Natürlich lassen sich literarische Texte, die einige hundert Jahre vor unserer
Zeit entstanden sind, mit heutigen Augen lesen, und vor heutigem Hintergrund
aktualisiert auslegen. Dennoch bleibt es interessant, und zum Verständnis
mancher Werke vielleicht sogar unerlässlich, sich mit den politischen und
kulturellen Bedingungen und den verbreiteten Geisteshaltungen der
Entstehungszeit zu beschäftigen, um so zumindest ansatzweise nachvollziehen
zu können, welche Bedeutung und Wirkung der Text damals hatte. Speziell bei
komischen Texten ist dies wichtig, da diese oft mit aktuellen Anlässen und
Fragen oder bekannten Personen spielen, und unter verändertem
Wissenshintergrund und Lebensbedingungen der Leser somit schnell nicht
mehr komisch erscheinen.
In der vorliegenden Arbeit soll am Beispiel des XXX. Kapitel des Pantagruel
„Comment Epistémon, qui avoit la couppe testée, fut guéry habillement par
Panurge, et des nouvelles des diables et des damnez“ aufgezeigt werden,
inwiefern Rabelais Buch ein echtes „Kind seiner Zeit“ ist, um somit vielleicht zu
einem besseren Verständnis beizutragen. Dazu wird zunächst das behandelte
Kapitel in den Kontext des Buchs eingeordnet, und anschließend auf einige
seiner Aspekte, die in Zusammenhang mit der Renaissance, dem Zeitalter
seiner Entstehung, wichtig erscheinen, näher eingegangen. Sofern es nicht
anders vermerkt ist, sta mmen Zitate aus dem genannten Kapitel.
Inhalt
1. Einleitung
2. Einordnung der Textstelle im Werk
3. Medizinische Kenntnisse
4. Lachen und Karneval
5. Reisen und Entdeckungen
6. Einfluss der Antike
7. Schlussbemerkung
8. Literatur
1. Einleitung
Natürlich lassen sich literarische Texte, die einige hundert Jahre vor unserer Zeit entstanden sind, mit heutigen Augen lesen, und vor heutigem Hintergrund aktualisiert auslegen. Dennoch bleibt es interessant, und zum Verständnis mancher Werke vielleicht sogar unerlässlich, sich mit den politischen und kulturellen Bedingungen und den verbreiteten Geisteshaltungen der Entstehungszeit zu beschäftigen, um so zumindest ansatzweise nachvollziehen zu können, welche Bedeutung und Wirkung der Text damals hatte. Speziell bei komischen Texten ist dies wichtig, da diese oft mit aktuellen Anlässen und Fragen oder bekannten Personen spielen, und unter verändertem Wissenshintergrund und Lebensbedingungen der Leser somit schnell nicht mehr komisch erscheinen.
In der vorliegenden Arbeit soll am Beispiel des XXX. Kapitel des Pantagruel „Comment Epistémon, qui avoit la couppe testée, fut guéry habillement par Panurge, et des nouvelles des diables et des damnez“ aufgezeigt werden, inwiefern Rabelais Buch ein echtes „Kind seiner Zeit“ ist, um somit vielleicht zu einem besseren Verständnis beizutragen. Dazu wird zunächst das behandelte Kapitel in den Kontext des Buchs eingeordnet, und anschließend auf einige seiner Aspekte, die in Zusammenhang mit der Renaissance, dem Zeitalter seiner Entstehung, wichtig erscheinen, näher eingegangen. Sofern es nicht anders vermerkt ist, stammen Zitate aus dem genannten Kapitel.
2. Einordnung der Textstelle im Werk
Aufgrund der Episodenhaftigkeit und Diskontinuität von Rabelais Werk lässt sich die Episode von Epistémons Unterweltsreise, wie die meisten anderen Kapitel, auch gut vom Rest des Textes losgelöst lesen; hier dennoch in aller Kürze der Kontext:
Der Riese Pantagruel, der in Paris studiert, erfährt in einem Brief vom Tod seines Vaters, des Riesenkönigs Gargantua, und wird in seine Heimat Utopien zurückgerufen, um seinem Volk, den Amauroten, gegen die Dipsoden beizustehen, die nach dem Tod des Königs in das Land eingefallen sind. Mit seinen Gefährten Panurge, dem Listigen, Epistémon, dem Gebildeten, Eusthenes, dem Starken und Carpalim, dem Schnellen macht sich Pantagruel auf, erlebt einige Abenteuer und besiegt schließlich gegen Ende der Geschichte die Dipsoden und die dreihundert feindlichen Riesen. Nach dieser Schlacht, bei der Epistémon (trotz Panurges „Prophezeiung“ im XXVII. Kapitel, keiner von ihnen würde verwundet werden) der Kopf abgeschlagen wird, beginnt das XXX. Kapitel. Dieses zerfällt in zwei Teile: Zunächst sind alle tieftraurig über den Tod des Freundes, doch Panurge gelingt es, Epistémon wieder zum Leben zu erwecken. Im zweiten Abschnitt erzählt dieser von seinem kurzen Aufenthalt in der Unterwelt, in der er gerne noch länger geblieben wäre. Als am Ende seiner Erzählung sich wieder alle betrinken, verschenkt Pantagruel an Panurge den besiegten Anarche, König der Dipsoden, was den Auftakt zur darauf folgenden Episode darstellt. In ihr wird Anarche von Panurge verheiratet und zum Straßenverkäufer von Zwiebeltunke gemacht. Auf die Idee zu dieser Degradierung des Königs kam Panurge durch Epistémons Unterweltsbericht. Es folgen noch drei weitere Kapitel, in denen u.a. der Erzähler in Pantagruels Mund steigt, wo er eine komplette Welt entdeckt. Diese haben aber mit der hier behandelten Episode nicht mehr viel zu tun.
In seinem fröhlichen, respektlosen Tonfall und Inhalt befindet sich das XXX. Kapitel großteils im Einklang mit dem Rest des Werks, zumindest widerspricht es ihm in keinster Weise, wie dies etwa beim Brief Gargantuas an seinen Sohn (Kap. VIII) der Fall ist.
3. Medizinische Kenntnisse
Diesem Punkt sollte vorangestellt werden, dass Rabelais selbst als praktizierender Arzt tätig[1], und somit in der menschlichen Anatomie bestens bewandert war, was in Gargantua und Pantagruel an zahlreichen Stellen deutlich wird - so auch in diesem Kapitel. Als Panurge Epistémon „heilt“, heißt es, er füge Vene an Vene, Nerv an Nerv und Wirbel an Wirbel wieder zusammen (veine contre veine, nerf contre nerf, spondyle contre spondyle, affin qu’il ne feust tortycolly), bevor der Kopf wieder angenäht wird. Diese dreiteilige Aufzählung, in Verbindung mit dem magisch anmutenden Drumherum, das Panurge veranstaltet, lässt – einen deutschen Leser vielleicht - unmittelbar an den bekannten Merseburger Zauberspruch denken, in dem zur Heilung eines verrenkten Pferdefußes folgende Wendung benutzt wird: bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sôse gelimida sin. Also in heutigem Deutsch: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob geleimt sie seien. Es kann natürlich nur bei reiner Spekulation bleiben, ob Rabelais dieser althochdeutsche Spruch oder eventuelle andere Zaubersprüche ähnlicher Machart bekannt waren; möglich wäre es jedoch, so umfassend wie die Bildung dieses Autors war.
Man könnte diesen Satz also als Anspielung auf den genannten Zauberspruch verstehen, vor allem, weil er exakt denselben Aufbau aufweist. Einzig die Körperteile, die aneinandergefügt werden, sind bei Panurge viel kleinteiliger (Venen, Nerven, Wirbel) als in dem mittelalterlichen Spruch (Knochen, Blut, Glieder) und sie zu kennen erfordert viel mehr medizinisches Fachwissen im Hintergrund – Fachwissen, das nur durch das genaue Studium des Körpers, z.B. durch Sezieren erlangt werden kann, welches im Mittelalter lange Zeit verboten war. Erst mit Anbruch der Renaissance begann man, die Medizin fundierter zu betreiben, selbst wenn auch dann wohl noch zahlreiche Scharlatane unterwegs waren, wie man etwa aus der Beschreibung fragwürdiger Behandlungen von Syphilis-Patienten im Prolog zu Pantagruel
folgern kann[2]. Als eine Parodie auf solche Kurpfuscher könnte diese Episode gelesen werden, zumindest spricht für diese Lesart mehr als für jene andere nahe liegende, dass hier eine Parodie auf die Wiederauferweckungen der Bibel vorliege. Dieser Deutung steht zum einen im Weg, dass Panurges Tätigkeit nie als „wieder zum Leben erwecken“ bezeichnet wird, sondern immer nur als „heilen“[3], selbst wenn Epistémon mit seiner „couppe testée“ ganz offensichtlich schon tot ist. Zum anderen benutzt Panurge eine Reihe von Hilfsmitteln, was bei den Wundern von Jesus nie der Fall ist: die „Auferweckung eines jungen Mannes in Naïn“ (Lk 7,11 – 17), die „Auferweckung der Tochter des Jaïrus“ (Lk 8, 40 – 56) oder die „Auferweckung des Lazarus“ (Joh 11, 17 – 44) geschehen nur durch Worte oder Handauflegen. Hätte die Wiederbelebung von Epistémon also eine Parodie auf die katholische Wundergläubigkeit sein sollen, was vor dem Hintergrund der reformatorischen Bewegung prinzipiell gut denkbar ist, wäre sie vermutlich anders ausgefallen. So verspottet sie jedoch eher den Glauben der Bevölkerung an dubiose Wunderheiler[4], worauf die verwendeten Wundermittel – pulverisierter Menschenkot und eine Salbe unbekannter Zusammensetzung - sowie auch die oben erwähnte zauberspruchartige Formulierung hindeuten. Auch die Tatsache, dass der Kopf mit nur „quinze ou seize poincts de agueille“ ziemlich hastig wieder festgenäht wird, und die endgültige Heilung durch ein sogenanntes „resuscitatif“ hervorgerufen wird, unterstützt diese Lesart.
[...]
[1] Z.B. am Hôtel-Dieu de Notre-Dame de la Pitié du Pont-du-Rhône in Lyon (Hausmann 1997, 61).
[2] « Mais que diray je des pauvres vérolez et goutteux ? O, quantes foys nous les avons veu, à l’heure que ilz estoyent bien oingtz et engressez à poinct, et le visage leur reluysoit comme la claveure d’un charnier, et les dentz leur tresailloyent comme font les marchettes d’un clavier d’orgues ou d’espinette quand on joue dessus, et que le gosier leur escumait comme à un verrat que les vaultres on aculé entre les toilles ! » (Pantagruel, 39).
[3] « Comment Epistémon, qui avait la couppe testée, fut guéry habillement par Panurge » (Pantagruel, 383) ; « je vous le guériray aussi sain qu’il fut jamais » (Pantagruel, 385) ; « non par espoir qu’il jamais guérist » (Pantagruel, 385) ; « Si je ne le guéry » (Pantagruel, 385) ; « A ceste heure est-il guéry asseurément » (Pantagruel, 385) ; « En ceste faczon feust Epistémon guéry habillement » (Pantagruel, 385).
[4] Vgl. Antonioli, Roland: „La Guérison d’Epistémon“ in: Etudes Rabelaisiennes XII, Genf : Droz, 1976.
- Quote paper
- Judith Huber (Author), 2003, Epistémons Höllenfahrt - Das XXX. Kapitel des Pantagruel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24861
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