gefährlich ins Ungewisse der Suchtgefährdung hinausschieben.“[8] Damit einher geht auch das Problem, daß das Gefühl vermittelt wird: ‘Du kannst ohne Sorge konsumieren, es ist genug da’. Wie das Verbrauchte wieder hergestellt wird, danach soll nicht gefragt werden. „Problematisch an der Konsum-Mentalität bei Kindern und Jugendlichen ist nicht, daß sie viel konsumieren, sondern daß sie verbrauchen - Güter, Natur, Beziehungen - ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie dies wieder hergestellt werden kann.“[9]
1.2.1.7 Ersatzrealitäten
Unsere Zeit ist schnellebig in allen Teilbereichen des Lebens. Sich da zu orientieren und zurechtzufinden, ist sehr schwer. Jugendliche sind auf der Suche nach ihrem Platz und ihrer Identität. Für sie ist es also doppelt schwer, aus all dem, was ihnen begegnet, das für sie Relevante herauszufinden. Wenn sie mit dieser harten Realität des ‘Ständig-dranbleibens’ nicht klarkommen, ziehen sie sich zurück. Dafür sind Medien (Fernsehen, Video, Computerspiele...) bestens geeignet. Hier steht man wieder über den Dingen, kann jederzeit ein- und aussteigen und wird nicht kontrolliert. Diese Ersatzwelten sind aber so angelegt (Filme, Spiele), daß man sich mit ihnen identifizieren kann. Diese Identifikation kann soweit führen, daß Erfahrungen (aus zweiter Hand) in das reale Leben transferiert werden, oder daß man sich immer weiter in die Ersatzwelten zurückzieht (denn diese beherrscht man im Gegensatz zur Realität) und diese wichtiger werden, als die Realwelt.
1.2.1.8 Defizite
Die Beschreibung der Jugendsituation, welche hier vorgenommen wurde, ist sicherlich nicht vollständig. Eine vollständige und differenzierte Analyse vorzulegen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle die Situation von Jugendlichen zusammenfassend darstellen.
Jugend ist eine Phase der Orientierung und Suche nach Identität. Die Orientierung wird immer mehr erschwert, da es viele Angebote, aber keine tragfähigen Lebenskonzepte und wenig brauchbare Vorbilder gibt. Außerdem ist unsere Zeit hektisch und mit Reizen und Angeboten überladen. Die Zukunft ist unsicher und nicht mehr planbar. Daraus folgt einerseits eine Gewichtung auf die Gegenwart und andererseits eine zunehmende Individualisierung. Jeder muß bestrebt sein, das eigene Leben zu bewältigen (und das ist schwer genug), sich für andere einzusetzen oder an gesellschaftlichen Veränderungen mitzuwirken. Das übersteigt meist die persönliche Kraft.
Schule und Ausbildung ist für das Leben der Jugend kennzeichnend. Sie ermöglichen aber nur kognitives Lernen und können keine Beziehung zwischen jetzigem Lernen und Zukunftsperspektiven bieten[10]. Schule lehrt Konkurrenz statt Solidarität. Das soziale Lernen ist weder in der Schule noch außerhalb ausreichend gewährleistet. Da es in Deutschland überwiegend Kleinfamilien gibt, ist auch hier kaum noch der Ort des sozialen Lernens zu finden.
Jugendliche werden einerseits alleingelassen (keine Räume, keine Vorbilder, keine Zukunftsperspektiven...), andererseits ‘buhlt’ man um die Jugend (Medien und Industrie).
Die Jugend ist ständigen Angeboten und Reizen ausgesetzt, die allerdings so wechselnd und schnellebig sind, daß sie nicht tiefgehend und reflektiert wahrgenommen werden. Erlebnisse aus erster Hand, die persönlichkeitsbildend und selbstreflektierend wirken könnten, kann man kaum noch machen. Die Jugend steht damit in der Spannung zwischen Langeweile und Konsumstreß. Da so viele Reize aufgenommen werden, ohne ausreichend verarbeitet zu sein, entsteht eine Art ‘Reizsucht’. Um überhaupt noch etwas zu spüren, müssen die Reize immer stärker werden (Videofilme immer härter und brutaler, Spiele schneller und schwieriger, Musik lauter und ‘mehr in den Magen gehend’ etc.).
Da es kaum möglich ist, sich zu orientieren, um seinen Weg zu finden, wirft man sich entweder in das Leben, nimmt so viel wie möglich mit, um nichts zu verpassen, oder zieht sich zurück (in die eigenen vier Wände, mit Freunden, in Ersatzrealitäten). Gesellschaftliche Zustände werden kaum als veränderbar gesehen.
In Bezug auf Stadt und Land sind gewisse Unterschiede festzustellen. Jugendliche auf dem Land haben an sich mehr Räume zur Verfügung. Sie haben im Gegensatz zu städtischen Jugendlichen auch die Möglichkeit, Natur zu erleben. Außerdem sind sie sozial stärker eingebunden (Familie, Nachbarschaft...). Andererseits gleicht sich ihre Lebenswelt immer mehr der städtischen an. Die Jugendlichen sind Medien und Werbung genauso ausgesetzt. Auch die Schule spielt für sie genauso eine große Rolle. Medien und Werbung führen zu einer Sehnsucht nach der Stadt, die erweiterte Möglichkeiten verkörpert. Der Abstand zwischen Stadt und Land ist durch die gestiegene Mobilität geringer geworden.
Aus all diesen Überlegungen ergeben sich Defizite in der Entwicklung/ Persönlichkeitsentwicklung. Ich möchte die wichtigsten nennen:
- Defizit, sich selbst als Persönlichkeit herauszubilden (Selbstvertrauen, eigene Meinung, Selbstwert, Grenzen kennenlernen etc.);
- Defizit des sozialen Lernens (Konfliktfähigkeit, Solidarität, Abgrenzung und Toleranz, Durchsetzen und Nachgeben etc.);
- Defizit an Vorbildern und tragbaren Lebenskonzepten, aber auch an gültigen Werten und Normen;
- Defizit an (unkontrollierten) Räumen;
- Defizit an Ruhe, Stille, Beschaulichkeit;
- Defizit an Orientierung und Überschaubarkeit;
- Defizit an authentischen, reflektierbaren Erlebnissen und Erfahrungen;
- Defizite in der Wahrnehmung (besonders Details);
- Defizit an Naturerleben;
- Defizit an Sicherheit.
Die Frage ist, welche dieser Defizite[11] Erlebnispädagogik ausgleichen kann. Bevor ich jedoch zu dieser Frage komme, stellt sich eine grundsätzlichere Frage:
Erlebnispädagogik wendet sich hauptsächlich an Jugendliche/ junge Erwachsene. Dabei versucht sie, Defizite auszugleichen, aber auch präventiv zu wirken. Soll der präventive Aspekt erfolgreich sein, dürften diese Defizite erst in der Jugendphase entstehen. Wenn dies nicht so ist und Erlebnispädagogik als Mittel zum Ausgleich dieser Defizite geeignet ist, bliebe die Frage, ob sie schon früher (im Kindesalter) ansetzen müßte und könnte.
Dazu ist ein Blick auf die Situation der Kinder in unserer Zeit notwendig.
1.2.2 Kindersituation
Festzustellen ist zu allererst, daß es in unserer Gesellschaft immer weniger Kinder gibt. Das wirkt sich in vielerlei Hinsicht auf die Kindersituation aus. Kinder sind für die Gesellschaft als zukünftige Arbeiter und Rentenzahler elementar notwendig, aber da sie eine kleine Bevölkerungsgruppe darstellen, geraten ihre Interessen immer mehr an den Rand der Gesellschaft. Familien mit Kindern sind ökonomisch benachteiligt[12]. Die Gesellschaft braucht zwar Kinder, ist aber nicht in der Lage die Voraussetzungen für eine Steigerung der Geburtenrate zu schaffen.
1.2.2.1 Räume
Kinder brauchen in zweierlei Hinsicht Räume.
Erstens benötigen sie für ihre Entwicklung einen pädagogischen Schutzraum. In diesem müssen sie Geborgenheit und Vertrauen erfahren. Sie müssen Schutz vor den Problemen der Erwachsenenwelt erhalten. Dieser Schutzraum sollte in erster Linie die Familie sein, die jedoch heutzutage kaum dazu in der Lage ist. Der Trend geht immer mehr zur Kleinfamilie, d.h., Kinder sind in ihrer Entwicklung oft auf sich gestellt. Selbst wenn Kinder beide Elternteile haben, so sind diese in der Spannung zwischen Privat- und Berufsleben. Frauen sind dieser Spannung verstärkt ausgesetzt und hinzu kommt, daß gerade sie zum überwiegenden Teil die Alleinerziehenden sind[13].
Wer Arbeit hat, ist davon meist so in Anspruch genommen, daß immer weniger Zeit für Familie und Kinder bleibt. Wer keine Arbeit hat, ist ökonomisch schlecht gestellt und emotional oft sehr beansprucht. Dies wirkt sich auch auf das Klima und die Situation in der Familie aus. Kinder sind mit den Problemen der Erwachsenen konfrontiert und haben keinen Schutz davor. Institutionen, die den fehlenden Schutzraum geben sollten, sind nicht in ausreichendem Maß vorhanden. Dadurch können selbst die vorhandenen Einrichtungen (Kindergärten, Krippen...) den Raum meist nicht kinderfreundlich genug gestalten. Die Erzieher und Pädagogen sind oft völlig überlastet. Sie sind dann nicht in der Lage, den Schonraum zu Verfügung zu stellen und die Kinder zu begleiten, sondern müssen einen ordnungsgemäßen Ablauf garantieren, d.h. reglementieren.
Der Schonraum wird auch durch die Medien immer wieder unterbrochen. Fernsehen ist die Hauptfreizeitbeschäftigung vieler Kinder. Dies auch, weil sie oft auf sich allein gestellt sind und andere Möglichkeiten eingeschränkt sind (siehe unten). Sie werden hier mit der Erwachsenenwelt konfrontiert, ohne dies emotional verarbeiten zu können.
Kinder benötigen zweitens Räume zum Spielen, Entdecken und Gestalten. Diese Räume werden jedoch immer eingeengt. Hier ist mehr als bei Jugendlichen, ein Unterschied zwischen Stadt und Land festzustellen. In ländlichen Gegenden gibt es mehr Raum für Kinder. Es gibt Natur und die Räume bieten die Möglichkeit, des Entdeckens, des Spielens und des sich Ausprobierens. Diese Räume sind gefahrloser als in der Stadt, wo es kaum derartige Räume gibt. Hier ist alles kontrolliert und zweckmäßig festgelegt. Die Räume, die für Kinder vorgesehen sind (Spielplätze), bieten kaum die Möglichkeit, sie phantasievoll zu benutzen, zumindest engen sie die Kinder ein, da die Umgebung der Spielplätze oft nicht zum Spielen geeignet sind. Bei allen anderen Räumen sind Kinder kontrolliert und reglementiert, weil diese Räume (Straße) gefährlich sind und weil sich die Umgebung (Erwachsene) gestört fühlt.
1.2.2.2 Schule
Wenn Kinder in die Schule kommen wird ihr Schutzraum noch kleiner und ihre Zeit noch knapper. Von vornherein sind sie mit Leistungs- und Konkurrenzdruck konfrontiert. Das ist einerseits durch das Schulsystem bedingt, andererseits durch die hohen Erwartungen der Eltern. So gilt für Kinder im Bezug auf Schule, was bereits für die Jugendlichen festgestellt wurde (siehe 2.2.1.4).
Weiterhin kommen neben der Schule, die einen Großteil der Zeit in Anspruch nimmt und große emotionale Energien abverlangt, häufig noch andere Verpflichtungen hinzu. Die Eltern meinen es sicherlich gut, wenn sie Kinder zu Instrumentalunterricht, Sport o.ä. anhalten. Natürlich ist das auch Freizeit (gerade Sport), aber es ist verbindliche Freizeit und schränkt das Eigenleben von Kindern ein. Außerdem spielt bei derartigen außerunterrichtlichen Veranstaltungen Leistung eine große Rolle, da es oft darum geht, die gesellschaftlichen Chancen des Kindes zu vergrößern.
1.2.2.3 Vorbilder
Vergleicht man die Situation von Jugendlichen und Kindern im Blick auf Vorbilder, muß man feststellen, daß das Defizit an Vorbildern bereits im Kindesalter eine Rolle spielt. Die für die Entwicklung notwendigen Rollen der Eltern sind oft nicht gegeben. Erstens, weil Elternteile nicht vorhanden sind und zweitens, weil Eltern nicht genug Zeit für ihre Kinder aufbringen können. Dasselbe trifft auf die Institutionen (Schule und Kindergarten) zu. Auch hier sind die Vorbilder durch Personalmangel und Überforderung der Mitarbeiter nicht ausreichend.
Ein weiterer Punkt ist, daß auch Kinder kaum Möglichkeiten des sozialen Lernens haben. Die Familien können die Möglichkeiten oft nicht bieten, da sie Kleinfamilien sind. Die Institutionen sind ebenso überlastet.
[...]
[1] Die Religionspädagogik kann sicherlich noch mehr Arbeitsbereiche umfassen (z.B. Erwachsenenarbeit). Die Beschränkung auf die oben genannten Bereiche hat zwei Gründe: Erstens sind die genannten Arbeitsbereiche die, mit denen ich bisher in Berührung gekommen bin. Zweitens sind es diese Bereiche, für die ich im Rahmen meiner Ausbildung als Religionspädagoge (bisher) ausgebildet wurde.
[2] Aus einem Interview mit Prof. Dr. Jörg Ziegenspeck in Jugendstiftung Baden-Württemberg (Hrsg.), 1993, S.111
[3] Funke, J. zit. n. Ziegenspeck, J., 1992, S.112
[4] Reiners, A. 1995, S.33
[5] Böhnisch, L., 1993, S. 154
[6] Ebd., S. 155
[7] Böhnisch, L., 1993, S. 192
[8] Böhnisch, L., 1993, S. 193
[9] Böhnisch, L., 1993, S. 194
[10] siehe Böhnisch, L., 1993, S. 153
[11] Die Aufzählung ist sicherlich noch nicht vollständig und nicht allgemein auf alle Jugendlichen anwendbar.
[12] Vgl. dazu Synode der Ev. Kirche in Deutschland, 1995, S. 16f
[13] Vgl. dazu Synode der Ev. Kirche in Deutschland, 1995, S. 15
- Citation du texte
- Frank Boßmann (Auteur), 1997, Chancen und Grenzen der Erlebnispädagogik für die Arbeit des Religionspädagogen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25275
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