„Bis vor drei Jahrzehnten war man davon überzeugt, dass Depression bei Kindern und
Jugendlichen nicht existiert oder nur sehr selten auftritt. Wenn sie überhaupt nicht existiert,
nahm man an, dass es sich dabei um vorübergehende Erfahrungen handelt, die mit dem
normalen Entwicklungsprozess zusammen hängen.“ (Essau, 2002, S.11)
In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren trat mit den ersten ernst zu nehmenden
Studien über Depressionen bei Kindern und Jugendlichen eine Wende ein, die die zähe
Vorherrschaft des Dogmatismus, dass nicht ist, was nicht sein darf, beendete. Vor allem nach
psychodynamischen Modellvorstellungen war die Existenz von Depressionen bei Kindern
indiskutabel, da das Über-Ich, das bei Kindern erst in der Entwicklung begriffen ist, eine
zentrale Rolle bei der Entwicklung einer Depression spiele. Depressive Störungen im Kindesund
Jugendalter wurden generell als Entwicklungsschwierigkeiten eingestuft. Kinder und
Jugendliche weisen jedoch in den meisten Fällen eine ähnliche, wenn nicht vergleichbare
Psychopathologie wie Erwachsene auf, so dass man kaum – wie einst – von „larvierten“
Depressionen sprechen kann. Da mag es auch nicht verwundern, dass die Aufmerksamkeit
gegenüber depressiven Symptomen im frühen Lebensabschnitt während der letzten Jahre
enorm zugenommen hat und auch vermehrt literarische Zeugnisse über depressive
Erscheinungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, sogar aus der Antike, zutage treten.
Mit dem DSM-III (1980) stieg die Zahl der diesbezüglichen Untersuchungen aufgrund des
wachsenden Interesses an diesem neu aufgeschlossenen Themenbereich rapide an. Allgemeine
und bis heute bestätigte Befunde sprechen dafür, dass depressive Störungen Erwachsener in
den meisten Fällen in der Jugend bzw. Kindheit wurzeln, dass also frühe depressive Episoden
die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Depression erhöhen. Wie Nissen schreibt, ist die
Depression, „ganz gleich, ob psychopathologische, lerntheoretische, humangenetische oder
metabolische Entstehungshypothesen herangezogen werden, eine Krankheit, die schon im
Kindesalter latent, als ‚Keim’, als ‚Vorform’ oder als ‚Struktur’ vorhanden ist.“ (Nissen, 2002,
S.198)
Häufig wird die Depression als die „gewöhnliche Grippe der Psychopathologie“ bezeichnet.
Und nach Ansicht vieler Autoren befinden wir uns momentan im „Zeitalter der Melancholie“. [...]
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung und Überblick
2. Allgemeines zum klinischen Störungsbild der Depression
2.1. Begriffsklärung und Symptomatik
2.2. Diagnostik
2.3. Epidemiologie
2.4. Komorbidität
3. Theoretische Modelle
3.1. Psychodynamisch
3.2. Kognitiv
3.3. Lerntheoretisch
3.4. Multifaktoriell
3.5. Biologisch
4. Ätiologische Aspekte und Risikofaktoren
4.1. Biologische Faktoren
4.1.1. Genetik
4.1.2. Neurobiologische Dysfunktionen
4.2. Psychosoziale/umweltbedingte Faktoren
4.2.1. Kritische Lebensereignisse und chronische Belastungen
4.2.2. Familiäre Einflüsse – psychische Störung der Eltern
4.2.3. Soziale Beziehungen
4.3. Merkmale des Betroffenen/Persönlichkeitsfaktoren
4.3.1. Temperament
4.3.2. Geschlecht
4.3.3. Alter
4.3.4. Bewältigungsstrategien
4.4. Kognitive Faktoren
5. Protektive Faktoren
6. Ausblick
7. Literatur
1 EINLEITUNG UND ÜBERBLICK
„Bis vor drei Jahrzehnten war man davon überzeugt, dass Depression bei Kindern und Jugendlichen nicht existiert oder nur sehr selten auftritt. Wenn sie überhaupt nicht existiert, nahm man an, dass es sich dabei um vorübergehende Erfahrungen handelt, die mit dem normalen Entwicklungsprozess zusammen hängen.“ (Essau, 2002, S.11)
In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren trat mit den ersten ernst zu nehmenden Studien über Depressionen bei Kindern und Jugendlichen eine Wende ein, die die zähe Vorherrschaft des Dogmatismus, dass nicht ist, was nicht sein darf, beendete. Vor allem nach psychodynamischen Modellvorstellungen war die Existenz von Depressionen bei Kindern indiskutabel, da das Über-Ich, das bei Kindern erst in der Entwicklung begriffen ist, eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer Depression spiele. Depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter wurden generell als Entwicklungsschwierigkeiten eingestuft. Kinder und Jugendliche weisen jedoch in den meisten Fällen eine ähnliche, wenn nicht vergleichbare Psychopathologie wie Erwachsene auf, so dass man kaum – wie einst – von „larvierten“ Depressionen sprechen kann. Da mag es auch nicht verwundern, dass die Aufmerksamkeit gegenüber depressiven Symptomen im frühen Lebensabschnitt während der letzten Jahre enorm zugenommen hat und auch vermehrt literarische Zeugnisse über depressive Erscheinungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, sogar aus der Antike, zutage treten.
Mit dem DSM-III (1980) stieg die Zahl der diesbezüglichen Untersuchungen aufgrund des wachsenden Interesses an diesem neu aufgeschlossenen Themenbereich rapide an. Allgemeine und bis heute bestätigte Befunde sprechen dafür, dass depressive Störungen Erwachsener in den meisten Fällen in der Jugend bzw. Kindheit wurzeln, dass also frühe depressive Episoden die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Depression erhöhen. Wie Nissen schreibt, ist die Depression, „ganz gleich, ob psychopathologische, lerntheoretische, humangenetische oder metabolische Entstehungshypothesen herangezogen werden, eine Krankheit, die schon im Kindesalter latent, als ‚Keim’, als ‚Vorform’ oder als ‚Struktur’ vorhanden ist.“ (Nissen, 2002, S.198)
Häufig wird die Depression als die „gewöhnliche Grippe der Psychopathologie“ bezeichnet. Und nach Ansicht vieler Autoren befinden wir uns momentan im „Zeitalter der Melancholie“. Beide sprachliche Bilder verdeutlichen, dass die Depression (einmal ungeachtet ihrer vielen Subklassifikationen) als sehr häufig und weit verbreitet gilt. Die geschätzte Auftretenshäufigkeit der Depression bei Kindern und Jugendlichen schwankt von Untersuchung zu Untersuchung bzw. je nach diagnostischen Kriteria, lässt aber insgesamt erahnen, dass depressive Erscheinungen tatsächlich keine Seltenheit sind: Die Raten reichen von 2% bis 18%. Mancher vermutet darüber hinaus eine weitere und stetige Zunahme depressiver Störungen, was allerdings umstritten ist. Dieser Punkt wird in dieser Arbeit noch zu diskutieren sein.
Bis heute ist die Dynamik der depressiven Störungen nicht vollends geklärt – vieles liegt noch immer im Dunkeln und wird es wohl auch in absehbarer Zukunft noch sein. Eine einheitliche Theorie der Ätiologie gibt es nicht – und ist auch kaum zu erwarten. Unumstritten ist allerdings, dass die Genese von Depressionen als multifaktorieller Prozess verstanden werden muss. Wie dieses komplexe Zusammenwirken im Einzelnen vonstatten geht, kann noch niemand mit Sicherheit sagen. Die diesbezüglichen Erklärungsansätze werden höchstvermutlich auch immer paradigmen- und fallspezifisch sein.
Eine Hauptaufgabe der Depressionsforschung wird es sein zu untersuchen, ob die auftretenden Auffälligkeiten, z.B. neurobiologischer oder psychosozialer Art, als Ursache, als tatsächliches Symptom oder als Folge der Störung zu betrachten sind und inwieweit sie auch bei anderen Störungen auftreten oder doch depressionsspezifisch sind.
Diese Arbeit soll eingangs einen kurzen Überblick über Phänomenologie und Epidemiologie geben und im Anschluss Entstehungsmodelle und Risikofaktoren beleuchten. Ich möchte auf unterschiedliche Ansätze und Befunde eingehen sowie mögliche Wirkprozesse der beteiligten Faktoren verdeutlichen.
Ein kurzer Abschnitt soll den protektiven Faktoren gelten und die Frage aufgreifen, warum manche Kinder bzw. Jugendliche anfälliger sind als andere. Auf Therapieansätze wird in dieser Arbeit nicht eingegangen.
2 ALLGEMEINES ZUM KLINISCHEN STÖRUNGSBILD DER DEPRESSION
2.1 Begriffsklärung und Symptomatik
Depressionen bei Kindern und Jugendlichen sind durch Begriffe wie „deprimere“ (lat. herunterdrücken) oder „dysphoria“ (griech. Missgelauntsein, bedrückte Stimmung) zutreffend definiert. Psychopathologisch ist unter „Depression“ in erster Linie ein klinisches Syndrom zu verstehen – eine Anzahl von Symptomen, die in bestimmter Regelhaftigkeit auftreten. Die Depression gehört zur Gruppe der affektiven Störungen und befindet sich am Ende eines Kontinuums. Es existieren also auch „gewöhnliche“ Depressionen, meist kurzfristige Trauerreaktionen ohne ersichtlichen Krankheitswert, die im Allgemeinen keinen qualitativen, sondern quantitativen Unterschied beschreiben. (Zimbardo, 1999). Generell lässt sich zwischen unipolaren und bipolaren affektiven Störungen unterscheiden, wobei letztere durch einen Wechsel von depressiven und manischen Episoden gekennzeichnet sind. Ich werde mich hier auf unipolare Depressionen beschränken. Eine weitere Grobunterteilung bezieht sich auf das Ausmaß und die Dauer der depressiven Episoden: chronische, aber eher gemäßigte Verstimmungszustände, die mindestens ein Jahr andauern, werden als dysthyme Störung bezeichnet. Schwere und wiederkehrende Episoden von circa zweiwöchiger Dauer zählen zur Kategorie der major depression. Sie gilt meist als „typische“ Depression. (Genaue diagnostische Kriterien und Formen affektiver Störungen sind im DSM-III bzw. ICD-10 zu finden, diese sollen hier nicht näher betrachtet werden.). Eine dritte Klassifikationsachse bezeichnet die vermutete „Herkunft“ der depressiven Störung. Exogen sei sie dann, wenn sie sich nach einem offenkundig belastenden Ereignis entwickelt (wie dem Verlust eines Menschen etc.), endogen hingegen heißt, dass sie wahrscheinlich auf einen Defekt in der Neurophysiologie des Betroffenen zurück geht.
Eine exakte Definition der Depression im Kindes- und Jugendalter wird jedoch kaum möglich sein, da ihre Symptome einer „entwicklungsspezifischen Metamorphose“ (Nissen, 2002, S.188) unterliegen.
Sehr häufig in der Literatur (z.B. Zimbardo, 1999) werden die allgemeinen Symptome der Depression vier Kategorien zugeordnet: hinsichtlich der Stimmung, des Denkens sowie der Motivation und körperliche Symptome. Eine differenzierte Auflistung möglicher Symptome ist in der unten stehenden Tabelle 1 zu finden (zusammengestellt aus Zimbardo, 1999; Krech & Crutchfield, 1992, sowie Rossmann, 2002).
Tabelle 1: Hauptmerkmale der unipolaren Depression
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Trotz der Tatsache, dass viele diagnostische Kennzeichen altersunabhängig sind, gilt es vor allem für jüngere Kinder zu beachten, dass die depressive Symptomatik in engem Zusammenhang mit dem Entwicklungsalter steht. Kinder sind oft noch unfähig ihre innere Befindlichkeit zu erkennen und in Worte zu kleiden. Bei diesen finden sich dominierend psychosomatische Symptome wie Schlafstörungen, Schreikrämpfe, Kopfschmerzen, Appetitstörungen oder auch nächtliches Einnässen und Gedeihstörungen. Erste psychische und verhaltensbezogene Symptome bei jüngeren Schulkindern können Spiel- und Lernhemmungen oder Kontaktschwierigkeiten sein. Im Allgemeinen ist für Kinder eine eher „agitierte, gereizte Form mit Ängsten und dissozialer Symptomatik“ (Poustka, 2002, S. 3) charakteristisch. Generell kann gelten: je jünger ein Kind, desto unspezifischer können sich Störungen äußern, was die Differentialdiagnose einer solchen erheblich erschwert und schwieriger zu erkennen ist, inwieweit die depressive Symptomatik die Komorbidität einer anderen Störung oder eine eigenständige Depression darstellt. Bei älteren Schulkindern und Jugendlichen gleicht die Symptomatik eher jener Erwachsener: psychische Auffälligkeiten wie Grübeln, Minderwertigkeitsgefühle oder Schuldgefühle treten in den Vordergrund.
Nissen bezieht zu diesem Sachverhalt eine interessante Position: Die überwiegend psychosomatische Symptomatik von depressiven Klein- und Vorschulkindern stelle eher die ursprüngliche Form der Depression dar. Später und vor allem in westlichen Kulturkreisen auftretende kognitive Symptome wie Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle seien damit „als sekundäre, weil kulturell überformte Depressionen einzustufen.“ (Nissen, 2002, S. 203) Dafür sprächen u.a. Befunde der interkulturellen Depressions-forschung, die Nissen zur Stützung heran zieht. Nach Pfeiffer (1999, aus Nissen, 2002) zeige sich, dass depressive Erwachsene nicht-westlicher Kulturen ebenfalls vorwiegend zu psychosomatischen Manifestationen neigen.
2.2 Diagnostik
Die diagnostischen Kriterien sind für Kinder, Jugendliche und Erwachsene weitgehend gleich. Die klinische Diagnostik muss jedoch zwischen Depression als Symptom und als Syndrom/Störung unterscheiden, da depressive Störungen nur anhand klar definierter Kriterien diagnostiziert werden können. (Steinhausen, 1996, S.154)
Die Diagnose kann mittels verschiedener Methoden bzw. Instrumente erfolgen. Kombiniert werden können und sollen das Elterninterview, das Interview mit dem betroffenen Kind/Jugendlichen, Selbstbeurteilungsfragebögen, Beurteilungen durch andere (z.B. Lehrer), körperliche und neurophysiologische Tests, psychologische Tests und/oder die Klassifikation durch die internationalen Klassifikationssysteme ICD-10 bzw. DSM-III. Zur Möglichkeit der Befragung der Eltern sei hier nur angemerkt, dass die Übereinstimmung der Informationen bei getrennter Befragung von betroffenen Kindern und ihren Eltern nur sehr schwach ist, was vermuten lässt, dass Eltern ihre Kinder nur schwer einschätzen können bzw. positiv verzerren (Rossmann, 2002, S. 265). Daher sei noch einmal betont, dass die Beurteilung einer womöglich depressiven Symptomatik nur dann umso zuverlässiger sein kann, wenn sie auf verschiedene Quellen zurück greift. Ebenso muss das Alter des zu beurteilenden Kindes stets im Auge behalten werden. Letztlich ist die diagnostische Einstufung depressiver Episoden auch vom Schweregrad, vom Verlauf und von der Dauer abhängig.
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- Quote paper
- Ute Nowotka (Author), 2003, Depressionen im Kindes- und Jugendalter (Vulnerabilität, Risikofaktoren und ätiologische Ansätze), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25032
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