Die Ausgangsfrage dieser Arbeit lautet, stark vereinfacht: Wie kommt die Geschichte - im Sinne von Historie - in die Erzählung, den Roman? Die Frage ist literaturwissenschaftlich von einigem Belang, sie reflektiert auf die Logik der Rezeptionsästhetik und auf die Logik der ästhetischen Produktion von Literatur. Sie hat gewichtige Voraussetzungen. Wird eine literarische Erzählung in der Vergangenheit plaziert, dann muß diese Vergangenheit, soll sie nicht beliebige Staffage und Hintergrund bleiben, sondern ihrerseits eine ‚Rolle‘ spielen, korrekt und zutreffend eingeführt werden. Das heißt, sie muß erinnert werden. Das ist für den Fall solcher Fiktion, die sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auf eine weiter entfernte Vergangenheit bezieht, ein Problem, das näherungsweise durch ein Quellen- und Geschichtsstudium gelöst werden kann. Erinnerung geschieht mittelbar. Wie aber verhält es sich mit fiktionalen Texten, die sich auf eine nähere, jüngere Vergangenheit beziehen? Auf eine Vergangenheit, die der Autor selbst erlebt hat und zu deren ‚Bild‘ er beiträgt? Welche Rolle spielt in diesem Fall das Erinnern, wenn es Konstituens der Fiktion wird?
In Deutschland ist mit der Diskussion dieser Frage gewissermaßen von der anderen Seite her begonnen worden: Was geschieht, wenn das Erinnern ausfällt oder mißlingt? W.G. Sebald kommt in seinen 1997 gehaltenen Vorlesungen über »Luftkrieg und Literatur« zu dem Befund, daß „das große deutsche Kriegs- und Nachkriegsepos bis heute ausgeblieben ist“ 1 . Als Grund für diesen Befund führt er eine dreigliedrige Deformation des Erinnerungsvermögens an. „Der … deutsche Wiederaufbau, der, nach den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unterband durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.“ 2
Inhalt
1. Einleitung
2. Erinnern und Vergessen
2.1 »Kulturelles Gedächtnis«
2.2 Israel - »Wenn dich morgen dein Sohn fragt«
2.3 Katastrophen des Vergessens
2.4 Ertrag: Erinnerung
3. Poetik des realistischen Romans
3.1 »sagen, wie es wirklich ist« – Bedingungen und Gefahren: Adorno
3.2 Kategorien der Erzählsituation: Gérard Genette
3.2.1 Modus
3.2.2 Stimme
3.3 »Fabeln von der Zeit«: Paul Ricœur
3.3.1 Mimesis
3.3.2 Spiele mit der Zeit I
3.3.3 Spiele mit der Zeit II
3.4 Ertrag: Roman
4. Hermann Lenz: »Neue Zeit«
4.1 »Neue Zeit«
4.1.1 Kontext: Der »Eugen Rapp«-Zyklus
4.1.2 Passive Distanz zur Zeit: »ohnmächtig sein und gelähmt bleiben«
4.1.3 Aktive Distanz zur Zeit: »Ich schieß doch auf keinen Verwundeten.«
4.2 Poetik
4.2.1 Erzählperspektive und Sprechsituation
4.2.2 Selbstvergewisserung
4.2.3 Sich dehnende Gegenwart
4.3 Interpretation
4.3.1 Fokussierung des Schreckens
4.3.2 Eugen Rapp als Resonanzraum von Geschichte
4.4 Zusammenfassung
5. Martin Walser: »Ein springender Brunnen«
5.1 »Ein springender Brunnen«
5.1.1 Kontext: Ein exzeptionelles Werk
5.1.2 Die Paradoxie des interessenlosen Interesses an der Vergangenheit
5.1.3 Landschaft, Geschichte, Sprache
5.2 Poetik
5.2.1 Präferenz des Erlebens
5.2.2 Sprache und Sprachkritik
5.2.3 Interne Fokalisierung
5.3 Interpretation
5.3.1 Bruchloses Erleben
5.3.2 Irritationsresistenz
5.3.3 Resonanzverweigerung
5.4 Zusammenfassung
6. Schluß – »Erinnerungsroman«
7. Literaturverzeichnis / Sigelliste
8. Erklärung
Hinweis des Verfassers:
Diese Wiedergabe meiner Arbeit »Geschichte erinnern, Geschichte erzählen« entspricht in folgenden Punkten nicht dem für die Erste Staatsprüfung für das Amt des Studienrates im Fach Deutsch beim Landesamt für Lehramtsprüfungen des Landes Berlin (PLB) eingereichten Text:
(1) Die ursprünglich in alter deutscher Rechtschreibung abgefaßte Ar-beit wurde in den von mir verfaßten Teilen an die Maßstäbe der neuen deutschen Rechtschreibung angeglichen und so beim PLB eingereicht. Für diese Wiedergabe wurde die Originalfassung wiederhergestellt.
(2) Um der Leserfreundlichkeit willen wurden die Seitenränder vergrößert. Dadurch entspricht die hier gegebene Seitenzählung nicht der Seitenzählung der beim PLB eingereichten Textfassung der Arbeit.
(3) Erst im Zuge der Herstellung dieser Fassung wurden nachträglich vier Rechtschreibfehler und ein Grammatikfehler korrigiert.
1. Einleitung
Die Ausgangsfrage dieser Arbeit lautet, stark vereinfacht: Wie kommt die Geschichte – im Sinne von Historie – in die Erzählung, den Roman?
Die Frage ist literaturwissenschaftlich von einigem Belang, sie reflektiert auf die Logik der Rezeptionsästhetik und auf die Logik der ästhetischen Produktion von Literatur. Sie hat gewichtige Voraussetzungen. Wird eine literarische Erzählung in der Vergangenheit plaziert, dann muß diese Vergangenheit, soll sie nicht beliebige Staffage und Hintergrund bleiben, sondern ihrerseits eine ‚Rolle‘ spielen, korrekt und zutreffend eingeführt werden. Das heißt, sie muß erinnert werden. Das ist für den Fall solcher Fiktion, die sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auf eine weiter entfernte Vergangenheit bezieht, ein Problem, das näherungsweise durch ein Quellen- und Geschichtsstudium gelöst werden kann. Erinnerung geschieht mittelbar. Wie aber verhält es sich mit fiktionalen Texten, die sich auf eine nähere, jüngere Vergangenheit beziehen? Auf eine Vergangenheit, die der Autor selbst erlebt hat und zu deren ‚Bild‘ er beiträgt? Welche Rolle spielt in diesem Fall das Erinnern, wenn es Konstituens der Fiktion wird?
In Deutschland ist mit der Diskussion dieser Frage gewissermaßen von der anderen Seite her begonnen worden: Was geschieht, wenn das Erinnern ausfällt oder mißlingt? W.G. Sebald kommt in seinen 1997 gehaltenen Vorlesungen über »Luftkrieg und Literatur« zu dem Befund, daß „das große deutsche Kriegs- und Nachkriegsepos bis heute ausgeblieben ist“[1]. Als Grund für diesen Befund führt er eine dreigliedrige Deformation des Erinnerungsvermögens an.
„Der … deutsche Wiederaufbau, der, nach den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen, einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unterband durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.“[2]
Arbeitsbelastung und neue Wirklichkeit, Ausrichtung auf die Zukunft, Verpflichtung zum Schweigen über das Erlebte. Das bedeutet genauer: Ein Bewußtsein des politisch und militärisch verlorenen Krieges hat sich als ein Identitätsbewußtsein deshalb nicht herausgebildet, weil es nach dem 8. Mai 1945 faktisch nicht zu einer nachhaltigen Reflexion der entstandenen Situation hatte kommen können. Die in jeder Hinsicht vollkommene Desavouierung des NS-Staates, die völlige militärische Niederlage von Heer, Luftwaffe und Marine, die Totalität des Bombenkrieges gegen deutsche Städte, die Vertreibung und der restlose Verlust aller Ostgebiete wurden zwar zu Erfahrungen, aber eben solchen, die unreflektiert blieben. Zum einen forcierte der überlebensnotwendige Zwang zum Aufbau neuer ziviler Strukturen einen handfesten instrumentellen Gebrauch der Vernunft: Nahrung, Kleidung, Wohnung und Verkehr waren die Gegenstände unmittelbarer Sorge. Zum anderen stand die moralische Diskreditierung Deutschlands und seiner Bevölkerung einer abgewogenen Unterscheidung von Täterschaft und Opferschicksal entgegen. Daß sich die Brutalität des Angriffskrieges, der von Deutschland ausgegangen war, auf dessen Bewohner zurückwendete, wurde als gerechte Wiederherstellung der sittlichen Ordnung empfunden:
„Beim jüngsten britischen Raid über Hitlerland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt. … lieb ist es mir nicht, zu denken, daß die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffer-Gesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß.“[3]
Unter der Maßgabe solcher Einstellungen war auf Seiten der Zivilbevölkerung und der heimkehrenden Soldaten an ein freies Sprechen bezüglich der eigenen Widerfährnisse kaum zu denken. Sebald meint denn auch, daß sich der „Wirklichkeitssinn“ der Literatur der Bundesrepublik Deutschland nach 1945
„bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff zu bringenden Welt [erwiesen hat]. Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden.“[4]
Um es klar zu sagen: Damit ist nicht gemeint, daß durch die politisch und militärisch als Gewinner des Krieges dastehenden Alliierten und der ihnen sich verbunden fühlenden Intellektuellen des »anderen Deutschland« eine Definitionshoheit bezüglich des Selbstverständnisses der Deutschen ausgeübt worden wäre, sondern es ist gemeint, daß unter der Wucht und Gewalt des Eindruckes der Niederlage eine »Abschaltung«[5] des Selbsterlebens stattgefunden hat, die zum einen eine Entlastungsfunktion für das Überleben hatte und zum anderen zur Bedingung der Möglichkeit einer Rekonstruktion und Redefinition von Identität nach der Niederlage wurde. Die intellektuelle und moralische Annahme der trilemmatischen Situation, zugleich Tätervolk und Opfergruppe zu sein und beides ineins zu denken und öffentlich zu behaupten, wäre eine Überforderung gewesen, die möglicherweise jedes intellektuelle Begriffsvermögen überstiegen und blockiert haben würde, das zum »Wiederaufbau« so dringend gebraucht wurde. Die Unmöglichkeit der Distanz zum Geschehenen ist ein Grund dafür, der Schock über die grauenhaften Verbrechen des NS-Regimes, dem man – mehr oder weniger – gefolgt war, ein anderer. Die Proklamation einer »Stunde Null« scheint hier ein gangbarer (Aus-?) Weg gewesen zu sein, das Trilemma vorläufig aufzulösen. Der Befund Sebalds, für „die überwiegende Mehrzahl der während des Dritten Reichs in Deutschland gebliebenen Literaten war die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945 ein dringlicheres Geschäft als die Darstellung der realen Verhältnisse, die sie umgaben“, ist ja wahr.
Aber gleichzeitig setzt sein Befund Fragen an die Instanzen »Gedächtnis« und »Erinnerung« frei. Denn selbst wenn die Erfahrungen der Schriftsteller so traumatisch waren, daß sie nicht Literatur wurden, in der Erinnerung und im Gedächtnis sind sie gleichwohl. Sebalds These von Amnesie und Selbstzensur sowie seine Einschätzung der Funktionsweise der individuellen Psyche wie des kollektiven Bewußtseins unter Schriftstellern setzt voraus, a) daß es solche Prozesse wirklich gibt und b) daß es möglich ist, solche Funktionen und Prozesse systematisch zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen.
Löst man diese Prozesse und ihre Voraussetzungen aus dem Kontext der literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Reflexionen Sebalds, läßt sich als allgemeine Frage an den schriftstellerischen modus procedendi formulieren: Wie wird Geschichte erinnert? Wie wird sie in Geschichten erzählt? Wie wird aus Erinnerung Erzählen? Wie wechselwirken Erinnern und Erzählen miteinander? Und wie kommt beides beim Leser an?
Um diesen Fragen nachzugehen, untersucht die Arbeit zunächst den Zusammenhang von »Erinnern und Vergessen« (Kap. 2) in mentalitäts- und kulturhistorischer Beziehung. Da es um die Formulierung von Erinnerungen in Literatur, speziell im Roman geht, folgt dem eine poetologische Untersuchung zur Leistung und Struktur des realistischen Romans (Kap. 3). Gèrard Genettes strukturale Untersuchungen zur Narratologie und Paul Ricœurs hermeneutischer Begriff der mimetischen Konfiguration und der Refiguration werden wichtig, um den produktionsästhetischen Stellenwert von »Erinnerung« für die literarische Erzählung zu erheben.
Daran schließt sich die exemplarische Untersuchung zweier Romane an. Kapitel 4 behandelt Hermann Lenz’ Roman »Neue Zeit«, Kapitel 5 behandelt Martin Walsers »Ein springender Brunnen«. Diese beiden Romane lassen ihre Protagonisten im selben Zeitraum agieren: 1933 bis 1945, also in jener Zeit, für die Sebald »Amnesie« und »Selbstzensur« in bezug auf Kriegserfahrungen behauptet hat. Beide Romane gelten der Literaturkritik als autobiographische Romane.[6] Ihre Erzählungen sind zwar unmittelbar an das Erinnerungsvermögen ihrer Autoren angeschlossen. Dennoch handelt es sich in erster Linie um Romane, nicht um Autobiographien.[7] In diesem Sinne werden beide Romane poetologisch und narratologisch reflektiert und gedeutet.
Daß beide Romane »Erinnerungsromane« sind, ist die Behauptung, mit der die Arbeit schließt (Kap. 6). Dazu wird ein Versuch unternommen, den Begriff »Erinnerungsroman« zu definieren und ihn gegen die Begriffe vom »historischen« Roman und »Zeit«-Roman abzugrenzen.
2. Erinnern und Vergessen
Wenn W.G. Sebald davon spricht, daß sich der „Wirklichkeitssinn“ der bundesdeutschen Literatur bzw. der Literaten „bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff zu bringenden Welt“[8] erwiesen habe, dann ist dies nicht nur eine Aussage über literaturgeschichtliche Verhältnisse. Er spricht von »individueller« und »kollektiver« Amnesie, also von einem Gedächtnisverlust, der wohl nicht nur Schriftsteller betrifft, sondern das gesamte Gemeinwesen. Der Begriff der »Verschleierung« insinuiert, daß diese Amnesie willkürlich herbeigeführt worden ist. Die Amnesie ereignet sich also nicht einfachhin, sie wird ins Werk gesetzt. Ob dies bewußt, billigend oder absichtlich und planvoll geschehen ist, sei dahingestellt.[9] Entscheidend ist die Feststellung, daß es eine solche Amnesie gegeben hat. Und das ist ein erstaunliches Faktum.
Der »totale Krieg« (Goebbels), der in eine totale Niederlage und in schwerste Verwüstungen Deutschlands mündete, ist seinerseits ein Faktum, mit dem die Überlebenden des Krieges nach dem 8. Mai 1945 noch auf Jahre massiv konfrontiert gewesen sind. Die zu beerdigenden Toten, die den Hunger nur knapp mildernden Lebensmittelrationen, die allgegenwärtigen Ruinen der Städte waren mit Händen zu greifende Erinnerungsmale, denen auszuweichen gar nicht möglich gewesen ist. Gemessen am Stand des Niveaus, das städtische Architektur, Verkehrswegebau und das mit historischen Bedeutungen aufgeladene Traditionsverhältnis städtischen, dörflichen und ländlichen Selbstbezuges 1933 innehatte, bedeutet die materielle Zerstörung Deutschlands gegen Ende des Krieges einen massiven kulturellen Bruch mit allem, was bis dahin »Heimat« geheißen hatte.
Die Erfahrung dieses Bruches ist vor allem eine Erfahrung des Verlustes: Verlust an Menschenleben, Verlust an Wohn- und Stadtraum, Verlust an manifesten Zeugnissen eigener historischer Identität. Letzteres ist vor allem die Möglichkeit, sich und seinesgleichen als abkömmlich aus Gründerzeit, Renaissance oder Mittelalter zu beschreiben und zu erfahren durch den bloßen Anblick der Zeugnisse jener Zeit in der Topographie des eigenen Lebensraums. Ab 1945 kann man solche Identität noch wissen, aber nicht mehr sehen. Die Erfahrung allgemeiner Zerstörung mündet so ein in eine Erfahrung des Identitätsverlustes.
Diese Erfahrung ist seinerseits noch verstärkt durch den moralischen Bankrott der jüngsten Vergangenheit. „Im Jahre 1945 gab es keine Autorität in der deutschen Öffentlichkeit, die nicht kompromittiert gewesen wäre.“[10] Weil alle in Deutschland verbliebenen Deutschen moralisch desavouiert waren, gab es keinen Deutschen, der als Deutscher an irgendeine Tradition der Zeit nach 1933 hätte anknüpfen können oder wollen bzw. dürfen.[11] Was »Neuanfang« oder »Stunde Null« hieß, erlaubte keinen normativen erinnernden Rückbezug auf die Zeit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, es sei denn in der Negation.
Das sind insgesamt keine guten Voraussetzungen für eine gelingende, d.h. vollständige Gedächtniskonstruktion. Denn wiewohl das „leidvolle Schicksal, das Juden, Polen, Serben und Russen während der nationalsozialistischen Herrschaft zuteil wurde, … nicht nur zeitlich, sondern im gewissen Sinn auch ursächlich vor den Leiden der Deutschen“[12] steht, bleibt eine Erinnerungskultur, die, weil sie von den selbstverschuldeten Ursachen der eigenen Verbrechen ausgeht, die eigene Leiden nur in der Weise angemessen wahrnehmen zu dürfen meint, daß sie in Kauf zu nehmende Kosten der sittlich gerechtfertigten Abwehr der Angegriffenen waren, bei allen ihren Verdiensten nur eine unabgeschlossene und unvollständige. Der „vorbewußte Prozeß“[13], von dem Sebald spricht, könnte darin bestehen, daß das Schuldeingeständnis und vor allem das Schuld bewußtsein der Ermöglichung der NS-Diktatur und der Beteiligung an einem beispiellos verbrecherischem Regime eine differenzierte Reflexion des Bewußtseins für das Gerechtigkeitsproblem des selbst empfangenen Leidens in einem archaischen Reflex des ›wir haben es uns selbst zuzuschreiben‹ blockiert worden ist. Ein circulus vitiosus, vor dem die Erinnerung aussetzt[14] und sich auch später zu keiner „Erinnerungsarbeit“[15] mehr fähig sieht. Der Verzicht auf die Erinnerungsarbeit hat seinen Preis. Denn die Erfahrung des »Bruchs« verlangt geradezu eine erinnernde Verarbeitung, weil nur so Vergangenheit nur als eigene, sondern überhaupt als Vergangenheit erfaßt werden kann.
2.1 »Kulturelles Gedächtnis« – Medium und Gegenstand
„Die Vergangenheit … entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie bezieht.“[16]
Vergangenheit ist nicht einfachhin da, sondern entsteht als ein Konstrukt aus dem Bemühen erinnernder Bezugnahme auf sie. Erinnerung, Identität und kulturelle Kontinuierung stellen im Verbund für jede Kultur deren „konnektive Struktur“[17] dar, auf deren Basis sie sich von ihren Angehörigen als Einheit in der Zeit begreifen läßt.
Jan Assmanns Studie über das »kulturelle Gedächtnis« bietet vor allem in theoretischer Hinsicht wertvolle Einsichten in den Themenkomplex Erinnern und Vergessen. In kritischer Auseinandersetzung mit Maurice Halbwachs[18] entwickelt Assmann die Kategorien der sozialen Konstruktion, der Formen kollektiver Erinnerung und der Optionen des kulturellen Gedächtnisses, die den Basisbegriff »kulturelles Gedächtnis« anschaulich werden lassen. Im folgenden wird dieser Basisbegriff skizziert, weil er für die Frage nach der Rolle und Bedeutung der Erinnerung im Zusammenhang mit der narrativen Leistung des »Erinnerungsromans« relevant ist.
Wenn Vergangenheit nur dadurch entsteht, daß man sich auf sie bezieht, dann darf sie nicht ganz verschwunden sein, sondern in irgendeiner Weise noch präsent. Gleichzeitig muß eine gewisse Differenz zur, ein Bruch mit der Gegenwart bestehen, vor dem sich das Vergangene als deren Anderes abhebt. Ist das der Fall, dann kann jeder „tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch … zur Entstehung von Vergangenheit führen, dann nämlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird. Neuanfänge … treten immer in der Form eines Rückgriffs auf die Vergangenheit auf. In dem Maße, wie sie Zukunft erschließen, produzieren, rekonstruieren, entdecken sie Vergangenheit.“[19] Paradigmatisch und in nuce zeigt sich dieses Verhältnis im Totengedenken, in der Memorialkultur einer Gesellschaft, wenn über den realen Bruch »Tod« hinweg auf die Verstorbenen ausgegriffen wird, um sie der Gesellschaft gegenwärtig zu halten und in solcher Praxis Zukunft als Dauer der Gemeinschaft beschrieben wird – im Gedächtnis der Angehörigen.
Gedächtnis, auch kollektives, als Eigenschaft einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu beschreiben, scheint zunächst wenig plausibel. Denn Träger des Gedächtnisses sind in illiteraten Gesellschaften immer einzelne Personen, die sich erinnern. Gleichwohl ist die Organisation des Erinnerns nicht beliebig. „Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den ‚Rahmen‘, die seine Erinnerung organisieren. … Mit anderen Worten: das individuelle Gedächtnis baut sich in einer bestimmten Person kraft ihrer Teilnahme an kommunikativen Prozessen auf.“[20] Der Einzelne hat also durchaus seine Erinnerungen, aber er besitzt sie, weil und indem er sie mit anderen teilt. „Vom Individuum aus gesehen stellt sich das Gedächtnis als ein Agglomerat dar, das sich aus seiner Teilhabe an einer Mannigfaltigkeit von Gruppeninteressen ergibt; von der Gruppe aus gesehen stellt es sich als eine Frage der Distribution dar, als ein Wissen, das sie aus ihrem Innern, d.h. unter ihren Mitgliedern verteilt.“[21]
Aus der Praxis dieser Dialektik von Distribution und Agglomeration ergibt sich aber kein Sätze-Wissen (wiewohl es im Rahmen einer Lehre dazu ausgebaut werden kann), sondern eine Repräsentanz des erinnerten Gewußten in „Erinnerungsfiguren“, die aus dem „Zusammenspiel von Begriffen und Erfahrung“[22] resultieren. In drei Merkmalen[23] läßt sich dieses Zusammenspiel beschreiben: Erstens besteht ein Raum- und Zeitbezug der Gruppe zu ihrer Umwelt und Dingwelt sowie zu ihrer Auffassung und Gestaltung der Zeit des Jahreskreises oder anderer Perioden, worin sie das Erinnern verankert. Zweitens bezieht die Gruppe ihr Erinnern auf sich, es ist nicht übertragbar, sondern identitätskonkret. Selbstbilder in Raum und Zeit beschreiben Überzeugungen, Werte und Intentionen der realen Gemeinschaft. In der Erinnerung sieht sie sich. Drittens hat die Gemeinschaft kein archivarisches Interesse an der Vergangenheit, sondern ein rekonstruktivistisches. Nicht die Vergangenheit als solche wird in der Erinnerung verwahrt, sondern nur dasjenige Vergangene, das der Gemeinschaft in bezug auf sich selbst bedeutsam erscheint. Das ist durchaus keine Willkür, sondern betrifft im erkenntnistheoretischen Problemfeld von Historie und Gedächtnis auch die Geschichtswissenschaft selbst, wenn sie sich in der Beschreibung von Vergangenem vor der Verwechselung von historischer Tatsache und wirklichem Ereignis hüten muß: „Die Tatsache ist nicht das Ereignis selbst, sondern der Inhalt einer Aussage, die darauf abzielt, dieses zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne müßte man immer schreiben: die Tatsache, daß (dieses oder jenes) geschehen ist.“[24] Was der Gemeinschaft als für das kollektive Gedächtnis bewahrenswert erscheint, wird also rekonstruiert und konkretisiert und gewinnt so memorierbare Gestalt. Es wird »Erinnerungsfigur« (z.B. Heroengeschichte, Passionsgeschichte).
Das kollektive Gedächtnis kennt jedoch unterschiedliche modi operandi des Erinnerns. Weil das Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung immer der einzelne Mensch ist, ist das Erinnerungsmaterial durch die natürliche Grenze des Todes von Verlust bedroht. Dort, wo die Gehalte des Gedächtnisses kommuniziert werden, reicht die Erinnerung etwa 80 Jahre zurück, umfaßt also die Träger von Erinnerung in drei oder vier Generationen. Eine „kritische Schwelle“[25] ist bei 40 Jahren auszumachen. Die direkte Erinnerung schwindet durch Alter und Tod und kann nur noch indirekt bewahrt werden im Gedächtnis derer, die den Erinnerungsträger gekannt haben. Das Gedächtnis, das sich derart auf die rezente Vergangenheit bezieht, nennt Assmann das „kommunikative Gedächtnis“[26] und unterscheidet es vom „kulturellen Gedächtnis“, das „Sache einer institutionalisierten Mnemotechnik“[27] ist, also in den Aufgabenbereich von eingewiesenen und kompetenten Spezialisten fällt.
Mit der Unterscheidung von »kulturellem« und »kommunikativen« Gedächtnis geht die Polarität von „fundierender“ und „biographischer“[28] Erinnerung einher, die sich sozial als „Partizipationsstruktur“[29] niederschlägt. Die Teilhabe an fundierender Erinnerung ist gesellschaftlich differenziert, nicht jeder hat daran teil, sondern eben Spezialisten, die zu ausgewiesenen Trägern, Kennern und Repräsentanten des kollektiven Gedächtnisses geschult werden; an biographischer Erinnerung hat hingegen jedes Mitglied der Gemeinschaft teil, hier ist die Teilhabe diffus, das heißt, sie ist allgemein präsent in einem »Wir« der Gemeinschaft. Sie ist alltäglich. Die Partizipation am kulturellen Gedächtnis geschieht – in illiteraten Gesellschaften – für alle in einem öffentlichen Akt, in Fest und Ritus. Alle hören oder sehen, was zu den Fundamenten der Gemeinschaft gehört und sie damit ausmacht und begründet. Die Leistung und Funktion dieser Partizipation ist es, im Symbol dasjenige zu vergegenwärtigen, ohne das es die Gemeinschaft nicht gäbe, sei es eine Gründung oder Stiftung oder eine besondere Situation, die zu einem Wechsel der Qualität der Selbstwahrnehmung geführt hat. „Durch das kulturelle Gedächtnis gewinnt das menschliche Leben eine Zweidimensionalität oder Zweizeitigkeit, die sich durch alle Stadien der kulturellen Evolution erhält.“[30] Dies ist nur bedingt als Bezugnahme auf konkrete historische Daten zu verstehen – so wie etwa die Erfahrung des Holocaust Material der fundierenden Erinnerung ist, die im Staat Israel tradiert wird – es kann diesbezüglich auch auf Sachverhalte bezug genommen werden, die gar nicht historisch sind. Es betrifft dies die „Gründungen … die [ sic! ] niemals ›Ereignisse‹ waren, an welche man sich erinnern könnte; dasjenige, was wir niemals wirklich erfahren haben und was uns dennoch zu dem macht, was wir sind: Kräfte des Lebens, schöpferische Kräfte der Geschichte, Ursprung.“[31]
Diesem Begriff der fundierenden Erinnerung kommt besondere Bedeutung zu, wenn nach der sozialen Leistung und Funktion dieser Erinnerung für die Gemeinschaft gefragt wird. Das wiederholte öffentliche Rekurrieren auf die fundierende Erinnerung in Fest oder Ritus, führt dazu, daß die dabei erzählte Geschichte zu einem „Mythos“[32] wird, der zu erinnernde Geschichte nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern in Funktion zu dem steht, was kulturelle Identität und politische Imagination der Gemeinschaft definiert. Identität, Bewußtsein und Reflexivität der Gemeinschaftsmitglieder werden – weil sie nicht bloß Hörer, sondern Subjekte des Mythos sind – durch die mythische Erzählung formiert, indem die Erzählung verinnerlicht wird. Solche Erzählungen sind in dem Sinne „fundierende Geschichten“[33], als sie für die Gemeinschaft „fundierende Bedeutung“[34] haben. Dabei ist es unerheblich, ob die erinnernde Bezugnahme auf ein Ereignis in absoluter oder relativer Vergangenheit (Cassirer) geschieht. Das Beispiel Israels und seine für es konstitutiven Begriffen »Exodus« und »Landnahme« machen das deutlich: „Israels Schritt besteht in der Umbesetzung der Funktionsstelle fundierende Geschichte: Wo die Nachbarkulturen sich auf kosmische Mythen gründen, setzt Israel einen geschichtlichen Mythos ein und verinnerlicht dadurch sein geschichtliches Werden; … ‚um es zum Motor seiner Entwicklung zu machen‘.“[35]
Der Mythos kann seiner Funktion nach, um in diesem Zusammenhang noch eine letzte Unterscheidung einzuführen, fundierende oder kontrapräsentische Bedeutung haben. Fundierende Bedeutung hat er dann, wenn die von ihm gebotene Verstehensleistung der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft konservativ verfährt: Was ist, war schon immer so und soll immer so bleiben, weil es im Rahmen der fundierenden Geschichte „sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich“[36] erscheint. Kontrapräsentische Bedeutung hat der Mythos, wenn er in dieser Verstehensleistung produktiv und kreativ verfährt. Eine negativ und als defizient erlebte Gegenwart erscheint dann in der Wahrnehmung der fundierenden Geschichte als im Status von Verlust, Abfall von Früherem befindlich, die Differenz von »einst« und »jetzt« offenbarend. Solche Einsicht kann die Motivation für eine Veränderung wecken (wie Assmann sie für die Josianische Reform im Israel des 7. Jahrhunderts v. Chr. beschreibt[37] ) und damit eine Angleichung der Gegenwart an die Standards der mythischen Vergangenheit bewirken. Denn die „Charakterisierung fundierend und kontrapräsentisch kommt … nicht dem Mythos als solchem zu, sondern vielmehr der selbstbildformenden und handlungsleitenden Bedeutung, die er für eine Gegenwart hat, der orientierenden Kraft, die er für eine Gruppe in einer bestimmten Situation besitzt.“[38]
2.2 Israel – »wenn dich morgen dein Sohn fragt…«
Diese orientierende Kraft, die fundierend oder kontrapräsentisch im Mythos zur Sprache kommt, ist es, die im Folgenden an einem Beispieltext des Alten Testamentes genauer auf ihre Leistung hin analysiert werden soll. Es handelt sich dabei um einen kanonischen Text, der dem Begriff des »fundierenden Mythos« zugeordnet werden kann und der wegen seines liturgischen Ortes in der Feier des Pessach-Festes in dieser Funktion auch interpretiert werden kann.
„20Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, 21dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten herausgeführt. 22Der Herr hat vor unseren Augen gewaltige, unheilvolle Zeichen und Wunder an Ägypten, am Pharao und an seinem ganzen Haus getan, 23uns aber hat er dort herausgeführt, um uns in das Land, das er unseren Vätern mit einem Schwur versprochen hatte, hineinzuführen und es uns zu geben. 24Der Herr hat uns verpflichtet, alle diese Gesetze zu halten und den Herrn, unseren Gott, zu fürchten, damit es uns das ganze Leben lang gut geht und er uns Leben schenkt, wie wir es heute haben. 25Nur dann werden wir (vor Gott) im Recht sein, wenn wir darauf achten, dieses ganze Gesetz vor dem Herrn, unserem Gott, so zu halten, wie er es uns zur Pflicht gemacht hat.“ (Dtn 6,20-25)
Die Verse 21b-25 bilden die rituelle Antwort auf die Frage des jüngsten Familienmitgliedes am Tisch des Pessach-Mahles, warum man dieses Fest feiere. Es fällt auf, daß der antwortende Älteste in der ersten Person Plural antwortet: „Wir waren Sklaven…“. Es heißt nicht: Unsere Vorfahren waren Sklaven. Der Gebrauch des „wir“ gliedert den Sprechenden in die historische Gruppe semitischer Nomaden ein, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. „ins Ostdelta [sc. der Nilgegend] eingewandert waren und dort in die Mühle der ägyptischen Frondienstpraxis gerieten“[39]. Der Rekurs der Antwort richtet sich also – bei aller Ungenauigkeit der Sachkenntnis – auf eine Gruppe, deren Mitglieder vor etwa 3250 Jahren gelebt haben!
Die Semantik und Bedeutung dieses „wir“ umfaßt aber noch mehr als nur diesen Bezug. Seiner theologischen Logik nach besagt es, daß es den Sprecher und die Hörer des „wir“ nicht geben würde, wenn es nicht dieses Ereignis der Herausführung gegeben hätte. Das ist ein erster Grund des pluralen Ich-Sagens. Das kontingente Faktum eines Daseins in der Gegenwart des »Heute« ist in der Perspektive der damaligen Ereignisse ein bedeutungsvolles Faktum, weil das Ereignis selbst aus der Kontingenz der Historie herausragt. Mit dem „Wir“-Sagen „hat der Sprecher sich selbst in die Heilsgeschichte eingeordnet und hat in einer großartigen Verkürzung der Zeiten sich persönlich als den unmittelbaren Empfänger des Heilsgeschehens der Landesverleihung bekannt.“[40] Ein zweiter Grund des pluralen Ich-Sagens liegt in der Umkehrung jener Perspektive. Aus der Perspektive einer Gegenwart des »Heute« zeigt sich, daß eine planvolle Kontinuität hinter dem historischen Ereignis steht, die alles davor Gewesene und alles seitdem Gewesene affiziert. Denn dem »Herausführen« korrespondiert ein »Hereinführen« „in das Land, das er unseren Vätern mit einem Schwur versprochen hatte“ (Dtn 6,23). Dementsprechend stellt etwa das Darbringungsgebet (Dtn 26,5b-9, ein Dtn 6,20-25 vergleichbares Summarium) beim Erntefest genau diesen Zusammenhang her; das naturale Ereignis der Ernte wird in seiner Bedeutung erst im Kontext der Geschichte begriffen: „Das Darbringungsgebet in seiner ältesten, durch Jahrhunderte gebräuchlichen Fassung … wurde vom Sippenhaupt gesprochen und betonte den Kontrast zwischen dem vom Untergang bedrohten Umherirren des leiblichen Vaters oder Ahnherrn und der gesicherten Existenz der jetzigen Generation von Ackerbauern.“[41]
Mit den „Vätern“ sind die Gründerväter der Stämme Israels gemeint: Abraham, Issak und Jakob, dessen Sohn Joseph als erster nach Ägypten ging (Gen 11,10-50,26). In diesen Figuren und den ihnen zugeschriebenen Lebensgeschichten wird das Ereignis der »Herausführung« im Modus der Genealogie an eine Ursprungszeit (Schöpfung) angeschlossen. Der Ethnologe Jan Vansina nennt dieses Phänomen „die fließende Lücke“[42]. Assmann widerspricht Vansina in dem Befund, daß es für die jüngste Vergangenheit ausreichend Zeugnisse gebe, die „umso spärlicher werden, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht“.[43] Es zeige sich vielmehr, „daß von einer Lücke … gerade keine Rede sein kann. Im kulturellen Gedächtnis der Gruppe stoßen die beiden Ebenen der Vergangenheit vielmehr nahtlos aufeinander.“[44] Ursprungsgeschichte und jüngste Geschichte sind die „beiden Enden ohne Mitte“[45], zwischen denen die Genealogien und die gegebenenfalls in sie eingebetteten Geschichten eine wichtige Scharnierfunktion haben. Sie leisten diesen Anschluß, so daß die auf die »Väter« folgenden »Söhne« sich von dem die auf die »Väter« herabgekommen Ursprung gemeint fühlen können.
Zu den »Vätergeschichten« Israels gehört als Thema aller (Segens-)Geschichten das Versprechen der Landgabe hinzu.[46] Das Exodus-Ereignis steht daher in einem Kontext einer alt-bekannten Bestimmung: Gott macht an Israel wahr, was er ihm in den »Vätern« versprochen hat. Die »Herausführung« geschieht nicht nur, um das Gerechtigkeitsproblem der Unterdrückung zu lösen, sondern ist auch final orientiert. Das Ziel ist die »Hereinführung«.
In diesem Sinne ist die »Herausführung« kein isoliert zu verstehendes Ereignis, sondern gehört in den Plan, in den »Bund«, den Gott mit Israel geschlossen hat. Gott erfüllt seine Vertragspflicht der Fürsorge, die ihm aus dem Bundesvertrag[47] zuwächst, indem er »hereinführt«. Israel hingegen erfüllt seine Vertragspflicht, indem es die Qualität der Bundesbeziehung mit Gott nach der Maßgabe des »Gesetzes« beachtet und wahrt. Dies geschieht, „damit es uns das ganze Leben lang gut geht und er uns Leben schenkt, wie wir es heute haben.“ (Dtn 6,24) Das »gute Leben« ist der Ausdruck für eine stimmige Beziehung der Bundespartner. Dies wird im Pessach-Fest gefeiert, indem an das verdankte Wohlergehen erinnert wird und es im Festessen vergegenwärtigt wird.
Es handelt sich – in der Perspektive kulturwissenschaftlicher Logik – um eine fundierende Geschichte, die die politische und religiöse Identität Israels im Rahmen seines kulturellen Gedächtnisses definiert. Das gilt sogar dann oder auch dann noch, wenn Israel gar nicht in dem »Land der Verheißung« lebt, sondern in der Diaspora.[48]
Der Gesamttext, der dem oben genannten Schrift-Zitat seinen (späteren[49] ) Rahmen gibt, das Deuteronomium, stellt nämlich „als Gründungstext einer Form kollektiver Mnemotechnik … etwas vollkommen Neuartiges“[50] dar. Was Israel von sich weiß und als seine Identität begreift, wird hier „von außen nach innen verlagert, ins Imaginäre und Geistige transformiert, so daß ein geistiges ‚Israel‘ entsteht, das überall dort stattfinden kann, wo eine Gruppe zusammenkommt, um im Studium der heiligen Texte, die Erinnerung daran zu beleben.“[51] Diese „Mythomotorik“[52] erlaubt ein Identitätsbewußtsein, auch da »Israel« zu sein, wo gar kein staatlich verfaßtes Israel ist, ohne daß deswegen theologisch die Verheißungen obsolet würden und ohne daß soziologisch die Assimilation an fremde Kulturen das Selbstverständliche würde. Die Transformation kultureller Identität in ein Bewußtsein, das von Zeit und Raum unabhängig präsent ist und zukünftig präsent gehalten zu werden verspricht, gibt einen Hinweis darauf, wie Erinnern und kulturelles Gedächtnis unabhängig von physischer Evidenz des Bezeugten gestaltet werden kann – in der „Erschließung eines extraterritorialen oder ‚geistigen‘ Raumes der Beheimatung“[53].
2.3 Katastrophen des Vergessens
Wenn jeder „tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch … zur Entstehung von Vergangenheit führen [kann], dann nämlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird“[54], stellt sich die Frage, ob es auch ein Ausbleiben solcher Vergangenheitsentstehung geben kann. Ist es möglich, daß Menschen oder Gemeinschaften Brüche erleben, auf die sie nicht mehr vergangenheitsbildend Bezug nehmen können? Und was wären die Gründe für diesen Vorgang?
„Man denke an die Geschichte, welcher wir selbst beiwohnen; wer etwa das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland, oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, der wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt … sind; das Geschichtliche enthält eine Fülle widersprechender Motive in jedem Einzelnen, ein Schwanken und zweideutiges Tasten bei den Gruppen; nur selten kommt … eine allenfalls eindeutige, vergleichsweise beschreibbare Lage zustande, und auch diese ist … fast dauernd in ihrer Eindeutigkeit gefährdet;…“[55]
Auerbach spricht von „fühlen“, nicht von einsehen, verstehen. Nicht der Verstand, sondern die Affektivität leistet die Erkenntnis, daß „fast“ nichts mehr eindeutig erkennbar ist. Nicht der Bezug auf Vergangenes scheitert, sondern der Bezug auf die Gegenwart. Sie kann nicht Vergangenheit werden, weil die Kategorien, unter denen die Gegenwart „vergleichsweise“ beschreibbar wäre, nicht gegeben sind. Die staatlich organisierte Gewalt und Gegengewalt des Weltkrieges setzt ein ebenso hochdynamisches wie chaotisches Geschehen frei, daß kein „Rahmen“[56], in dem Erinnern organisiert werden könnte, mehr zustande kommt. „Kriege“, schreibt Harald Weinrich, „sind Orgien des Vergessens“.[57]
In seiner Analyse des Romans »Siegfried et le Limousin« von 1922 und des den Roman als Vorlage nutzenden Theaterstücks »Siegfried«, beide von Jean Giradoux, von 1928 versucht Weinrich diese These zu belegen. Ein französischer Germanist entdeckt in der Frankfurter einen Artikel Siegfrieds von Kleist, der durch die Eleganz seiner Sprache an eine französische Novelle erinnert, die von dem freund des Germanisten Jacques Forestier stammt. Forestier ist im Ersten Weltkrieg verschollen und gilt als vermißt. Der Franzose stellt Nachforschungen über den Deutschen an und erfährt, daß dieser ebenfalls im Krieg gekämpft hat, aber schwer verwundet wurde und sein Gedächtnis verloren hat. Er bricht gemeinsam mit der Verlobten Forestiers nach München/Gotha auf; beide erkennen in Siegfried den verlorenen Freund und verlobten. Mit diesem Vorgang koinzidiert, Daß Siegfried Französisch lernen möchte, weil ihn die Sprache anzieht. Ohne sie zu erkennen, engagiert als Lehrerin seine ehemalige Verlobte, die ihn in kürzester Zeit ein akzentfreies Französisch lehrt. Im Lernen der Sprache kehrt das Gedächtnis zurück und Siegfried begreift, wer er in Wahrheit ist.
Weinrich erkennt in dem „Amnesiefall eines kriegsverletzten Soldaten [das] Gleichnis einer anderen crise d’amnésie, nämlich [die] deutsch-französische Vergessenskrise“[58]. Die nachhaltigen Divergenzen zwischen beiden Staaten nach dem Krieg von 1870/71 und seit der Gründung des Deutschen Reiches haben die beiden Völker einander entfremdet. Was zuvor als „ein interessanter, stimulierender Kontrast“ empfunden worden war, „war schließlich im Ersten Weltkrieg ganz kollabiert: ein binationaler Gedächtnissturz mit den bekannten Folgen für Europa und den ganzen Planeten.“[59] Die auf den Schlachtfeldern zerstörte Erinnerung – und das ist für Weinrichs Untersuchung das zentrale Moment – wird auf dem Lernfeld Sprache neu justiert.
„Glücklicherweise gibt es … ein paar Residuen, in denen … ein kulturelles Gedächtnis überlebt hat. Giradoux ist überzeugt, daß die Sprache eine solche Restzone des Gedächtnisses ist, genauer gesagt, der Stil,… der … Ausdruck einer besonders tiefen Schicht des Menschheitsgedächtnisses ist: ‚Der Stil ist der Mensch selber‘ (Le style est l’homme même).“[60]
Außer, daß er dies feststellt, verfolgt Weinrich den Gedanken nicht weiter.[61] Dabei ließe sich am Medium Sprache verfolgen, inwiefern sich über das Sprechen der Sprache des Anderen ein Hinweis auf die Lösung ergibt, wie sich die Zerrüttung eines einstmals gemeinsam („binational“) funktionierenden Gedächtnisses restaurieren ließe. Wenn nämlich der glücklich in Deutschland inkulturierte Siegfried/Jacques den Deutschen als der Franzose, der er ist, seine erworbene Sicht des Deutschen mitgeteilt hätte, um die Deutschen ihr Eigenes durch einen Anderen hören zu lassen. „Das Schwierigste ist nicht, ›anders zu erzählen‹, oder ›sich von den Anderen erzählen‹ zu lassen, sondern die Gründungsereignisse unserer eigenen kollektiven, vor allem aber nationalen Identität anders zu erzählen; aber das weitaus Schwierigste ist und bleibt, diese Gründungsereignisse ›von den Anderen erzählen‹ zu lassen.“[62] So aber blieb der „binationale Gedächtnissturz“ ohne Behandlung und wurde chronisch, das Vergessen perpetuiert.
[...]
[1] Sebald (2002), 6.
[2] Sebald (2002), 15f.
[3] Mann (1990) XI, 1034: Deutsche Hörer, Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland, Sondersendung April 1942. Dies dürfte der paradigmatische Text für dieses Empfinden sein.
[4] Sebald (2002), 17.
[5] Auf diesen Begriff komme ich im Zusammenhang mit dem Historiker Jörg Friedrich in Kapitel 2 noch eingehender zu sprechen.
[6] Thorsten Jantschek spricht im Interview mit Hermann Lenz von der „Reihe der autobiographischen Eugen-Rapp-Romane“. Deutschlandradio, »Büchermarkt«, Sendung vom 12. Mai 1998. Zit. nach: http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-lit-buch/2159.html
Dirk Knipphals: „‚Ein springender Brunnen‘ ist ein kaum verhülltes, autobiografisches Erinnerungsbuch.“ Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 7. August 1998 Nr. 32/1998.
Hajo Steinert: „Endlich hat Martin Walser den lange von ihm erwarteten autobio-graphischen Roman veröffentlicht.“ Deutschlandradio, »Büchermarkt«, Sendung vom 9. August 1998. Zit. nach: http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-lit-buch/984.html
[7] Carl Zuckmayers Als wär’s ein Stück von mir ist als Beispiel für eine explizit autobiographische Literatur zu nennen, die unter anderem ebenfalls die Zeit von 1933 bis 1945 behandelt.
[8] Sebald (2002), 17.
[9] Heinrich Böll etwa schlug 1977 „in einem wichtigen Interview mit Hermann Lenz, Born und Manthey … vor, zwar von einem ‚Nullpunkt‘ zu sprechen, ‚nur nicht so präzis datiert, wie die Geschichte datiert‘, stattdessen lieber 1933, das Datum der ‚Machtübernahme‘ oder ‚1943, Stalingrad [...], wo man also wirklich endgültig wußte, die Sache ist verloren, Gott sei Dank verloren‘ (Literaturmagazin 7, 1977, S. 32, S. 53).“ Wehdeking, Blamberger (1990), 201.
[10] Otto Best, Gegenwartsliteratur in der BRD, Österreich, Schweiz, und in der DDR (von 1945 bis zu den 90er Jahren), in: Bahr (1998), 439.
[11] „Nichts hat das Bewußtsein, mit dem Schicksal der Nationalisten auf Gedeih und Verderb verbunden zu sein, so sehr gefördert wie die sich allmählich entwickelnde Komplizenschaft zwischen der nationalsozialistischen Führung und weiten Teilen der Bevölkerung. So wie der Rassismus und die alltägliche Praxis des Verbrechens im »Dritten Reich« für die angelsächsischen Mächte und ihre Verbündeten seit Casablanca keine Alternative mehr zur bedingungslosen Kapitulation beließen, so konnte auch die deutsche Bevölkerung auf anderem Wege keine Befreiung aus der Verstrickung mehr erhoffen.“ Herbst (1997), 453. (Hervorhebung von mir, M.A.)
[12] Herbst (1997), 452.
[13] Sebald (2002), 17.
[14] „Die finsteren Aspekte des von der weitaus überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlussaktes der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte.“ Sebald (2002), 17f.
Exkurs: Erstaunlich ist dieses Faktum der öffentlich nicht stattfindenden Erinnerung an das eigene Schicksal darum deshalb, weil die Erfassung der Realität der Nachkriegszeit und ihrer sozialen Herausforderungen, insofern sie unter den Begriffen re-education oder democratization geschieht, eine Selbsterfahrung der Deutschen ausblendet, die sie buchstäblich am eigenen Leib gemacht haben: Überlebende einer tödlichen Auseinandersetzung zu sein, in der der Kampf gegen den eigenen Staat zu einem Kampf gegen den einzelnen Bürger und seine Person selbst geworden war. Diese nicht kommunizierte Selbsterfahrung scheint insofern zur Systematik des gesamten Projektes »Erinnerung an das Dritte Reich« zu gehören, als das Täterbewußtsein die Basisüberzeugung für die moralische Selbstverpflichtung abgibt, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg gegen seine Nachbarn ausgehen dürfe. In bezug auf diese Selbstverpflichtung stellt die Erfahrung, selbst Opfer von kriegerischer Gewalt der Nachbarn gewesen zu sein, einen intervenierenden Faktor dar. Im Rahmen der jener Selbstverpflichtung zugrundeliegenden dualen Logik von »Urheber des Krieges« und »Notwehr der Angegriffenen« kann dieser intervenierende Faktor allerdings nur dann eliminiert werden, wenn nicht unterschieden wird, daß es sich bei der Frage nach der Selbsterfahrung als Täter und der Selbsterfahrung als Opfer um zwei verschiedene Diskurse handelt. Auch wenn man mit Ludolf Herbst eine kausale Verknüpfung zwischen beiden Erfahrungen sieht, kommt schon die geschichtswissenschaftliche Analyse nicht umhin, jeweils nach den Agierenden und den Betroffenen der Handlung zu fragen. In beiden Fällen von Erfahrung ist nämlich auch ethisch zu prüfen, ob das Gebot der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde oder nicht. Daß die Alliierten sich im Februar 1943 auf das Kriegsziel einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands verständigten, „um die inneren Verhältnisse in diesen Staaten [sc. Deutschland, Italien, Japan] ungehindert neu gestalten zu können“ (Herbst [1997], 438), kann im Zusammenhang mit den Erfahrungen des Zusammenbruchs der Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg als strategisch klug gelten. Abstrakt-militärisch mag der strategische Bombenkrieg Englands und der USA als „die einzige Art der direkten Kriegführung gegen das … Reich“ (Herbst [1997], 436) plausibel gewesen sein – ob er angesichts der verheerenden Wirkung auch zwingend geboten war, ist jedoch eine ganz andere Frage. Auf sie hätte das Opferbewußtsein der betroffenen Deutschen durchaus rekurrieren können, ohne deswegen der Anklage wegen der verheerenden Auswirkung eigener rassistischer Politik auszuweichen, weil sich die Frage nach der moralischen Verantwortung immer nur vor konkreten Handlungen stellt.
Das moralische Problem des strategischen Bombardements wäre übrigens auch in den Anfängen der diesbezüglichen Planungen im Sommer 1940 keine rein akademische Frage gewesen. Churchill teilte zu dieser Zeit seinem Rüstungsminister Beaverbrook mit, er sehe nur ein Mittel gegen Hitler, „…und das ist ein absolut verwüstender Ausrottungsangriff (›exterminating attack‹) durch sehr schwere Bomber von diesem Land hier gegen die Nazi-Heimat.“ (Zit. nach: Brand [2003], 77.) Churchill hatte demnach einen Begriff davon, was er seinem Feind zufügen konnte, wenn ihm, Churchill, der Aufbau einer Bomberflotte gelingen sollte.
[15] Ricœur (2002), 138. Für Ricœur spielt dieser Begriff im Rahmen eines psychoanalytisch orientierten Zuganges zum Verhältnis Gedächtnis/Geschichte und Vergessen eine Rolle. Die verweigerte „Erinnerungsarbeit“ ist ihm ein Symptom für das „kranke Gedächtnis“ (ebd.)
[16] Assmann (2002), 31.
[17] Assmann (2002), 16.
[18] Die Auseinandersetzung geschieht mit den Werken Halbwachs Les cadres sociaux de la mémoire (1925), La topographie légendaire des évangiles en terre saint. Étude de mémoire collective (1941) und La mémoire collective (postum 1950). Assmann merkt in seinen Ausführungen 1986 an, daß „eine gewisse Ironie des Schicksals darin [besteht], daß der Theoretiker des sozialen Gedächtnisses nahezu vollständig vergessen worden ist“. Das Schicksal Halbwachs war es, am 16.3.1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet zu werden.
[19] Assmann (2002), 32.
[20] Assmann (2002), 36f.
[21] Assmann (2002), 37.
[22] Assmann (2002), 38.
[23] Assmann (2002), 38-42.
[24] Ricœur (2002), 118.
[25] Assmann (2002), 51. Assmann verweist an dieser Stelle auf die Ansprache des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, in der von Weizsäcker selbst diese Schwelle benennt: „Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle. … So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.“ (URL:http://www.bundestag. de/info/parlhist/dok26.html.) Wie sehr die Schwelle von 40 Jahren auch für literate Gesellschaften und ihr kommunikatives Gedächtnis relevant ist, zeigt nicht zuletzt die in den letzten Jahren angestiegene Zahl der Publikationen erinnernder Literatur der Überlebenden des Holocaust sowie das dokumentarische Interesse an Ton- und Filmaufnahmen entweder aus jener Zeit oder von gesprochenen Zeugnissen derer, die selbst erlebt haben, wovon sie berichten.
[26] Assmann (2002), 50.
[27] Assmann (2002), 52. „Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit. … Vergangenheit gerinnt … zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet.“ (ebd.)
[28] Assmann (2002), 51f.
[29] Assmann (2002), 53.
[30] Assmann (2002), 57.
[31] Ricoœur (2002), 133. Hervorhebung von P. Ricœur. Ricœur spricht von diesem Erinnerungsmaterial im Zusammenhang mit dem, was er das „tiefe Vergessen“ nennt. (ebd.)
[32] Assmann (2002), 75.
[33] Assmann (2002), 75.
[34] Assmann (2002), 76. Hervorhebungen von J. Assmann.
[35] Assmann (2002), 78.
[36] Assmann (2002), 79.
[37] Assmann (2002), 215-222.
[38] Assmann (2002), 79f. Hervorhebungen von J. Assmann.
[39] Donner (1984), 90f. „Auf die Frage, wie lange die Nomaden im ‚im ägyptischen Sklavenhause‘ verblieben, gibt es keine sichere Antwort. So gewiß Ramses II. der ‚Pharao der Bedrückung‘ ist, so ungewiß ist der ‚Pharao des Auszuges‘. In Betracht kommen Ramses II. selbst, der 66 Jahre lang regierte, sein Sohn und Nachfolger Merenptah (1224-1204) oder erst Sethos II. (1200-1194). Sehr viel weiter wird man kaum heruntergehen dürfen.“ Donner (1984), 91. Die in Ex 1,8-14 genannten Ereignisse beziehen sich also maximal auf die Jahre 1290-1194 v. Chr.
[40] Rad (1968), 114.
[41] Braulik (1992), 192.
[42] Assmann (2002), 48.
[43] Assmann (2002), 48. Assmann zitiert Vansinas Oral Tradition as History (1985).
[44] Assmann (2002), 49.
[45] Assmann (2002), 50.
[46] Vgl. Gen 12,1; 13,15; 17,8 (Abraham); 24,7 (Isaak); 28,4 (Jakob).
[47] Das hebräische karat berit bedeutet ganz wörtlich: einen Bund schneiden. Der Ausdruck erinnert an das archaische Vertragsritual, in dem beide Vertragspartner gemeinsam ein Tierfell zerschneiden und die beiden Hälften als Urkunden austauschen. Jede Hälfte steht für die jeweils dem anderen Partner entstandene Verpflichtung. Die Erfüllung des Vertrages ist dann im Wiederzusammenfügen der beiden Teile versinnbildlicht (»sein Teil beitragen«).
[48] Dies war vom Jahr 70 n. Chr. (Eroberung Jerusalems und Zerstörung des Tempels durch Titus als Reaktion auf den Zelotenaufstand in Palästina) bis zum 15.5.1948 (Ende des britischen Palästina-Mandates und Ausrufung des Staates Israel durch den Jüdischen Nationalrat) der Fall, also 1878 Jahre lang. Die Problematik dieser zweiten »Landnahme« ist offenkundig. Insofern der Exodus-»Mythos« nämlich eine „Abgrenzung gegen die eigene Kultur“ war, die „zu einer Dissoziation von Religion, Kultur und politischer Herrschaft“ führte (Assmann [2002], 205), kann man sich fragen, ob die politische und militärische Okkupation Palästinas heute tatsächlich jene theonome Axiomatik für sich reklamieren darf, die von den religiösen Parteien im Staat behauptet wird.
[49] Für Gerhard von Rad ist der Schluß naheliegend, „daß sich in diesen heilsgeschichtlichen Summarien die ältere und ursprünglichere Form eines Geschichtsbildes erhalten hat, das uns in einer viel weiter ausgestalteten Form in den Pentateuchquellen vorliegt.“ (Rad [1968], 113.)
[50] Assmann (2002), 212.
[51] Assmann (2002), 213.
[52] Assmann (2002), 80.
[53] Assmann (2002), 214.
[54] Assmann (2002), 32.
[55] Auerbach (2001), Die Narbe des Odysseus, 5-27, 22.
[56] Assmann (2002), 36.
[57] Weinrich (1997), 202.
[58] Weinrich (1997), 205
[59] Weinrich (1997), 205. „Zu beiden Seiten des Rheins schrumpften die kollektiven Gedächtnisse der Menschen wie ein Balzacsche Chagrinleder zu den kümmerlichen Dimensionen nationalistischer Rituale zusammen.“ (ebd., 205f.)
[60] Weinrich (1997), 206.
[61] Anhand eines weiteren Dramas – »Le Voyageur sans bagage« von Jean Anouilh – und Jean-Paul Sartres »L’Etre et le Néant« wiederholt er lediglich die Beobachtung, „daß bei all diesen Autoren ein funktionierendes Gedächtnis als Antrieb und Maßstab des Handelns ausgeschaltet, zumindest aber eingeklammert wird.“ (Weinrich [1997], 210.)
[62] Ricœur (2002), 124. Ricœur spricht hier im Zusammenhang mit den Geschichtswissenschaften von dem auf ihrem Feld geführten Erinnerungsdiskurs.
- Citation du texte
- Martin Andiel (Auteur), 2003, Geschichte erinnern, Geschichten erzählen: Vergegenwärtigung und Reflexion in Hermann Lenz' "Neue Zeit" und Martin Walsers "Ein springender Brunnen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24761
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